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Die Wiederbelegung deutscher Großmachtpolitik nach der Wiedervereinigung

Seit der Wiedervereinigung 1990 und der wiedergewonnenen außenpolitischen Souveränität ist merklich das Bestreben deutscher Außenpolitik zu erkennen, in der internationalen Politik wieder "mitzumischen". Außer dem diplomatischen Bemühen um einen Sitz im UN-Sicherheitsrat, werden in einem sukzessiven und beharrlichen Prozess rechtliche und sicherheitspolitische Vorkehrungen getroffen, die der Bundeswehr den Weg von einer Verteidigungsarmee hin zur einer Interventionsarmee ebnen sollen. Die seit Kriegsende Deutschland auferlegten Handlungsbeschränkungen werden dabei zielgerichtet beseitigt; die Bevölkerung argumentativ und mental auf wieder mögliche militärische Einsätze, auch außerhalb des NATO-Geltungsgebietes, vorbereitet. Von den anfänglichen mehr "humanitären" und "logistischen" Aufgaben deutscher Truppen im Rahmen von UN-Einsätzen (1991: in Irak, 1991/93: Kambodscha, 1992: Somalia; 1994: Ruanda; 1994: Georgien; 1999: Ost-Timor) werden im Laufe des letzten Jahrzehnts deutsche Streitkräfte immer häufiger auch zu militärischen Zwecken herangezogen. So seit 1992 im Jugoslawienkrieg, in dem deutsche Truppen Überwachungsfunktion des Luftraumes übernehmen und später ein Kontingent innerhalb der IFOR, SFOR, KFOR und letztlich in Mazedonien stellen. Am völkerrechtswidrigen NATO-Krieg gegen Kosovo/Jugoslawien, sind deutsche Truppen erstmals außerhalb des NATO-Geltungsgebiets militärisch aktiv beteiligt.

Das deutsche Grundgesetz kennt militärische Auseinandersetzungen nur im Verteidigungsfall. Bewaffnete Auslandseinsätze der Bundeswehr außerhalb des NATO-Geltungsbereiches (out of area) sind deshalb höchst umstritten, aber auch die Frage, wer über den Einsatz die Entscheidungsbefugnis hat. Das Bundesverfassungsgerichtsurteil vom Juli 1994 stellt in dieser Frage fest, dass Out-of-Area-Einsätze deutscher Streitkräfte zwar "verfassungskonform" seien, jedoch diese "grundsätzlich der vorherigen konstitutiven Zustimmung des Deutschen Bundestages" bedürfen. Die BÜNDNIS90/Die Grünen, damals in der Opposition, haben durch dieses Urteil zwei mögliche Varianten zukünftiger deutscher Außenpolitik gesehen: "Selbstbeschränkung oder Großmachtpolitik".

Der Parlamentsvorbehalt hat jedoch - wie zu erwarten war - die seit 1992 in der Außen- und Sicherheitspolitik eingeschlagene Strategie und ihre Realisierung nicht verhindert, lediglich ein wenig hinausgezögert.
In allen out-of-area-bezüglichen Parlamentsentscheidungen haben sich - gleich welche Regierungskoalition das Sagen hatte - die Abgeordneten stets mit großer Mehrheit für ein Engagement der Bundeswehr auch ausserhalb des NATO-Gebiets entschieden. Die Ausnahme bildet die PDS. Um eine weitere Aushöhlung der Entscheidungsbefugnisse parlamentarischer Gremien nicht zuzulassen, hat sie eine Verfassungsklage gegen die Zustimmung der Bundesregierung zu den Beschlüssen der Staats- und Regierungschefs zum Neuen strategischen Konzept der NATO eingereicht. Dieses neue Konzept, beschlossen auf der NATO-Gipfelkonferenz im April 1999, sieht weitreichende Veränderungen des ursprüngliches NATO-Vertrages vor. Statt der Verteidigung der territorialen Grenzen der Mitgliedsländer rücken zukünftig diffuse "Sicherheitsinteressen", und zwar weltweit, ins Aktionsfeld der NATO, die im Zweifelsfall auch ohne UN-Mandat "gesichert" werden dürfen. Sicherheitspolitische Risiken, die militärische Einsätze rechtfertigen, sind "Terror", "Sabotage", "organisiertes Verbrechen", "Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Ressourchen" (gemeint sind Öl- und Gaspiplines), etc. Darüber hinaus wird die Option eines automaren Erstschlags eingeräumt.



Deutsche Außenpolitik nach dem 11. September 2001

Der 11. September 2001 wird zum Anlass der rot-grünen Regierungskoalition, die Rolle Deutschlands in der Internationalen Politik im Bewußtsein der wiedergewonnenen nationalen Souveränität neu zu "positionieren".

Bereits am Nachmittag des 11.09. spricht Bundeskanzler Gerhard Schröder von "Kriegserklärung gegen die gesamte zivilisierte Welt" und sichert Bush die "uneingeschränkte Solidarität" zu. Wörtlich sagt er:

    "Wir alle - alle Deutschen - sind voller Entsetzen über die terroristischen Anschläge in den Vereinigten Staaten. Dies ist eine Kriegserklärung gegen die gesamte zivilisierte Welt. Wer diesen Terroristen hilft oder sie schützt, verstößt gegen alle fundamentalen Werte, die das Zusammenleben der Völker, auch untereinander, begründen.
    Das deutsche Volk steht in dieser Stunde, die so schwer ist für die Menschen in den Vereinigten Staaten, fest an der Seite der Vereinigten Staaten von Amerika. Ich habe dem amerikanischen Präsidenten George W. Bush die uneingeschränkte Solidarität Deutschlands zugesichert."
  • Erste Stellungnahme
George Bush am gleichen Abend spicht vom "Krieg gegen den Terrorismus vereint mit den Verbündeten". Wortlaut:
    Erstmals spricht er "Krieg gegen den Terrorismus" vereint mit den Verbündeten. "Die Vereinigten Staaten und ihre Freunde und Bündnispartner stehen gemeinsam mit allen, die Frieden und Sicherheit auf der Welt wollen, und wir stehen zusammen, um den Krieg gegen den Terrorismus zu gewinnen." ..."Zwischen den Terroristen, die diese Akte begangen haben, und denjenigen, die ihnen Zuflucht gewähren" wird hinsichtlich der Bestrafung nicht unterschieden."
  • Stellungnahme George Bush am 11.09.2001

Mit diesen Aussagen stehen am Abend des 11. September Bewertungs- und Handlungsrahmen bereits fest. Die Medien berichten durchgehend in einem nie dagewesenen Maße über die Ereignisse. Die Bilder, die fortwährend wiederholt werden, bilden den Auftakt jeder Sendung. Die emotionale und psychologische Handlungsbereitschaft der Zuschauer ist innerhalb kurzer Zeit auf Vergeltung positioniert. In dieser emotional völlig überreizten Atmosphäre werden zwei wesentliche Entscheidungsrichtungen getroffen: Anti-Terror-Gesetze nach innen; Krieg nach außen.

Die völkerrechtlichen Rahmenbedingungen sind schnell zusammengeschustert:

  • 12.09.2001 Resolution 1368 des UN-Sicherheitsrates sieht das Recht zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung im Einklang mit der UN-Charta vor.
  • 14.09.2001 NATO-Rat stellt offiziell den "Verteidiungsfall" fest. .
  • 19.09.2001 Bundestag erkennt den Verteidigungsfall an.
  • 28.09.2001 Resolution 1373 des UN-Sicherheitsrates (Anti-Terror-Resolution)
  • 02.10.2001 NATO-Rat ruft erstmals seit seinem Bestehen den "Bündnisfall" aus
  • 07.10.2001 Luftangriffe der Amerikaner und Briten auf Afghanistan beginnen.

    Militärische Ziele

    Militärische Ziele sind "terroristische Ausbildungslager der Al-Quaida und militärische Einrichtungen des Taliban-Regimes in Afghanistan". Kurze Zeit später wird aber von der Beseitigung des Taliban-Regimes insgesamt gesprochen. Eine Ausweitung des Krieges ist infolge der allgmeinen Zielsetzung "Kampf gegen den internationalen Terrorismus" absehbar und geht mit der Neuen Strategie der NATO konform.
    Wörtlich in der Ansprache von Bush am 7.10.2001 heißt es:
      "Heute (! - A.d.R.) konzentrieren wir uns auf Afghanistan, aber der Kampf ist umfassender. Jedes Land muss eine Entscheidung treffen. In diesem Konflikt gibt es keinen neutralen Boden. Wenn Mitglieder einer Regierung die Verbrecher und Mörder unschuldiger Menschen unterstützen, sind sie selbst zu Verbrechern und Mördern geworden."
    • Ansprache des US-Präsidenten Bush im Fernsehen


Bundesregierung will als vollwertiger Partner dabei sein -
Vorbereitung auf den Bündnisfall

Der Bundestag erkennt den vom NATO-Rat am 12.09. festgestellten Verteidigungsfall an (Punkt 6). Er stimmt der "uneingeschränkten Solidarität mit dem Vereinigten Staaten" zu, indem er auch die "Bereitstellung geeigneter militärischer Fähigkeiten" untersützt (Punkt 7). Wortlaut:

    "6. Der Deutsche Bundestag stimmt der Erklärung des Nordatlantikrates vom 12. September 2001 zu, in der festgestellt wird, dass der terroristische Angriff vom 11. September 2001 gegen die Vereinigten Staaten als Handlung im Sinne des Artikels 5 des Washingtoner Vertrages zu gelten hat, wenn sich herausstellt, dass dieser Angriff vom Ausland aus gegen die Vereinigten Staaten verübt wurde. ..."
    7. Der Deutsche Bundestag unterstützt die Bereitschaft der Bundesregierung, den Bekundungen der uneingeschränkten Solidarität mit den Vereinigten Staaten konkrete Maßnahmen des Beistandes folgen zu lassen. Dazu zählen politische und wirtschaftliche Unterstützung sowie die Bereitstellung geeigneter Fähigkeiten zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus. ..."
Von 611 anwesenden Abgewordenten stimmen 565 mit "Ja", 40 mit "Nein" (davon 1 SPD-, 4 Grüne-, 35 PDS-Stimmen, ) und 6 Enthaltungen

Nachdem über zwei Drittel (!) der Abgeordneten der "uneingeschränkten Solidarität" zugestimmt haben, deutet die Regierung an, welche Ziele sie verfolgt. In der deutschen Außenpolitik geht es nach dem 11.10.2001 um die "Positionierung Deutschlands in der Zukunft" in der internationalen Politik.

Die Überrumpelungstaktik Schröders geht auf. Mit seiner vorschnell verkündeteten und in keiner Weise problematisierten "uneingeschränkten Solidarität" gelingt es ihm und der Regierung, die Abgeordneten auf diese Prämisse einzuschwören. Der Logik dieser deduktiven Argumentation folgend, ist die Zustimmung weiterer Entscheidungen so gut wie sicher.

  • 06.11. US-Verteidigungsminister fordert von der Bundesregierung militärische Hilfe an. (Wortlaut)
  • 07.11. Bundesregierung beschließt den Antrag auf Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte in Einsatzgebiete: arabische Halbinsel, Mittel- und Zentralasien und Nord-Ost-Afrika sowie die angrenzenden Seegebiete. (.pdf)
  • 07.11. Stellungnahme von Gerhard Schröder vor der Presse Wortlaut
  • Analyse des Antrags von Tobias Pflüger (IMI e.V.)

    Mit diesem Antrag werden alle weiteren Beschlüsse über die Ausführung militärischer Einsätze der Bundesregierung für ein Jahr übertragen, was einer zeitweiligen Selbstentmachtung des Bundestages und einer Blankovollmacht für den Bundeskanzler in dieser Frage gleichkommt.

    [ Es sei daran erinnert, das in einem Verteidigungsfall auch die "Notstandsgesetze" in Kraft gesetzt werden können und damit der Exekutive nahezu unumschränkte Vollmachten übertragen werden.]

    Nachdem sich bei einigen SPD- und Grünen-Abgeordneten Kritik gegen den Antrag formiert und eine eigene Regierungsmehrheit nicht mehr gewährleistet scheint, greift Gerhard Schröder zu einem zwar verfassungskonformen, aber machtstrategischen Trick und stellt die Vertrauensfrage. Dabei verknüpft er die Sachfrage des Kriegsermächtigungsantrages mit der persönlichen Vertrauensfrage. Wer "nein" sagt zum Antrag, verweigert zugleich dem Kanzler sein Vertrauen und kündigt damit die Koalition auf. Die eigentliche Frage, nämlich die der deutschen Beteiligung an Kriegseinsätzen ausserhalb der NATO durch die Bundeswehr, wird zur zweitrangigen Größe.

    Die Grünen stehen vor einer existenziellen Zerreißprobe, einerseits als Regierungspartei die Rot-Grüne-Regierungskoalition unbedingt weiterhin aufrecht erhalten zu wollen, andererseits als ehemalige friedensengagierte Oppositionspartei ihre Glaubwürdigkeit zu wahren. Auch sie greifen schließlich zu einem machtpolitischen Manöver, indem sie sowohl die Kanzlermehrheit garantieren als auch die Kritiker zu Wort kommen lassen und diese zahlenmäßig auf vier Abgeordnete begrenzen.

Unter massivem Druck der SPD-Führung auf die Abgeordneten (das Recht auf Gewissensfreiheit des Abgeordneten wird abgesprochen; bei Nichtzustimmung des Antrags wird die Rückgabe des Mandats gefordert, etc.) kommt es schließlich am 16. November 2001 zur Abstimmung im Bundestag. Von 666 Abgeordneten stimmen 336 dem militärpolitischen und parlamentseinschränkenden "Vorratsbeschluss" zu. (Regierung: SPD - 294; BÜNDNIS90/Die Grünen - 47; insgesamt = 341)
- Und abends tanzt der Kongress (Bundespresseball).
26.11.2001 starten die ersten drei Transall-Maschinen vom US-Fliegerhorst Ramstein, um Ausrüstung der amerikanischen Streitkräfte zum NATO-Stützpunkt Incirlik in der Osttürkei zu bringen.

Da dieser Beschluss sowohl von seiner außenpolitischer Konsequenz als auch von der Verfahrensweise her historische Tragweite hat, dokumentieren wir die Debatte ausführlich.

Im Eilverfahren, kurz vor Weihnachten (die Abgeordneten sind merklich in Ferienstimmung und warten das Ergebnis nicht einmal mehr ab), beschließt der Deutsche Bundestag am 22.12.2001 in namentlicher Abstimmung die Beiteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte am "Einsatz einer Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan". (Abstimmergebnis: 581 Abgeordnete, davon 538 Ja, 35 Nein, 8 Enth.) Damit befinden sich deutsche Soldaten zum ersten Mal nach 1945 im Kriegseinsatz.

Auch wenn die offizielle Verlautbarung beschwichtigend nur von "Beteiligung deutscher Soldaten an der internationalen Schutztruppe in Kabul (ISAF)" spricht, kann darüber nicht hinweggetäuscht werden, daß sich auch deutsche KSK-Soldaten an der US-Offensive (unter US-Kommando stehend) beteiligen und direkt im Kriegseinsatz befinden. Anfang März 2002 sind 858 deutsche Soldaten am Afghanistan-Einsatz beteiligt, darunter 126 KSK-Soldaten. Zu diesem Zeitpunkt wird deutlich, dass sich die US-Offensive zusehends zu einem Boden- und Guerillakrieg auszuweiten droht. Am 6.3.2002 werden die absehbaren Folgen dieser Großmachtpolitik und des Einsatzes Realität: Erstmals werden zwei deutsche Soldaten Opfer dieses Krieges. Ein "Stück soldatischer Normalität" meint Bernhard Gertz, der Chef des Deutschen Bundeswehr-Verbandes, gegenüber der "Leipziger Volkszeitung".




 




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