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2001-10-11

Regierungserklärung zum Thema „Terrorismus in Afghanistan

Rudolf Scharping, Bundesminister der Verteidigung:

Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Seitens der Bundesregierung haben wir hier immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass im Rahmen einer umfassenden Antwort auf die Herausforderung des Terrorismus militärische Maßnahmen notwendiger und unerlässlicher Bestandteil sein würden. Seit Sonntag ist das so. Umso mehr fragen sich die Menschen in Deutschland: Mit welcher Art von Bedrohung haben wir es zu tun? Wie können wir uns wirksam und gemeinsam dagegen schützen?

In diesem Zusammenhang taucht immer wieder das Wort "Krieg" auf. Wir sind nicht im Krieg; jedenfalls dann nicht, wenn uns mit diesem Wort immer noch die alten Assoziationen und Vorstellungen vom Krieg zwischen Staaten mit dem Ziel, ein Territorium zu erobern und zu beherrschen, verbinden. Die Bedrohung richtet sich nicht gegen ein Territorium. Sie zielt nicht auf die Beherrschung. Sie zielt auf etwas ganz anderes. Sie zielt auf die innere Stabilität, auf den inneren Frieden und auf den inneren Zusammenhalt der demokratischen Gesellschaft. Man spürt übrigens, dass die Verwendung des Wortes "Krieg" in der bloßen, nackten Übersetzung des Wortes "war" zwischen uns und unseren amerikanischen Freunden aufgrund anderer historischer Erfahrungen schon zu Missverständnissen führen kann. Deshalb diese Bemerkungen.

Im Übrigen wird deutlich, dass die klassische Trennung zwischen äußerer und innerer Sicherheit angesichts dieser Bedrohungen, angesichts dieser Herausforderungen nicht mehr völlig tauglich ist.

(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Das sagt Frau Merkel auch!)

Daraus den Schluss zu ziehen, dass über die notwendige Kooperation aller, die für innere und äußere Sicherheit verantwortlich sind, in der Vergangenheit praktizierte, für die Zukunft zu gewährleistende Zusammenarbeit hinaus eine Änderung der Verfassung oder der Gesetze erforderlich ist, ist schlicht falsch.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Denn - ohne alle Einzelheiten aufzublättern -: Wir haben in der Vergangenheit genügend Erfahrungen damit gesammelt, dass die Bundeswehr im Innern in der Lage ist, den für die innere Sicherheit unseres Landes verantwortlichen Institutionen dann zu helfen, wenn diese Hilfe erforderlich wird. Wir sollten eine Grenze nicht überschreiten, gar nicht den Eindruck entstehen lassen, wir wollten sie überschreiten, dass nämlich niemand anders als die für die innere Sicherheit unseres Landes verantwortlichen Institutionen darüber entscheiden, ob sie der Hilfe bedürfen oder nicht, ob sie sie anfordern oder nicht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Auf diese Grenze sollten wir unverändert, so wie der Bundeskanzler das in seiner Regierungserklärung gesagt hat, Wert legen.

In diesen Zusammenhang gehört auch ein anderer, wie ich finde, "falscher" Widerspruch,

(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Gibt es nicht!)

nämlich der irreführende Widerspruch, ein Element der Antwort für die gesamte Antwort zu halten, so wie Herr Claus das eben wieder getan hat. Umfassend lässt sich Sicherheit nur gewährleisten, wenn die wirtschaftlichen, die ökologischen, die kulturellen, die sozialen, die humanitären Dimensionen der Sicherheit mit betrachtet werden. Das wird mit Blick auf diese Region überdeutlich. Wir wissen doch alle, dass zum Beispiel die weltwirtschaftliche Stabilität und die weltwirtschaftliche Sicherheit von dieser Region sehr stark beeinflusst werden können, von jener Region, in der 70 Prozent der Erdölreserven des Globus und 40 Prozent der Erdgasreserven des Globus liegen.

(Zuruf von der PDS: Jetzt sind wir beim Thema!)

Wir wissen, dass in dieser Region nicht nur beachtliche natürliche Ressourcen sind, sondern, wie mir das ein indischer Gesprächspartner sagte, ein unverändert risikoreicher, wahrscheinlich der gefährlichste Mix von Risiken, den man auf der ganzen Erde finden kann: Fanatismus, Hass, der Besitz von Massenvernichtungswaffen, der Versuch, solche zu erwerben, und zwar jeder Art von Massenvernichtungswaffen, bis hin zu dem Versuch, sie entweder terroristisch oder als Bedrohung der Integrität von Staaten und ihrer Territorien einzusetzen. Wir wissen - der Bundesaußenminister hat darauf hingewiesen -, dass der Nahostkonflikt, gelingt seine Lösung nicht, zur Antriebskraft dafür werden könnte, dass die in den arabischen Gesellschaften relativ isolierten terroristischen Gruppierungen genau jenen Katalysator, jenes Ferment gewinnen könnten, aus dem dann mehr entstehen wird als eine terroristische Bedrohung. Es darf also - das will ich mit diesen Bemerkungen deutlich machen - keine Dominanz des Militärischen in einer politischen Strategie geben. Es darf aber auch keine Vernachlässigung des Militärischen in einer politischen Strategie geben.

Wir werden uns also der Frage zuwenden müssen, dass die Erneuerung der Bundeswehr von Grund auf nicht nur reflektiert, was im strategischen Konzept der NATO über politischen Terror und seine Herausforderungen steht, was wir uns gemeinsam an Fähigkeiten vorgenommen haben. Man wird angesichts dessen, was man verallgemeinernd "Kontinuum an Fähigkeiten" nennt, von der Landes- und Bündnisverteidigung über die Krisenprävention und Krisenreaktion bis hin zur Bekämpfung terroristischer Bedrohungen, auch überlegen müssen, diese Fähigkeiten schneller und zum Teil sogar neu zu erwerben. Dem dient das Paket der Bundesregierung zur Verbesserung der inneren und äußeren Sicherheit. Ich füge hinzu: Man wird diese Fähigkeiten in angemessener Zeit und vollständig nur erwerben können, wenn über dieses Paket hinaus alle Schritte im Zusammenhang mit der vereinbarten Erneuerung der Bundes wehr gegangen werden. Die Soldaten leisten für die Sicherheit unseres Landes das Beste. Sie haben auch das Beste verdient.

(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Einen besseren Minister vor allen Dingen!)

- Ich habe mir schon gedacht, dass Sie nie ganz frei sind von dem, was Sie jetzt wieder dokumentiert haben. Das ist mir im Moment aber ein bisschen zu klein.

(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Das ist die Wahrheit!)

Ich will Ihnen nur eins sagen: In diesem Zusammenhang sollten wir nicht gering schätzen, aber auch nicht überbewerten, was zwischen 1993 in Somalia und heute tatsächlich geschehen ist. Es wurden nämlich nicht nur schrittweise die praktischen Konsequenzen aus einer grundlegend veränderten sicherheitspolitischen Situation gezogen, sondern es wurde auch die Erkenntnis gewonnen - mit ihren praktischen Konsequenzen -, dass diese Veränderung der sicherheitspolitischen Lage in Europa die Welt nicht unbedingt sicherer gemacht hat. Wir dürfen nicht nur die Vorteile beanspruchen, sondern müssen für die dauerhafte Gewährleistung der Sicherheit auch die notwendige Verantwortung übernehmen. Wir dürfen nicht nur die Rechte beanspruchen, sondern müssen auch die Verpflichtungen akzeptieren, die sich daraus ergeben. Kosovo, Mazedonien und anderes sind die Stichworte dafür.

Damit bin ich bei meinem letzten Hinweis. Wir machen die Erfahrung, dass das alte Muster des zwischenstaatlichen Krieges immer weiter in den Hintergrund tritt, jedenfalls im euroatlantischen Raum und hoffentlich zunehmend auch auf der gesamten gemeinsamen Erde. Wenn Terrorismus - wie jener glasklar bewiesene von Osama Bin Laden und al-Qaida - von Staaten beheimatet, unterstützt und geduldet wird oder gar Staaten in den Händen von Terroristen sind, dann ist das Verwenden des Militärischen gegen den Terrorismus und gegen die Staaten, die Terroristen Unterstützung oder Hafen bieten, nicht etwa der klassische Krieg, sondern im Kern eigentlich eine Polizeiaktion mit den Mitteln des Militärischen.

(Beifall bei der SPD)

Vor diesem Hintergrund zeigt sich, warum im Rahmen der gemeinsamen Antwort auf die Herausforderung des internationalen Terrorismus die Bundesregierung uneingeschränkt unterstützt, was zurzeit von den USA und Großbritannien getan wird. Darüber hinaus hat die Bundesregierung in den Vereinten Nationen, in der NATO und im bilateralen Verkehr deutlich gemacht, dass sie sich weder duckt noch drängelt. Die fundamentale Veränderung bei der Entwicklung des Völkerrechts ist vermutlich noch gar nicht so gut erfasst, wie wir alle sie in Zukunft werden erfassen müssen; denn dass der Weltsicherheitsrat zum ersten Mal gesagt hat, internationaler Terrorismus sei eine Bedrohung des Weltfriedens und der weltweiten Stabilität, dass er die Staaten mit sehr konkreten Hinweisen aufgefordert hat, etwas zu tun, und dass er im Übrigen eine Frist gesetzt und diese Frist zu überwachen sich entschlossen hat, ist eine weit reichende Veränderung. Diese Veränderung bietet eine sehr starke Legitimation für das jetzt gewählte Vorgehen -das ist im Weltsicherheitsrat ausdrücklich so beschlossen worden. Mit den praktischen Konsequenzen dieser Veränderung müssen wir uns bei der Verbesserung der inneren wie der äußeren Sicherheit unseres Landes sehr konkret beschäftigen und müssen entsprechende Entscheidungen treffen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Quelle: Plenarprotokoll vom 11.10.2001




 




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