Start

Beiträge zur Theorie  










Steffen Naumann

Staubsauger der Bourgeoisie

Notizen zur zivilen Gesellschaft (Teil 1)

Die demonstrative Radikalität vieler Restlinker steht leider häufig in Gegensatz zu ihrer Bereitschaft, die gesellschaftlichen Verhältnisse zur Kenntnis zu nehmen.

So reicht der Horizont mitunter noch bis zu der Erkenntnis, daß das kapitalistisch-patriarchale Unterdrückungssystem abgeschafft gehört. Der Sachverhalt allerdings, daß diese Gesellschaft trotz ihrer offensichtlichen Krise stabil erscheint, führt zu ideologischen Purzelbäumen, mit denen sich mensch in keinem Zirkus der Welt verstecken müßte.

Diesen Purzelbäumen liegt ein Weltbild zugrunde, das, aus den Grundfarben Faulheit, Angst und Trotz gepinselt, in vielen linken Gruppen hochgehalten wird, um damit die theoretische Ignoranz und das autistische Verharren im Szenemief zu rechtfertigen. Die notwendige Untersuchung der Gründe der vermeintlichen Stabilität unterbleibt auf diese Weise ebenso wie das praktische Aufgreifen der gesellschaftlichen Widersprüche, an denen Unterdrückte organisiert das Machtgefüge bekämpfen könnten.

Mensch könnte beim Schritt ins Leben ja die revolutionäre Unschuld verlieren, und weil das nicht sein soll, wird düster dräuend die Kapuze tiefer in die Stirn gezogen. Die Szene wird zur Festung, Selbstisolation zur ersten BürgerInnenpflicht. Wie aber das begründen? Natürlich damit, indem das widerwärtige Bewußtsein, das in Teilen der hiesigen Bevölkerung vorhanden ist, dazu benutzt wird, kurzerhand alle Nicht-Szene-Menschen als faschistisch-'deutsches' TäterInnenkollektiv zu biologisieren. Der berühmte Trennungsstrich ist auf diese Weise klar gezogen: Die da draußen sind abgrundtief böse, aber wir, wir sind die Guten - dafür sorgt schon unsere Szene-Inquisition...

Widersprüche gibt es da nicht, darf es nicht geben, und Dialektik gilt als die Kunst, Menschen aus Schwäbisch-Prenzelberg zu verstehen.

Diese Pose nimmt zwar die Niederlage vorweg, hinterläßt aber das sicherlich erhebende Gefühl eines tragischen Heroismus, wenn nicht gar des Gutmenschentums. Es solle sich bitte nur keineR einbilden, jene Selbstinszenierung hätte etwas mit revolutionärer Politik zu tun.

Abbitte und Auftakt

Zwei Fragen drängen sich auf.

I) Kann diese beliebte und lehrreiche Zeitschrift etwas für diesen fiesen, ja geradezu FAZösen Angriff auf die wackere Schar, die sich in den Sielen der Revolution abplackt?

II) Hat so ein Schandtext etwas mit dem Thema zu tun?

Zu I) will bemerkt sein, daß der Autor sein geringes Wissen um LUZI-interne Arbeitsabläufe zielstrebig ausgenutzt hat, um den Text an allen Schwellen der Zensur vorbei zu lavieren. LUZI-Menschen sind eben nachlässig, aber nett. Deshalb bitte keine Abokündigungswellenorganisation anleiern, das hamse nich verdient. Und zu II): Aber hallo!

Eine theorielose und die Selbstbezogenheit zur Tugend erklärende Linke (kann sie in diesem Zustand eigentlich noch als solche bezeichnet werden?) wird nämlich nicht imstande sein, die Gesellschaft als den widersprüchlichen Prozeß zu erkennen, der sie nun mal ist, und eines der Felder, deren Beackerung deshalb unterbleibt, ist eben dasjenige der sogenannten Zivilgesellschaft.

Nun gibt es GralshüterInnen 'linker' Orthodoxie, die hinter einer Analyse der Funktionsweise moderner Zivilgesellschaften den Kotau vor dem Kapitalismus wittern. Geht mensch jener Kritik auf den Grund, zeigt sich jedoch häufig, daß dabei das Gebrabbel aus dem rosagrünen Sandkasten mit dem kritisch-marxistischen, von Antonio Gramsci begründeten Konzept der Zivilgesellschaft verwechselt wird.

Diese interessierten Fehldeutungen belegen die Wichtigkeit einer unmißverständlichen Definition zivilgesellschaftlicher Begriffe und Zusammenhänge. Eine wesentliche Schwierigkeit ist dabei schon in den Entstehungsbedingungen von Gramscis theoretischen Werk selbst angelegt.

So rückte für Gramsci die Sphäre der Zivilgesellschaft zu einer Zeit in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, als diese 'wieder von der politischen Gesellschaft geschluckt' wurde, sprich, die italienischen FaschistInnen 1922 an die Macht kamen. Für Gramsci als Exponenten des zunehmend in die Illegalität gedrängten PCI (Kommunistische Partei Italiens) bestand in dem Klima des permanenten Staatsterrors praktisch keine Gelegenheit mehr, seine Auffassungen konsistent und zusammenhängend darzulegen. Dies galt natürlich um so mehr unter den Bedingungen des faschistischen Kerkers, denen Gramsci nach seiner Verhaftung am 8.11.1926 ausgesetzt war. Hier entstand sein Hauptwerk: die berühmten 'Gefängnishefte'. Die Inhalte dieser Aufzeichnungen kreisen zwar sämtlich um das Gravitationszentrum der Selbstbefreiung der subalternen Klassen, erscheinen aber auch genau wegen dieser entschiedenen Parteinahme als ein verwirrend-faszinierendes Kaleidoskop fragmentarischer Gedanken und Reflexionen.

Soll heißen: Nur unter der Tarnkappe der stilistischen und inhaltlichen Vielfalt, die heute einen für mancheN beunruhigend weiten Interpretationsspielraum bietet, konnten Gramscis Schriften die Zensur des faschistischen Kerkers passieren - war es doch nach den Worten des verantwortlichen Staatsanwalts Ziel des Terrorurteils gegen Gramsci, 'für zwanzig Jahre zu verhindern, daß dieses Gehirn arbeitet'.

Konsens und Gewalt

Prägend für Gramsci wie für viele andere junge Intellektuelle, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur europäischen Linken stießen, war die abstoßende Erfahrung mit dem politischen Opportunismus der in Gewerkschaften und Parteien organisierten ArbeiterInnenbewegung.

Die theoretische Grundlage dieser opportunistischen Praxis war ein platter Geschichtsdeterminismus, der auf den Glaubenssatz hinauslief, daß sich der Sozialismus als mechanisches Resultat der kapitalistischen Produktivkraftentwicklung letzten Endes zwangsläufig ereignen werde. Max Weber brachte diese passive Haltung auf den Punkt, indem er die damalige Sozialdemokratie als Verein bezeichnete, der gebildet sei zur Herbeiführung einer ohnehin stattfindenden Mondfinsternis (nebenbei: Auch E. Honecker - war's 1989? - variierte dieses Lied noch um die Strophe 'Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf!').

Dieser Vulgärmarxismus, der das tätige und selbstverantwortliche Individuum aus dem Geschichtsprozeß ausschloß, war spätestens seit dem Beginn des von den europäischen ArbeiterInnenparteien mitgetragenen Ersten Weltkrieges so offensichtlich bankrott, daß eine Suche nach neuen Wegen zur Umwälzung des Kapitalismus nicht nur theoretisch, sondern 1917 auch praktisch einsetzte.

In diesem Kontext sind auch Gramscis Arbeiten zu sehen. Dabei weist Sabine Kebir darauf hin, daß nicht zuletzt die Feuerbachthesen von Marx (1) konstituierend für Gramscis Bemühungen waren, den bewußt handelnden Menschen als Geschichtssubjekt zurückzugewinnen. Die damit verbundene Akzentuierung der 'antiökonomischen Seite' des Marxismus ermöglichte ihm zudem, die Bedeutung und relative Autonomie ideologischer Überbauten zu erkennen.

Mit diesem methodischen Ansatz gelang ihm zugleich eine Erklärung, weshalb die revolutionären Bewegungen in Westeuropa da scheiterten, wo Lenins Bolschewiki in Rußland siegten.

§ 16. Stellungskrieg und frontaler oder Bewegungskrieg.

[...] Im Osten war der Staat alles, die Zivilgesellschaft steckte in den Anfängen und ihre Konturen waren fließend; im Westen herrschte zwischen Staat und Zivilgesellschaft ein ausgewogenes Verhältnis, und sobald der Staat erzitterte, entdeckte man sofort die kräftige Struktur der Zivilgesellschaft. Der Staat war nur ein vorgeschobener Schützengraben, hinter ihm befand sich eine robuste Kette von Befestigungen und Kasematten [...].

Gefängnisheft Nr. 7 (1930-32) (2)

Die verglichen mit Rußland entwickelteren kapitalistischen Gesellschaften Westeuropas konnten die revolutionäre Nachkriegskrise überstehen, weil sie nicht nur durch den Staat in seiner Funktion als Repressionsorgan gestützt waren, sondern weil sie eine vermeintlich außerstaatliche Sphäre entwickelt haben, deren Hauptfunktion es ist, den Konsens der Unterdrückten mit den Werten der herrschenden Klasse zu gewährleisten.

Diese Sphäre der Konsensstiftung ist für Gramsci nichts anderes als die Zivilgesellschaft, die er sorgfältig von der politischen Gesellschaft, also dem Staatsapparat mit seinen Verwaltungs- und Machtfunktionen, unterscheidet.

Die Organisierung dieses Konsenses ist eine ideologische, innerhalb der kulturellen Überbauten angesiedelte Aufgabe. Dabei ist zu beachten, daß sich der Inhalt der konsensstiftenden Ideologien ungeachtet der von Gramsci betonten relativen Autonomie der Überbauten an materiellen Interessen orientiert. Das bedeutet zum einen, daß der zu organisierende Konsens nicht unabhängig von den jeweils aktuellen Erfordernissen der Kapitalakkumulation ist, heißt aber auch, daß der Konsens für die Unterdrückten relative Vorteile zum Inhalt hat, also von reiner Manipulation keine Rede sein kann.

Hat die Bourgeoisie den Konsens eines großen Teiles der Bevölkerung, so ist sie nicht nur herrschend, sondern zugleich auch führend: Sie ist hegemoniale Klasse. Das Element des Zwangs und der direkten Repression, das ein untrennbarer Bestandteil jeder Klassenherrschaft ist, kann in diesem Fall relativ in den Hintergrund treten. Wohlgemerkt relativ, denn es werden immer Gruppen von Unterdrückten existieren, die entweder den Konsens aktiv verweigern oder die zum Zwecke der Herrschaftsstabilisierung aus der fragmentierten Gemeinschaft der Unterdrückten herausdefiniert werden.

Das Ergebnis ist eine im Normalfall stabile Gesellschaft, die zwar in Permanenz strukturell und ideologisch auf die Bedürfnisse der Herrschenden zugerichtet wird, trotzdem aber als Raum einer diskursiven, pluralistischen, 'unterdrückungsarmen' Interessensaustragung erscheint.

Der integrale Staat

Wie ist es möglich, daß die auf der Erscheinungsebene staatsferne Zivilgesellschaft den herrschaftssichernden Konsens viel effektiver reproduziert, als dies ein reiner Machtstaat könnte?

Gramsci hat in diesem Zusammenhang den Begriff des integralen Staates eingeführt. Er versteht darunter einen Staat, der in seiner historischen Genese bestimmte Aufgaben und Funktionen gewissermaßen 'auslagert', wodurch sie als privat erscheinen. Dieser Staat ist in der Lage, als Macht- und Klassenstaat zu herrschen, zugleich jedoch auch den ideologischen Konsens zu organisieren, ohne daß dies in jedem Falle unmittelbar erkennbar wäre. Die spezifische Funktion dieser staatlich vermittelten Überbauphänomene kann dabei in dem Prinzip zusammengefaßt werden, daß 'das Besondere (das Klasseninteresse) nur als das Allgemeine erscheinen [kann], wenn es im Rahmen pluraler Vielfalt auftritt' (Karin Priester).

Einige Beispiele sollen das konkretisieren. Dabei müssen hier (hoffentlich) nur wenige Worte über den bürgerlichen Parlamentarismus verloren werden. Die angebliche Pluralität des Parlaments mit seinen vorgeschalteten Organisationsformen ist, wie wir nicht erst seit Johannes Agnoli wissen, eben kein Raum zur Kontrolle des Staates durch die Gesellschaft, sondern ein Mechanismus zur Aufrechterhaltung von Macht und zur teils integrativen, teils repressiven Stillegung von Konflikten. (3)

Ein Bereich der historisch entstandenen 'privaten' Konsensreproduktion, in dem der Staat hingegen relativ offensichtlich zivilgesellschaftliche Aufgaben übernimmt, ist derjenige von Schule und Ausbildung.

Konsenserhaltend (bisweilen auch -stiftend) wirkt der Staat ebenfalls im Bereich der medialen Massenkommunikation, für die er juristisch, personell und ökonomisch Rahmen setzt. Diese staatlich gesetzten Bedingungen gestatten es, die gesellschaftliche Kommunikation je nach spezifischer Situation und Interessenlage mehr oder weniger zu kanalisieren und zu bündeln.

§ 83. Enzyklopädische Begriffe. Die öffentliche Meinung.

Das, was man 'öffentliche Meinung' nennt, ist eng mit der politischen Hegemonie verbunden, und das ist der Berührungspunkt zwischen der 'Zivilgesellschaft' und der 'politischen Gesellschaft', zwischen Konsens und Gewalt. Wenn der Staat eine wenig populäre Aktion starten will, schafft er präventiv die passende öffentliche Meinung, d.h. er organisiert und zentralisiert bestimmte Elemente der Zivilgesellschaft. [...]

Gefängnisheft Nr. 7 (1930-32) (4)

Dies betrifft in erster Linie den öffentlich-kommunikativen Sektor, weil privat organisierte Medien, wenn schon nicht ohnehin dem Profit verpflichtet, so doch zumindest der Siebung durch den stummen Zwang der Ökonomie ausgesetzt sind. Eine permanente Reduzierung des kritischen Pols gesellschaftlicher Massenkommunikation ist insofern auch ohne juristisch-polizeiliche Mittel gegeben. Der Einsatz jener Mittel läuft natürlich trotzdem, schon deswegen, um potentiell herrschaftsgefährdende Inhalte der gesellschaftlichen Kommunikation zu kontrollieren, damit diese dann je nach Bedarf unterdrückt werden können. (5)

Ein intelligenter Staat - die verblichenen 'real-sozialistischen' zählen nicht dazu - ist jedoch relativ sparsam in der Anwendung seiner direkten Zwangsmittel, solange er auch integrativ und/oder mit Methoden struktureller Gewalt sein Ziel der Aufrechterhaltung bürgerlich-patriarchaler Herrschaft erreichen kann. In Zeiten stillgelegter sozialer Konflikte kann er sich eine derartige Zurückhaltung leisten, da die vorhandene normierte Pluralität auch Raum für eine begrenzte gesellschaftliche Opposition vorsieht. Solange diese jedoch den Virus der Insubordination auch aufgrund eigener Unzulänglichkeiten nicht in die Gesellschaft tragen kann, dient ihr oppositionelles Zappeln allenfalls als Seismograph für gesellschaftliche Konfliktherde bzw. wirkt ungeachtet des subjektiven Wollens als Legitimation des Systems.

Auch in anderer Hinsicht ist ein kontrolliertes Offenhalten des politisch-kulturellen Raumes vorteilhaft für die Herrschenden: Hat doch der metropolitane Kapitalismus (wohlgemerkt unter der Bedingung makroökonomischer Prosperität!) es bisher ausgezeichnet verstanden, Bruchstücke politischer Protestbewegungen bzw. subkulturelle Ausdrucksformen zu assimilieren und für seine eigene Modernisierung zu nutzen.

Diese Assimilationsfähigkeit ist wahrlich kein Zeichen für eine Klassenschranken niederreißende Zähmung des zivilgesellschaftlichen Kapitalismus - mag auch z.B. Frau Kebir das mit ihrer geradezu bewundernden Beschreibung dieses integrativen Sogs nahelegen - sondern im Gegenteil die zentrale Herausforderung für die Analyse und Praxis der revolutionären Linken.

Ein letzter Aspekt, der im Zusammenhang mit der beschriebenen Fähigkeit des integralen Staates zur Konsensreproduktion betrachtet werden soll, ist die Tatsache, daß in den kapitalistischen Metropolen der Staat in diesem Jahrhundert zunehmend Aufgaben der gesamtgesellschaftlichen Reproduktion übernommen hat. Juristisch-sozialpolitisch ist die Existenz der ArbeiterInnenklasse also zunehmend an staatliches Wirken gebunden, obwohl der Staat zugleich tagtäglich die Unterdrückung der ArbeiterInnen (und nicht nur dieser!) zementiert. Dieser Widerspruch manifestiert sich entsprechend auch im Bewußtsein der Unterdrückten; deren ideologisch-praktischer Bruch mit dem Staat wird dadurch zwar nicht grundsätzlich verhindert, aber doch wenigstens deutlich erschwert.

Hegemonie und Partei

Wir haben festgestellt, daß der moderne bürgerliche Staat die Stabilität seiner Herrschaft hauptsächlich durch die Reproduktion des ideologischen Konsenses gewährleistet, mit anderen Worten: daß er die Hegemonie der bürgerlichen Klasse sicherstellt (6).

Wenn auch für Gramsci die Ebene der gesellschaftlichen Überbauten ein zentrales Kampffeld für die Emanzipation der Unterdrückten ist, so verhindert doch die durch ihn unterstrichene Anbindung der kulturell-ideologischen Phänomene an den ökonomischen Klassenkampf, daß die Auseinandersetzungen in der Zivilgesellschaft auf ein politizistisch-idealistisches Konzept reduziert werden.

Gramsci setzt dabei der bürgerlichen Hegemonie die Möglichkeit, ja die Notwendigkeit der proletarischen Hegemonie entgegen. Deren Erringung ist die wichtigste Voraussetzung für eine erfolgreiche Revolution. Motor im Kampf um die proletarische Hegemonie innerhalb der Zivilgesellschaft ist für Gramsci die kommunistische Partei, die er, hier anscheinend ganz Leninist, als unverzichtbar für die Koordinierung, Zentralisierung und Führung der Klassenaktivitäten ansieht.

Das komplexe Verhältnis von Basis und Überbau beim Kampf um die Hegemonie faßt Gramsci in dem Begriff des 'historischen Blocks'. Bilden materielle Produktivkräfte, institutionell-staatliche Produktionsverhältnisse und kulturell-ideologische Überbauten eine mehr oder weniger homogene Einheit, so ist ein spezifischer historischer Block gegeben. Ein wesentliches Moment des Kampfes der ArbeiterInnen ist es, den historischen Block der Bourgeoisie entlang der ihm immanenten Widersprüche zu zersetzen und einen eigenen historischen Block aufzubauen.

Die erste Etappe auf diesem Weg ist die primitive Erkenntnis und Durchsetzung gemeinsamer ökonomischer Interessen durch Teile des Proletariats. Dieser Kampf ist jedoch noch partikular, erst wenn das Proletariat als Klasse die Notwendigkeit, den Staat als Feind anzugreifen, erkennt und umsetzt, hat es die Reife zur Erlangung und Ausübung der Hegemonie erreicht.

Was kann man seitens einer Klasse, die die Erneuerung anstrebt, diesem gewaltigen Komplex von Schützengräben und Befestigungsanlagen der herrschenden Klasse entgegenstellen? Den Geist des Bruchs, d.h. die fortschreitende Aneignung des Bewußtseins der eigenen historischen Persönlichkeit, den Geist des Bruchs, der danach streben muß, sich von der führenden Klasse auf die potentiell verbündeten Klassen auszudehnen: all das erfordert eine komplizierte ideologische Arbeit, deren erste Bedingung die richtige Kenntnis des Gebiets ist, dem die Menschenmassen zu entreißen sind.

A. Gramsci (7)

Die Klasse der ArbeiterInnen wird in diesem Falle universal, das heißt, sie überwindet als hegemoniale Macht ihre engen korporativen Interessen und schafft ein Bündnissystem mit anderen gesellschaftlichen Gruppen, die ebenfalls an der Überwindung des Kapitalismus interessiert sind. Dabei unterscheidet Gramsci zwischen der Diktatur des Proletariats, die als Klassenherrschaft gegenüber der Bourgeoisie ausgeübt werden muß, und der Hegemonie innerhalb des antikapitalistischen Bündnisses.

Aufmerksamen LeserInnen fällt es nicht schwer, den Kern dieses Unterschieds zu erraten: Er liegt darin, daß in der Diktatur des Proletariats das Moment des Zwangs überwiegt, die proletarische Hegemonie aber den Konsens innerhalb des antikapitalistischen Bündnisses anstrebt. Der Kompromiß ist untrennbar mit der Hegemonie verbunden.

Wie verhält es sich mit Gramscis Auffassung von der Partei? Ist er ein beinharter Leninist, der den 'Massen' die Erkenntnisfähigkeit abspricht und diesem Mangel mit der Avantgardepartei beikommen will? Gramscis Ansatz, die kommunistische Partei als Verkörperung der Klasse und als führende Kraft im antikapitalistischen Kampf zu fassen, scheint dies nahezulegen.

Gar so einfach ist es aber nun doch nicht. Gramsci sieht - und da ist er sogar Anti-Leninist - nicht die Partei als eigentliche Weltbewegerin, sondern als den organisierenden Teil des Kollektivwillens der Klasse, der die Initiative der Klasse aufgreift, verallgemeinert und so dialektisch wieder auf die Klasse zurückwirkt. Eine mechanische bzw. hierarchische Gegenüberstellung von Partei und Klasse ist Gramscis Denken fremd.

Neben dem beschriebenen Verhältnis von Partei und Klasse im Prozeß der gesellschaftlichen Auseinandersetzung gibt es jedoch noch ein weiteres, buchstäblich alltägliches Feld der Wechselwirkung. Der Aufbau des historischen Blocks geht, wie oben geschildert, nicht unwesentlich auf dem Gebiet der Ideologien vor sich. Gramsci betont in diesem Zusammenhang nachdrücklich die Notwendigkeit, sich kritisch mit dem sogenannten 'Alltagsverstand' der Bevölkerung zu beschäftigen. Hier ist die konkrete Ebene, in der sich die bürgerliche Hegemonie kommunikativ-praktisch in das Leben der Menschen umsetzt, und genau deshalb muß hier angesetzt werden, um durch eine emanzipatorische Gegenpraxis die bürgerliche Hegemonie anzugreifen. Organisatorin dieser den Alltagsverstand aufgreifenden und zugleich verändernden fortschrittlichen Praxis ist für Gramsci wiederum die proletarische Partei.

Stellt sich abschließend die Brechtsche Frage: Wer aber ist die Partei? Für Gramsci ist sie nicht ein über den Wolken schwebende ZK, wenngleich nochmals daran erinnert sein muß, daß unter den Bedingungen des italienischen Faschismus das Moment der innerparteilichen Demokratie notgedrungen durch straffere Strukturen in den Hintergrund gedrängt wurde. Trotzdem ist 'für Gramsci [...] die geistig-moralische Konstitution des individuellen Subjekts von ausschlaggebender Bedeutung für die Entwicklungshöhe und den schließlichen Erfolg [...] des Kollektivsubjekts (Partei). [...] Ohne intellektuelle und moralische Mündigkeit [...] des Einzelnen ist eine lebensfähige Kampfgemeinschaft von Gleichgesinnten nicht vorstellbar.' (8)

Hält mensch dies Bekenntnis zur Mündigkeit des organisierten Individuums neben den formulierten Anspruch an das Proletariat, daß dessen Hegemonie nicht ohne den Konsens der verbündeten Gruppen zu haben ist, so kann festgestellt werden, daß Gramsci in seinen theoretischen Schriften z.B. Luxemburg allemal näher steht als Lenin.

Ausblicke über Grenzen

Was helfen uns diese Erkenntnisse? Schärfer: Helfen uns diese Erkenntnisse was? Wir sind eingangs von dem empirischen Befund der Gleichzeitigkeit von Krise und Stabilität des bürgerlichen Systems ausgegangen. Das historische Verdienst Gramscis ist es, in diesem Zusammenhang die Existenz und Funktion der Zivilgesellschaft herausgearbeitet zu haben. Auch wenn es nicht dem Zeitgeist entspricht, so ist es doch immens wichtig, das Terrain und die Spielregeln der fundamentalen Konflikte zu kennen, und diese laufen nicht zuletzt auf der Ebene der kulturellen Überbauten ab. Anders: Vorausgesetzt, daß der Anspruch der Abschaffung aller Unterdrückungsverhältnisse überhaupt noch besteht, wie soll dies denn dieses Ziel erreicht werden, wenn die Verschränkung von ökonomischem und ideologischem Klassenkampf vollends unbegriffen bleibt?

Sicherlich kann die Beschäftigung mit dem Werk Gramscis nur Anregungen für die politische Praxis geben. Trotzdem sollte eine revolutionäre Linke nicht dem Trend der allgemeinen Regression hinterhertrotten und ein erreichtes theoretisches Wissen nicht wieder leichtfertig verschütten.

Inwieweit

a) die Prämissen von Gramscis Zivilgesellschaftskonzept, die bestenfalls frühfordistische Produktionsverhältnisse widerspiegeln, noch gelten,

b) eine Erweiterung der kulturtheoretischen Gedanken Gramscis um neuere sozialpsychologische Konzepte nötig ist und

c) die generelle Fixierung einer antikapitalistischen Revolution auf die Eroberung und Neuinstallierung staatlicher Macht hinterfragt werden muß,

wird Gegenstand des zweiten Teils dieses Textes sein.


© Steffen Naumann, Berlin 1997





Zeittafel

1891 Antonio Gramsci wird in Ales/Sardinien als viertes von sieben Geschwistern geboren. Infolge der materiellen Not der Familie muß Gramsci von 1903-1905 den Schulbesuch unterbrechen, um zu arbeiten.

1905-11 Während seiner Gymnasialzeit schließt sich Gramsci unter dem Einfluß seines Bruders der sozialistischen Jugendbewegung an. Nach dem Abitur bewirbt er sich für ein Universitätsstipendium, das ihm 1911 zugesprochen wird.

1912-14 Studium in Turin, wo er Palmiro Togliatti kennenlernt. Mit dem Kriegseintritt Italiens 1915 verstärkt Gramsci seine Aktivität für die PSI (Sozialistische Partei Italiens), der er 1913 beigetreten war, er wird Redakteur der PSI-Tageszeitung 'Avanti'.

1919 Am 1. Mai erscheint in Turin die von Gramsci geleitete sozialistische Wochenzeitung 'L'Ordine Nuovo'. Diese wird 1920 während revolutionärer Unruhen zum Hauptorgan der militanten Turiner Fabrikrätebewegung.

1920 Gramsci ist Mitinitiator einer Bewegung zur Erneuerung der Sozialistischen Partei, die Grundsätze dieser Bewegung werden von Lenin als 'den Prinzipien der III. Internationale vollauf entsprechend' gelobt.

1921 Auf dem Parteitag der PSI in Livorno konstituiert sich die kommunistische Fraktion als eigenständige Partei; Generalsekretär wird Amadeo Bordiga, Gramsci wird ZK-Mitglied.

1922 Gramsci wird PCI-Vertreter beim Exekutivkomitee der Komintern. Nach dem 'Marsch auf Rom' am 28. Oktober beginnt die faschistische Diktatur Mussolinis.

1924 Infolge der parlamentarischen Immunität kann Gramsci, der als Abgeordneter gewählt worden war, nach Italien zurückkehren, obwohl 1923 Haftbefehl gegen ihn erlassen wurde. Er erlangt eine führende Stellung in der Opposition gegen Mussolini und löst Bordiga als Generalsekretär des PCI ab.

1926 Am 8. November wird Gramsci in Rom verhaftet, er wird am 4. Juni 1928 zu mehr als zwanzig Jahren Zuchthaus verurteilt.

1929 Gramsci erhält eine Schreibgenehmigung und beginnt im Februar mit der sich jahrelang hinziehenden Arbeit an den 'Gefängnisheften'. Sein durch chronische Erkrankungen belasteter Gesundheitszustand verschlechtert sich aufgrund der harten Sonderhaftbedingungen dramatisch.

1932-34 Internationale Solidaritätskampagnen für die Freilassung Gramscis, der zeitweise in Todesgefahr schwebt.

1937 Im April wird Gramsci, körperlich völlig zerrüttet, aus dem Kerker entlassen. Am 25. April bekommt er eine Gehirnblutung, zwei Tage später stirbt er.


Anmerkungen:

(1) Diese 1845 von Marx notierten und 1888 von Engels posthum veröffentlichten Thesen, die als eine der Grundlagen für die Entwicklung des Historischen Materialismus gelten, haben unter anderem das Wechselverhältnis von Bewußtseinsentwicklung und gesellschaftlicher Praxis des Subjekts zum Inhalt.

(2) Zitiert nach: Verena Krieger (1992): Gramscis 'Zivilgesellschaft' - Ein affirmativer oder kritischer Begriff? In: ak 341.

(3) Das bedeutet nicht, daß staatlich fixierte Macht monolithisch strukturiert ist. Es ist im Gegenteil ein Merkmal moderner Herrschaft, zumindest in nachrangigen Fragen Fraktionierungen auch innerhalb der Apparate zuzulassen, um so den Raum für die Entwicklung bürgerlicher Gesellschaften offenzuhalten.

(4) Zitiert nach: Verena Krieger (1992): a.a.O.

(5) Hier sei auf die aktuelle Debatte um die staatlicherseits angestrebte Einschränkung von Verschlüsselungstechnologien für elektronische Kommunikation und auf die fortgesetzte Kriminalisierung mißliebiger Publikationen wie z.B. der radikal verwiesen.

(6) Er sichert zugleich auch juristisch-ideologisch die Grundlagen patriarchaler Unterdrückung. Die Analyse der Verzahnung von Patriarchat und bürgerlicher Klassenherrschaft in der Zivilgesellschaft würde allerdings den Rahmen des Textes sprengen, zumal es in diesem in erster Linie um die Darstellung der klassischen Hauptlinien von Gramscis Zivilgesellschaftskonzept geht.

(7) Zitiert nach: Sabine Kebir (1991): Antonio Gramscis Zivilgesellschaft. VSA-Verlag, Hamburg, S. 95 f.

(8) Hartmut Krauss (1994): Subjektive Widerspruchsverarbeitung und die Möglichkeit 'praktisch-kritischer' Bewußtseinsentwicklung. In: Hintergrund III-94.


Fortsetzung Teil 2









 

GLASNOST, Berlin 1992 - 2019