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Beiträge zur Politik  









Elmar Altvater

Die Zeit braucht Radikalität - Radikalität braucht die Zeit

Erledigt der Fall, so lautete nach dein historischen Bruch von 1989 das Urteil über mögliche Subjekte und Perspektiven linker Politik. Inzwischen ahnt man: Totgesagte leben länger. In Osteuropa ist die politische Linke dabei, sich neu zu formieren. Die Intelligentsia arbeitet die Fehler der Vergangenheit auf, vor allem die Gründe für die »Fixiertheit des sogenannten Staatssozialismus auf die nachholende Entwicklung..., die zum Zusammenbruch des Systems und zu einer neuen kapitalistischen Evolution führte« (Tamás Krausz). Im Westen ist in vielen Ländern, und wahrscheinlich auch bald in der Bundesrepublik, die konservative Epoche beendet und die Sozialdemokratie zurück an der Macht. Das ist noch keineswegs »d a s linke Projekt« und auch keine Wiederkehr des »sozialdemokratischen Jahrhunderts«, aber immerhin könnte man heute auf die Frage »What's left?« antworten: Die Sozialdemokratie wenigstens ist uns geblieben. Gott sei Dank?

Im politischen Süden des Globus ­der Begriff der »Dritten Welt« hat ja seine Eindeutigkeit verloren ­ wächst die Erkenntnis, daß »niedrige Löhne und die Freiheit, die Umwelt zu verschmutzen« (Ernesto Galeano) keineswegs geeignete Mittel sind, um die Entwicklung anzukurbeln und irgendwann mit den reichen Industrieländern gleichzuziehen.

Der Kapitalismus, »der das ,durch jene Implosion geöffnete Vakuum besetzt hat«, ist also, wie Adolf Muschg betont, keineswegs der Weisheit letzter Schluß. Die Geschichte ist nicht am Ende, wie Francis Fukuyama 1989 nach dem Sieg im Kalten Krieg triumphierte, sondern muß auch in Zukunft gestaltet werden. Nach welchen Prinzipien, mit welcher Perspektive? Nachdenken über ein linkes Projekt ist also keineswegs überflüssig, im Gegenteil.

Dabei geht es um dreierlei: Erstens müssen die Fehler der Vergangenheit »rücksichtslos«, wie Marx und Engels im »Kommunistischen Manifest« programmatisch schrieben, kritisiert werden. Zweitens muß der inzwischen in fast jeder Hinsicht globalisierte Kapitalismus nüchtern analysiert werden. Drittens schließlich kann es ein linkes Projekt nur geben, wenn ihm Ideen aus utopischem Denken zuwachsen. Ein Blick also zurück, ein scharfer Blick auf die gegenwärtigen Verhältnisse, und dann kann man das Auge auch in fernen Zukünfte schweifen lassen. Zukünfte im Plural, denn wer kann es heute wagen, die möglichen Verzweigungen auf den Pfaden in die Zukunft vorauszusehen oder gar vorwegzunehmen?

Ein entscheidender Fehler der Linken ist bereits identifiziert worden: In ihrer großen Mehrzahl hat sie sich, ganz der Leninschen Vorstellung folgend, daß Sozialismus nichts anderes als die »Elektrifizierung des ganzen Landes« sei, den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft als nachholende Industrialisierung gedacht. Herausgekommen ist ein »halber Fordismus« (Robin Murray), weniger effizient als der westliche Fordismus und mit weniger differenziertem Angebot von Konsumgütern. Die sozialistische Alternative war, um es im Computerdeutsch zu versinnbildlichen, als überlegene »Hardware« gedacht. Um die »Software« hat man sich viel zu wenig gekümmert. In der »Systemkonkurrenz« ging es vorwiegend darum, auf welcher Hardware das im Osten und im Westen weitgehend identische Programm (Industrialisierung) schneller laufen konnte. Die West­Hardware hat gesiegt. Heute wissen wir: Man hätte das Programm ändern müssen, vor allem durch Berücksichtigung ökologischer Belange.

Auch der Ästhetik hätte mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden müssen, in der Stadtplanung, im Alltagsleben, in der Politik. Die Mißachtung gesellschaftlicher Initiativen, wenn sie nicht top­down von der Partei in die Gesellschaft projiziert wurden, hat die politische Beteiligung auf Teilnahme an Massenaufmärschen reduziert. Je größer die Masse, desto größer die Macht der Mächtigen, analysiert Elias Canetti in seinem großen Essay »Masse und Macht« aus dem Jahre 1960. Dies ist ein Trugschluß der Mächtigen, die sich dann auch nur noch Gesellschaft als kompakte Hardware vorstellen können und nicht als feingesponnenes, sehr dynamisches, sich selbst regulierendes Netzwerk von Initiativen. Wenn diese abgetötet werden, kann auch »materieller Interessiertheit« oder »sozialistischem Gewinnstreben« Dynamik nicht zurückgewonnen werden.

Das Frohlocken der Sieger nach 1989 ist verständlich, aber völlig unangebracht. Unmißverständlich Alfred Hrdlicka: »Der Kapitalismus hat versagt. Wenn in Südamerika die Kinder auf dem Müll leben, dann ist das nicht gerade ein Aushängeschild der Freiheit.« Mit einem Panorama des Elends in der Welt würde man jedoch nur einen oberflächlichen Teil der Wirklichkeit erfassen. Die Krise der ökonomisch globalisierten Welt liegt viel tiefer.

Erstens in der scheinbaren Alternativlosigkeit zum Kapitalismus; wo Alternativen fehlen, geht die Hoffnung verloren. Der Optimismus, der aus Gottfried Wilhelm Leibnitz' philosophischer Ableitung zu entnehmen ist, daß die jeweils gegenwärtige Welt auch die beste aller möglichen Welten sei, kann heute noch berechtigter mit Hohn und Sarkasmus bedacht werden als im 18. Jahrhundert in Voltaires »Candide«. Wenn die »beste aller möglichen Welten« überhaupt zustande kommt, dann durch reflexive Praxis der Menschen selbst, durch einen diskursiven Prozeß »kollektiver Forschung«, wie der italienische Linkssozialist Lelio Basso in den 60er und 70er Jahren schrieb. Die vielen praktischen Initiativen in der Welt sind Anlaß genug, aus der Fatalität der Alternativlosigkeit herauszukommen.

Zweitens tut sich ein Gegensatz auf, wie er in heutiger Klarheit niemals zuvor in der kapitalistischen Geschichte existiert hat: der Gegensatz zwischen Arbeit und Geldvermögen. Es gibt immer weniger (kapitalistisch verwertbare) Arbeit in der Welt, daher ein Heer von einer Milliarde Arbeitsloser, und immer größere Geldvermögen, die nach Zinsen, also nach Zuwachs hungern. Jean Ziegler nennt dieses expansive Geschäft »Bankenbanditismus« in einem »Kasino­Kapitalismus«. Die Manager der riesigen Geldvermögen in Form von Aktienpaketen, Renten und Versicherungsfonds. Anleihen und davon abgeleiteten Papieren (Derivate) nutzen die Globalisierung, um wie umherstreunende Banditen die Vermögen mal hier, mal da zum Zweck höchstmöglicher Verwertung anzulegen. Haben sie einen »Emerging Market« erst einmal wie Dracula ausgesaugt, fliehen sie das unrentabel und unsicher gewordene Terrain und stürzen es in eine tiefe Währungs­ und Finanzkrise.

Das Elend in Lateinamerika, von dem Hrdlicka berichtet, hat eine Kehrseite: das Wohlergehen derjenigen, die an den Geldvermögen beteiligt sind, die da weltweit nach höchster Rendite streben. Das sind nicht mehr nur die Kapitalisten, die Arbeitskräfte im Produktionsprozeß ausbeuten, sondern auch Kleinanleger, darunter nicht wenige Arbeiter und Angestellte. Man sieht sie manchmal in der U-Bahn, wenn sie die Kursnotierungen studieren, weil sie nach der Arbeit am Computer ihre Kleingeschäfte erledigen, die sich zu großen Geschäften bei den Fondsmanagern aggregieren.

Wer nur auf Arbeit angewiesen ist, um zu Einkommen zu gelangen, ist in Zeiten der Globalisierung besonders schlecht dran. Erstens reicht die Zahl der Arbeitsplätze längst nicht für alle Arbeit Suchenden, und zweitens wird die Konkurrenz auf den Arbeitsmärkten genutzt, um die Standards zu senken: Lohnabbau, Kürzung von Sozialleistungen, Verschlechterung der Arbeitsbedingungen. Die Aussage von Johan Galtung, daß »die Globalisierung der Arbeitskräfte ... nicht statt(findet)«, ist nicht die ganze Wahrheit. Auch wenn die Migration durch Einwanderungsgesetze und Asylbeschränkungen begrenzt ist, werden schon durch die hohe Mobilität des Kapitals Arbeitskräfte in verschiedenen Weltregionen gegeneinander ausgespielt. Nicht nur in Deutschland wird eine »Standortdebatte« geführt, und nicht nur in diesem Lande werden darin verlogene Argumente für eine Absenkung der Standards zur politischen Drohung. In Zeiten der Globalisierung hat das Kapital ­ um eine Unterscheidung Alfred Hirschmans zu nutzen ­ eine »Exitoption«, es kann den Standort »fliehen«. Den Arbeitnehmern bleibt da nur die »Voice«, das heißt, sie müssen die Stimme erheben gegen die ihnen abverlangten Zumutungen. Gewerkschaften sind also wichtiger als je zuvor.

Drittens hat die ökonomische Globalisierung auch zur Globalisierung des ökologischen Zerstörungswerks beigetragen. Spätestens seit den Veröffentlichungen des Club of Rome ist dies bekannt. In den 80er Jahren hat die »Brundlandt­Kommission« die optimistische Botschaft vermittelt, daß ökologisch nachhaltiges Wirtschaften möglich sei. Die Konferenz von Rio de Janeiro 1992 unterstrich dies mit einer Reihe von Erklärungen und Protokollen, die seit diesem Ereignis ein neues Politikfeld geschaffen haben: globale Klima­ und Umweltpolitik und die Beteiligung von Nicht­Regierungsorganisationen an diesem Politikfeld.

Doch wenig ist erreicht. Der Ausstoß von Treibgasen ist nicht gestoppt, trotz vollmundiger Erklärungen. Die Artenvielfalt, so sehen es viele Ökologen, »ist am Ende« (Wolfgang Engelhardt), und ein evolutionärer GAU ist nicht mehr auszuschließen. Dies wäre eine direkte Folge der fatalen kapitalistischen Logik, daß nur diejenigen natürlichen Dinge von Interesse sind, die sich verwerten lassen. »Wertloses Zeugs« gehört wie Unkraut ausgemerzt. Dabei spielt es keine Rolle, ob das »Unkraut« nicht gerade für die Evolution der Arten zentral ist. Der Horizont unternehmerischen Denkens reicht über eine Investitionsperiode von Kapital nicht hinaus. Das ist angesichts der Langsamkeit natürlicher Prozesse viel zu kurz.

Das Gerede des Bundespräsidenten, sich schneller ­ mit einem »Ruck« ­den Herausforderungen der Globalisierung zu stellen, ist in diesem Zusammenhang die möglicherweise noch nicht einmal als solche erkannte unverhohlene Aufforderung zur Naturzerstörung. Denn gerade die Beschleunigung in der Zeit und die Expansion im Raum sind es, die Zeit und Raum auf Null reduzieren und die Natur als Hindernis des ökonomischen Verwertungshandelns in der globalen Konkurrenz eliminieren.

Wenn man die Fehleranalyse des realisierten sozialistischen Projekts und die Analyse des globalisierten Kapitalismus zusammennimmt, können einige Wegmarken eines linken Projekts bezeichnet werden. Es ist schon oft betont worden, daß sich Gleichheit und Freiheit in widersprüchlicher Spannung befinden. Es ist zwar simplifiziert, aber doch nicht ganz falsch, den Sozialismus mit dem Prinzip der Gleichheit und den Kapitalismus mit dem der Freiheit zu identifizieren. Muß dies aber so sein? Ist es nicht vorstellbar, daß in einer Gesellschaft die Menschen einen hohen Grad von Freiheit bei der Wahrnehmung ihrer Rechte, aber auch ihrer Pflichten haben und dennoch die materielle Gleichheit (nicht Gleichmacherei) von Lebensverhältnissen verwirklicht ist?

Wenn diese Gleichheit nicht auf niedrigem Niveau hergestellt werden soll, ist ein gewisser Reichtum Voraussetzung. Wie allerdings soll der Reichtum gemessen werden? In monetären Größen oder sind nicht auch monetär nicht meßbare Verhältnisse, die für die »Qualität des Lebens« entscheidend sind, zu berücksichtigen? Diese Fragen verweisen auf die Absurdität des kapitalistischen Kalküls, das aber tief in unserem Denken verankert ist, alle Lebensbedingungen in Geld ausdrücken zu müssen. In einer ökologisch nachhaltigen Welt wird man sich von dieser Art des »Monetarismus« verabschieden müssen.

Ist dies möglich unter dem Zwang, monetäres Einkommen zu erzielen, um die eigenen Bedürfnisse und die der Familie zu befriedigen? Sicherlich nicht. Also kommt es darauf an, in einem linken Projekt über die Entkopplung von Arbeit und Einkommen nachzudenken und auch über die Bedürfnisse, die durch direkte persönliche Dienstleistungen ohne monetäre Vermittlung befriedigt werden können. Hier könnten Ideen aus der Frauenbewegung aufgegriffen werden, die in dem Band »Was kommt von links« etwas zu kurz gekommen sind.

Die zentrale Idee eines linken Projekts nach den Erfahrungen des real existierenden Sozialismus und angesichts der bedrohlichen Krisen des globalisierten Kapitalismus heißt also: nicht ­schneller und schneller beim Einholen und Überholen im Systemwettbewerb, sondern langsamer und räumlich beschränkter, regional vernetzt, so wie es Johan Galtung, Samir Amin oder Luciana Castellina und andere vor Augen führen. Um der ökologischen Krise beizukommen, muß die Verbrennung fossiler Energieträger radikal reduziert werden. Wenn, diese Radikalität nicht unzumutbar sein soll, muß man ihrer Realisierung Zeit geben. Es braucht Generationen, bis sich die eingefahrenen und in städtebaulichen Beton gegossenen Lebensweisen wieder ändern.

Irgendwann muß man anfangen. Kein Zufall, daß Alfred Hrdlicka, Johan Galtung oder Gösta von Üxkuell eine Umkehr zu mehr Spiritualität, zu ganzheitlichem Denken, zur Erkenntnis, daß das rationalistisch Zergliederte durch synthetisches Denken wieder zusammengeführt werden muß, auffordern. Das klingt idealistisch, und der Idealismus­Vorwurf ist seit Marx besonders hart. Dennoch geht kein Weg daran vorbei, daß ein Prozeß eingeleitet wird, durch den die fatale Monetisierung und der kurzsichtige Materialismus zurückgenommen werden. Es ist zu hoffen, daß wir diese Zeit haben. Sicher ist dies nicht. Die Katastrophe ist leider nicht auszuschließen. Aber dafür entwickelt man kein linkes Projekt, sondern dafür, wie man sie vermeiden kann.



Quelle: Neues Deutschland, 05. Juni 1998, S. 14








 

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