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Beiträge zur Theorie  







Die versteinerten Verhältnisse zum Tanzen bringen

Gramsci und die Philosophie der Praxis

von Christian Vasenthien

Das Leben eines Revolutionärs

1891 in Sardinien geboren zog Antonio Gramsci 1911 zum Studium nach Turin, dem damaligem Zentrum der italienischen Arbeiterbewegung. 1913 trat er in die italienische sozialistische Partei (PSI) ein, einer mit der damaligen Sozialdemokratie in Deutschland vergleichbaren Partei. In der PSI wurde er während des Ersten Weltkrieges zu einem entschiedenen Gegner der Parteiführung, weil diese die italienische Regierung darin unterstützte, zunächst in den libyschen Krieg und später in den ersten Weltkrieg einzutreten.

Wenige Monate nach Ausbruch der russischen Revolution 1917 entflammten auch in Turin Barrikadenkämpfe der Arbeiter. Sie protestierten gegen Krieg, das Kriegsrecht und die Lebensmittelknappheit. Die Aufstände wurden vom Militär blutig niedergeschlagen. Für Gramsci begann mit der russischen Oktoberrevolution und seiner Teilnahme an den Turiner Aufständen eine langjährige Beschäftigung über die Frage nach der Strategie und Taktik für gesellschaftliche Veränderung.

1919 gründete er die sozialistische Arbeiterzeitung L'Ordine Nuovo (Die neue Ordnung) unter dem Motto: "Lernt, denn wir werden eure ganze Intelligenz brauchen. Agitiert, denn wir werden all euren Enthusiasmus brauchen. Organisiert euch, denn wir werden eure ganze Stärke brauchen".

1921 spaltete sich ein Teil des linken Flügels unter Armadeo Bordiga und Antonio Gramsci von der PSI ab, um die Kommunistische Partei (PCI) zu gründen. Zuvor hatten sie vergeblich versucht, die PSI in eine revolutionäre Partei zu verwandeln. Gramsci wurde Mitglied des Zentralkomitees der PCI und L'Ordine Nuovo wurde als Parteiorgan Tageszeitung. 1922 wurde er Vertreter der PCI im Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale.

1922 kamen die Faschisten unter Mussolini an die Macht. Diese verfolgten ab Mitte der zwanziger Jahre oppositionelle Gruppen immer aggressiver. Diese Tatsache erlaubte den Kommunisten nur noch chaotisches und zusammenhangloses Arbeiten. 1926 verbot Mussolini alle oppositionellen Parteien. Gramsci und andere führende Sozialdemokraten und Kommunisten wurden verhaftet. In dem sogenannten Mammutprozeß wurde Gramsci 1928, trotz seiner formalen Immunität als Parlamentsabgeordneter, zu 20 Jahren Gefängnisstrafe verurteilt. Als der faschistische Propagandaminister über Gramsci sprach, sagte er: "Wir müssen diesem Gehirn für 20 Jahre untersagen zu funktionieren."

Dies sollte jedoch nicht gelingen. Unter schwierigen Bedingungen verfaßte Gramsci Texte über Politik und Kultur. Diese erschienen später unter dem Namen Gefängnishefte. Um sich vor der Gefängniszensur zu schützen, umschrieb er mit Metaphern viele Begriffe aus der Arbeiterbewegung. So benutzte er z.B. den Begriff "Philosophie der Praxis" um das Wort "Marxismus" zu vermeiden, aber auch um deutlich zu machen, daß der Marxismus eben keine von der gesellschaftlichen Realität abgehobene gedankliche Turnübung ist, sondern sich im politischen Handeln verwirklicht.[1]

1937 starb er an den Folgen der Haft in Mussolinis Kerkern.

Eine andere Welt ist möglich, wenn Menschen zu Schmieden ihres Schicksals werden

Der Schlüssel für den Kampf um eine Welt, in der für menschliche Bedürfnisse und nicht mehr für Profitmaximierung produziert wird, war für Gramsci die Arbeiterklasse: "Der revolutionäre Prozeß [...] verwirklicht sich auf dem Produktionssektor, in der Fabrik, wo das Verhältnis zwischen [...] Ausbeuter und Ausgebeuteten [herrscht], wo es keine Freiheit für den Arbeiter, keine Demokratie gibt."[2]

Im Jahr 1920 fanden in Italien über 1900 Streiks statt, an denen sich 1,3 Millionen Menschen beteiligten. Generalstreik folgte auf Generalstreik und an vielen Orten wurden die Fabriken besetzt. In Mailand schliefen die Arbeiter in ihren Arbeitsräumen und besetzten so auf einen Schlag 280 Fabriken. Die Eisenbahner halfen den Metallarbeitern, indem sie ihnen die Post in die besetzten Betriebe brachten, die Drucker verhinderten die Herausgabe von Flugblättern der Industriellen. Eine andere, selbstbestimmte Welt schien durch die Kämpfe der Arbeiter geboren zu werden. In den zwei "roten Jahren" 1919/20 wurde L'Ordine Nuovo zur Zeitung der Rätebewegung in Turin.

Für Gramsci waren die Arbeiterräte, die sich während der Streiks bildeten, als Organe der Interessensvertretung die "am meisten geeigneten Organe gegenseitiger Erziehung"[3], um sich selbst in Organe der Selbstverwaltung weiterzuentwickeln und damit zur Überwindung der bisherigen Klassengesellschaft zu führen: Die "Arbeiterbewegung, die aus der Entwicklung des Kapitalismus objektiv hervorgebracht wird, [wird] dann revolutionär [...] wenn sie als Arbeiterklasse das Bewußtsein erlangt hat, die einzige Klasse zu sein, die in der Lage ist, die Probleme zu lösen, die der Kapitalismus bei seiner Entfaltung hervorbringt, aber von selbst nicht lösen kann[4] [...] Die kommunistische Gesellschaft kann nicht von oben herab durch Dekrete und Gesetze geschaffen werden. Sie wird [...] aus der historischen Aktivität der werktätigen Klasse hervorgehen, die die Initiativgewalt in der industriellen [...] Produktion auf neue Weise und mit einer neuen Ordnung reorganisieren"[5].

Für Gramsci waren die Arbeiterräte nichts abstraktes, sondern etwas, das von unten aus konkreten Bedürfnissen des Klassenkampfes in den Betrieben, Fabriken und Büros entstehe. Der Arbeiterrat sei eine Organisation, der die zerstreuten Arbeiter vereinige, unabhängig von ihrer Tätigkeit, ihrer Gewerkschaft und ihrem Arbeitsplatz. Er sei eine Organisation die sich spontan gründen könnte und in der Lage sei, sich demokratisch selbst zu kontrollieren. Der Rat ist somit ein Organ, daß die konkreten Kämpfe mit den Kämpfen aller anderen Arbeiter in Zusammenhang bringt und das der objektiven Möglichkeit, die Produktion zu vergesellschaften, eine Form verleiht.

L'Ordine Nuovo sollte nicht nur eine Zeitung für die Arbeiter sein, sondern sie sollte den Kämpfen und den Bewusstsein der Arbeiter einen Ausdruck verleihen: "Die Arbeiter", schrieb Gramsci "haben den 'Ordine Nuovo' geliebt, und warum haben sie ihn geliebt? Weil sie in den dort veröffentlichten Artikeln einen Teil ihrer selbst, den besten Teil, wieder erkannt haben, weil sie empfunden haben, daß die Artikel aus dem 'Ordine Nuovo' von dem ihnen eigenen Sinn für eine nach innen gerichtete Suche durchdrungen waren: 'Wie können wir frei werden? Wie können wir selbst werden?' Weil ihre Artikel nicht kalt und intellektuell strukturiert waren, sondern von unseren Diskussionen mit den besten Arbeitern herrührten; sie arbeiteten sorgfältig die tatsächlichen Gefühle, Ziele und Leidenschaften der Turiner Arbeiterklasse aus [...] Weil ihre Artikel wirklich eine Mitschrift der tatsächlichen Vorgänge waren, betrachtet als Momente im Prozeß der inneren Befreiung und Selbsterkennung der Arbeiterklasse."[6]

Die Fabrikrätebewegung 1920 war der Höhepunkt der revolutionären Bewegung. Gleichzeitig markierte sie auch den Beginn des revolutionären Abschwungs. Das Kapital holte zum Gegenschlag nach der Devise Zuckerbrot und Peitsche aus: Während die gegründete Bereitschaftspolizei Guardia Regia für die Peitsche verantwortlich war, sicherte die Regierung eine Art Mitbestimmung der Arbeiter in paritätischen Kommissionen zu und die Räte wurden als Stabilisierungselement des industriellen Friedens anerkannt. "Freiwillig gingen die Arbeiter", schreibt der Anarchist Erich Mühsam zehn Jahre später, "aus den Betrieben, aus denen sie keine Gewalt heraustreiben konnte."[7]

In den folgenden Jahren zertrümmerte der italienische Faschismus alle Organisationen der Arbeiterklasse, um ein erneutes Aufflammen der Streik- und Rätebewegung unmöglich zu machen.

Pessimismus des Verstandes: Die Vorherrschaft des Kapitals

Solange sich die Arbeiter als Klasse über ihre Möglichkeiten eine andere Welt zu erkämpfen nicht bewußt sind, können sich die Herrschenden erfolgreich gegen Revolutionen absichern. Für den Kapitalismus ist unter diesen Bedingungen keine Krise ausweglos. Gramsci nannte eine solche Situation, in der "das Alte stirbt, und das Neue nicht entstehen"[8] kann, eine organische Krise.

Er stimmte mit Marx darin überein, daß das Haupthindernis, welches der Selbstemanzipation der Arbeiterklasse im Wege stünde, die Tatsache sei, daß die "herrschenden Ideen [...] stets nur die Ideen der herrschenden Klasse"[9] sind.

Wie kann sich aber die Arbeiterklasse in einem gesellschaftlichen Gefüge selbst befreien, in dem die herrschende Macht so unterschwellig und durch tägliche Gewohnheiten verbreitet wird und in unsere Erfahrungen vom Kindergarten bis zur Leichenhalle eingeschrieben ist?

Wie können wir gegen ein Herrschaftssystem kämpfen, das zum allgemeinen Konsens geworden ist und das selbst von den Unterdrückten nicht unbedingt als fremd und repressiv wahrgenommen wird?

Hegemonie - die Befestigungssysteme der Herrschaft

Eine Schlüsselkategorie in den Schriften Gramscis ist die der Hegemonie, die Vorherrschaft der herrschenden Klasse über alle gesellschaftlichen Bereiche.

Hegemonie ist ein Verfahren, durch das die herrschende Klasse Zustimmung zu ihrer Herrschaft erlangt. Gramsci unterschied hier zwischen Zwang und Gewalt einerseits und spontanem Konsens und Zustimmung andererseits.

Er verortete die Hegemonie der herrschenden Klasse in der Zivilgesellschaft, womit er die Institutionen und Formationen meinte, die zwischen Staat und Wirtschaft geschaltet sind: Medien wie Fernsehsender und Zeitungen, Familie, politische Parteien, Pfadfinder, Kirche, Schulen, nationale Feiertage, Kultur- und Sportvereine, usw. All dies zähle zu den hegemonialen Instrumenten, welche die Menschen eher durch Zustimmung als durch Zwang an die herrschende Macht binden.

Das bedeutet, daß die Hegemonie sich in der Art und Weise realisiere, wie sich Menschen täglich ihr Leben in dieser Gesellschaft einrichten und organisieren. Und sie komme in dem Glauben zum Ausdruck, daß Spezialisten die gesellschaftlichen Probleme am besten meistern können.

Die herrschende Klasse könne die freiwillige Zustimmung zu ihrer Macht mit ideologischen, institutionellen, politischen und ökonomischen Mitteln herstellen. So kann sie zum Beispiel einige Forderungen der Arbeiter erfüllen oder das Steuersystem zum Vorteil für eine Gruppe verändern, deren Unterstützung sie bedarf.

Auch das parlamentarische System sei eine wichtige Säule der herrschenden Hegemonie, da es die Illusion fördere, daß wir uns selbst regieren. Das ist etwas, was von den Unterdrückten der Vergangenheit, den Sklaven in der Antike und mittelalterlichen Leibeigenen, nicht erwartet wurde.

Gramsci nannte den Staat mit seinen Repressionsinstrumenten eine "mit Zwang gepanzerte Hegemonie"[10]: Die Armee, Polizei und Gerichte müßten ein gewisses Maß an Zustimmung aus der Bevölkerung erhalten, um effektiv funktionieren zu können.

Hegemonie sei allerdings nichts, was für immer und ewig gleich bleibe. Sie müsse sich ständig erneuern und verändern. Sie ist ein umkämpftes Feld zwischen den Klassen, ihren widersprüchlichen Interessen und Lebensweisen.

Optimismus des Willens: Strategien für eine andere Welt

Um die Mehrheit für eine revolutionäre Perspektive zu gewinnen und die herrschende Hegemonie zu überwinden, analysierte und entwickelte Gramsci verschiedene Strategien. Er glaubte, daß es keine allgemein gültige Formel für einen erfolgreichen Kampf geben könne, daß sich die Form des Kampfes um Befreiung an die jeweilige Situation anpassen müsse.

Ähnlich wie andere Denker seiner Zeit war auch Gramsci in der Verwendung seiner Begriffe stark von der durch den Weltkrieg militarisierten Gesellschaft geprägt. So verglich er die Taktik der revolutionären Partei Bolschewiki am Beginn der russischen Oktoberrevolution 1917 mit einem "Bewegungskrieg": Dort wo man an schwachen Punkten überraschend angriff, können schnelle und weitreichende Erfolge in strategischer Richtung erreicht werden. Die Revolution konnte im instabilen und vom feudalen Zarenreich geprägten jungen Kapitalismus relativ schnell siegen.

In den Zivilgesellschaften der westlichen Industriestaaten hätten sich jedoch "komplexe und gegen katastrophale 'Einbrüche' des unmittelbaren ökonomischen Elements (Krisen, Depression, usw.) widerstandsfähige Strukturen herausgebildet".[11]

Die hegemonialen Strukturen, die mit "gewaltigen Schützengräben und Befestigungsanlagen"[12] vergleichbar seien, bedingten das Wechselspiel von Teilerfolgen und Niederlagen und machen das Übergehen zur Taktik des "Stellungskrieges" solange erforderlich, bis die Zustimmung zum kapitalistischen System in großen Teilen der Bevölkerung in antikapitalistisches Bewußtsein und dem Wunsch nach Selbstbestimmung umschlage.

Der "Stellungskrieg" sei ein Prozeß zur Organisation und Festigung der eigenen Kräfte, zur Verteidigung und Ausweitung des bisher Erreichten. Er sei ein ausdauernder ökonomischer, politischer und zugleich ideologischer Kampf zur Durchdringung der Gesellschaft mit anderen Inhalten und alternativen Lösungsansätzen, um in Teilkämpfen die Hegemonie der Herrschenden und den Einfluß der Bürokratie der Arbeiterorganisationen auf die Arbeiterbewegung zurückzudrängen.

Der Funktion des "Stellungskriegs" im Klassenkampf ist also der kollektive Kampf der Masse um (Teil-)Forderungen. Durch diese Auseinandersetzungen wiederum sammeln die Arbeiter gemeinsam Kampferfahrung und werden sich ihrer gemeinsamen Interessen als Klasse bewußt und beginnen, sich als Klasse für sich selbst zu organisieren. Neben der Bedeutung, die diese Kämpfe zur Entwicklung des Klassenbewußtseins besitzen, tragen sie zur Verbesserung der Lebensqualität bei und führen damit zur Verbesserung der Kampfbedingungen.

Um das auf die heutige Zeit zu übertragen: Gegenhegemonie entsteht über soziale Proteste und die Verankerung politischer Alternativen in der breiten Bevölkerung. Die neue Linkspartei Arbeit und soziale Gerechtigkeit könnte so eine wichtige Rolle in der Verteidigung sozialer Errungenschaften spielen und ist ebenso wie die ökonomischen Kämpfe der Arbeiter (Kampf um den Arbeitsplatz, gegen Arbeitszeitverlängerung oder für mehr Lohn) und den politischen Protestbewegungen (wie z.B. die Proteste gegen die Privatisierung des öffentlichen Dienstes, gegen Studiengebühren, gegen Krieg und Aufrüstung) Teil der Gegenhegemonie. Darüber hinaus hat die Wahlalternative die Chance, den lähmenden Einfluß der SPD auf die Gewerkschaften zu brechen und parlamentarischer Ausdruck der sozialen Proteste zu werden.

Um die Schwächung des kapitalistischen Systems zu erweitern und die Wiederbelebung der politischen Arbeiterbewegung zu begünstigen, müßten sich, so Gramsci, revolutionäre Sozialisten an den Protesten aller Unterdrückten beteiligen, sie so wirksam wie möglich unterstützen und sie in den Kontext des Klassenkampfes stellen. Sozialisten müssen sich daher in Gewerkschaften ebenso engagieren wie in Parlamentsfraktionen, Vereinen, Zusammenschlüssen der globalisierungskritischen Bewegung, Kulturorganisationen, Jugendverbänden, usw.

Sozialismus fällt nicht vom Himmel

Oft wurde Gramsci an der Frage der Gegenhegemonie mißinterpretiert - man machten aus dem überzeugten Revolutionär einen Reformisten.[13] Seine Vorstellung hatte jedoch wenig mit der parlamentarischen Arbeit von sozialdemokratischen Parteien gemein. Auch ging es ihm um vielmehr als die Schaffung von intellektueller Hegemonie. Damit sich die Gegenhegemonie durchsetzt und der Sozialismus schließlich entstehen kann, bedarf es einer Revolution der Mehrheit im Interesse der Mehrheit.

Um diese zu erreichen, brauche es ein Zentrum der Gegenhegemonie: "Das Element der 'Spontaneität' genügt für den revolutionären Kampf nicht", es führe die Arbeiterklasse niemals über die Grenzen der jetzigen kapitalistischen Gesellschaft hinaus. "Dafür ist das Element des Bewußtseins notwendig, das 'ideologische' Element, das heißt das Verstehen der Bedingungen, unter denen der Kampf geführt wird."[14]

Die revolutionäre Partei, Gramsci nannte sie auch den "kollektiven Intellektuellen", war für ihn das Zentrum der Gegenhegemonie und der Ort, an dem die Kampfbedingungen analysiert und Strategien entwickelt werden sollten.

Sie ist eine auf festen Grundsätzen basierende Organisation, in der sich revolutionäre Sozialisten unabhängig organisieren, aber organisch mit der Arbeiterklasse verbunden sein müssen, um so in der Lage zu sein, aus den Kämpfen der Arbeiter zu lernen, sie zu verallgemeinern und für zukünftige Kämpfe fruchtbar zu machen.

Alleine machen sie Dich ein!

Gramsci setzte Lenins Konzeption der revolutionären Partei als das Instrument der Arbeiterklasse zur Selbstbefreiung in den Kontext seiner Theorie von Klassenbewußtsein und Hegemonie. Für Gramsci und Lenin[15] war das revolutionäre Organisationsprinzip nichts Statisches, die Konzeption nichts Dogmatisches. Vielmehr müsse sich die Organisationsform den konkreten Bedingungen von Zeit und Raum anpassen.

Gramsci kritisierte in seinen Artikeln über die Partei immer wieder die weit verbreitete Auffassung, daß die Masse ein passives Material sei und daß ihr das revolutionäre Bewußtsein durch die intellektuelle Führungsschicht der Partei von außen eingetrichtert werden müsse.

Die Partei, meinte er, sei nicht eine von der Arbeiterklasse getrennte oder über ihr stehende Organisation, sondern Teil der Klasse - sie sei die "organisierte Abteilung"[16], in der sich die fortschrittlichsten Arbeiter organisieren. Dies seien diejenigen, die von den herrschenden Ideen am unabhängigsten sind und ein Bewußtsein über ihre Rolle und Funktion in der bürgerlichen Gesellschaft besitzen.

Diese Arbeiter nennt Gramsci "organische Intellektuelle". Sie seien das Verbindungsglied zwischen der revolutionären Partei und der unorganisierten Arbeiterklasse, zwischen der Philosophie der Praxis und dem politischem Tageskampf.

Der organische Intellektuelle sei der in der Arbeiterklasse und ihrer Lebensweise verwurzelte Sozialist, der dem lebensweltlichen Bewußtsein des Arbeiters Zusammenhang und Form geben könne, und so revolutionäre Theorie und tagespolitische Praxis verbinde.

Innerhalb und außerhalb der Partei sei es notwendig, sich auf den allgemeinen Grundsatz zu stützen, daß "die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler eine aktive und wechselseitige ist, so daß jeder Lehrer immer auch Schüler und jeder Schüler ein Lehrer ist."[17]

Die Mitglieder der Partei sollten nicht blind Anweisungen von oben befolgen, sondern müßten aktiv in Debatten und Diskussionen eingreifen und Strategien und Taktiken befolgen, die sie selbst nicht nur verstehen, sondern auch mitformuliert haben. Der demokratische Zentralismus würde so nicht nur kontinuierlich zu einer Anhebung des intellektuellen und politischen Niveaus führen, sondern auch der Bürokratisierung entgegenwirken.

Solange es einer Klasse nicht gelinge, ausreichend eigene organische Intellektuelle zu entwickeln, würde sie von den Intellektuellen anderer Klasse in deren ideologische Hegemonie eingebunden.

Die ökonomische, politische und ideologische Front des Kampfes für eine andere Welt werden für die revolutionäre Partei zu einer einzigen, so Gramsci. Es sei "notwendig, daß die Partei ständig in die unmittelbare Realität des vom Industrie- und Landproletariat ausgetragenen Klassenkampfes einbezogen lebt, seine verschiedenen Phasen, verschiedenen Epochen, vielfältige Äußerungen einzuschätzen versteht, um aus der mannigfachen Verschiedenheit die Einheit zu bilden und so in der Lage zu sein, die Gesamtheit der Bewegung eine wirkliche Richtlinie zu geben", um so den Menschen Mut zu geben, "daß es in der gegenwärtigen schrecklichen Unordnung eine Ordnung gibt, welche mit ihrer Verwirklichung die menschliche Gesellschaft regenerieren wird"[18] und die Arbeit endlich zu dem Mittel machen wird, mit dem Menschen nicht nur ihre materiellen Bedürfnisse befriedigen, sondern sich selbst als Menschen verwirklichen können.

Eine Ordnung, wo die freie Entwicklung eines jeden, die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.[19]

Anmerkungen:

[1] Vgl. Antonio Gramsci: Gefängnishefte. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 6, Hamburg 1994, S. 1474 f.; vgl. auch MEW Bd. 2, S. 126 und MEW Bd. 40, S. 553.

[2] Antonio Gramsci: Philosophie der Praxis. Eine Auswahl, Ff/M. 1967, S.65.

[3] Antonio Gramsci: L'Ordine Nuovo 1919-20, Turin 1984, S. 239.

[4] Antonio Gramsci: La costruzione del Partido communista 1923-26, Turin 1974, S. 250.

[5] Antonio Gramsci: Zu Politik, Geschichte und Kultur, Leipzig 1980, S. 56.

[6] Antonio Gramsci: L'Ordine Nuovo 1919-20, Turin 1984, S. 622.

[7] Erich Mühsam: Die italienischen Fabrikbesetzungen 1920. In: Fanal, 5 Jg., Okt. 1930.

[8] Antonio Gramsci: Quaderni del carcere, Turin, 1975, S. 311 f.

[9] MEW, Bd. 4, S. 480.

[10] Antonio Gramsci: Quaderni del carcere, Turin, 1975, S. 764.

[11] Antonio Gramsci: Zu Politik, Geschichte und Kultur, Leipzig 1980, S. 270. (Gramsci bezieht sich in der Entwicklung seiner Kategorien "Stellungskrieg" und "Bewegungskrieg" auf eine Rede Leo Trotzkis vom 14.11.1922 auf dem IV. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale. Trotzki sagte, daß auf die verhältnismäßig leichte Eroberung der Macht durch die organisierte Arbeiterklasse am 7.11.1917 der Bürgerkrieg folgte und eine Veränderung der Strategie der Bolschewiki erforderlich machte. Dieser Situation stellt Trotzki die Umstände des Kampfes der Arbeiterklasse in Westeuropa entgegen, wo die Kämpfe früher auftreten würden. Vgl. Ebenda, S. 271 und S. 378)

[12] Antonio Gramsci: Marxismus und Kultur. Ideologie, Alltag und Literatur, Hamburg 1983, S. 96.

[13] Eine Quelle der ebenso unterschiedlichen wie auch zahlreichen Interpretationen der Ideen Gramscis speist sich aus seinen zweideutigen Metaphern. Eine weitere daraus, daß angenommen werden kann, daß die häufig rezipierten Gefängnishefte nur als vorläufige Stufe der Selbstverständigung Gramscis betrachtet werden können. Vgl. Christian Riechers: Antonio Gramsci. Marxismus in Italien, Ff/M. 1970 und Antonio Gramsci: Philosophie der Praxis. Eine Auswahl, Ff/M. 1967, S. 14.
Eine Darstellungen der Verzerrungen Gramscis durch stalinistische, sozialdemokratische und eurokommunistische Strömungen findet sich in: Chris Harman: Gramsci gegen Reformismus, London 1977, online unter: http://www.sozialismus-von-unten.de/archiv/text/gramsci_harman.htm

[14] Antonio Gramsci: Zu Politik, Geschichte und Kultur, Leipzig 1980, S.117.

[15] vgl. Lenin Werke, Bd. X, S. 113 ff., S. 138 und Bd. XXX, S. 22 f.

[16] Antonio Gramsci: Zu Politik, Geschichte und Kultur, Leipzig 1980, S. 111.

[17] Antonio Gramsci: Selections from the Prison Notebooks, London 1971, S. 350.

[18] Antonio Gramsci: Zu Politik, Geschichte und Kultur, Leipzig 1980, S.60.

[19] vgl. MEW Bd. 3, S. 424 f., MEW Bd. 4, S. 482 und MEW Bd. 23, S. 618. 1

Dieser Artikel ist zuerst erschienen in: Linksruck Argumente, Heft Nr. 6, Februar 2005.


Quelle: http://www.sopos.org/aufsaetze/420fc8b77c35c/1.phtml

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