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  Ökonomie   

 


Prof. Klaus Peter Kisker, Februar 1991

Referat auf der Abteilungsversammlung in Dahlem am 13.2.91 - Kurzfassung

Der Kapitalismus siegt überall - Wie krisenhaft ist die Wirklichkeit?

Die von Marx beschriebene zivilisatorische Funktion des Kapitalismus ist nicht zu bestreiten. Der Kapitalismus hat sich in seiner rund 160jährigen Geschichte als ein dynamisches Wirtschaftssystem erwiesen. Die Entwicklung der Produktivkräfte erfolgte nirgendwo schneller, das wirtschaftliche Wachstum war nirgendwo stärker. Auf seinem Boden konnte eine Arbeiterbewegung entstehen, der es in langen und zähen gewerkschaftlichen Kämpfen gelang, die materielle Lage der abhängig Beschäftigten. in den hochindustrialisierten Ländern deutlich zu verbessern.

Aber die große Koalition von Jelzin über Glotz, Lafontaine und Blüm bis hin zu den sogenannten Neokonservativen, alle, die heute von dem Sieg des Kapitalismus über den Sozialismus sprechen, machen zwei bemerkenswerte Fehler:

- Sie übersehen, daß im Osten nicht der Sozialis- mus, sondern eine Mischung aus Feudalismus mit sozialistischen Versatzstücken in eine Krise geraten ist

- und sie leisten eine beachtliche Verdrängungsarbeit indem sie die Warnsignale, die das Ende der zivilisatorischen Funktion der kapi- talistischen Systeme anzeigen übersehen.

Verdrängt werden die konjunkturellen Krisen, verdrängt wird, daß selbst in den reichsten Industrienationen Massenarbeitslosigkeit und Verarmung dramatisch zunehmen, verdrängt werden die von den kapitalistischen Ländern verursachten ökologischen Katastrophen und die zunehmende Verarmung der Dritten Welt mit den dort verhungernden Menschen.

Durch eine relativ lange, aber auf brüchigem Boden stehende Prosperitätsphase wird zur Zeit verdeckt, daß sich der Kapitalismus seit Mitte der 70er Jahre weltweit in einer überzyklischen strukturellen Überakkumulationskrise befindet.(1) Zyklische Krisen sind nichts Neues. Sie treten mit großer Regelmäßigkeit seit etwa 160 Jahren in allen kapitalistischen Ländern auf.(2)

Die ökonomischen Daten der USA, GB und vieler anderer Länder signalisieren den Beginn einer Rezession. Auch in der BRD mehren sich - trotz vieler Sonderfaktoren die Krisenzeichen. Aber wenn wir von Krise sprechen, dürfen wir nicht nur die kurzfristigen zyklischen Schwankungen betrachten. Wichtiger sind die längerfristigen krisenhaften Entwicklungen. im Unterschied zu früheren Aufschwungsphasen sehen wir seit der Mitte der 70er Jahre:

- daß die Wachstumsraten in den Aufschwüngen deutlich hinter den früheren zurückbleiben,

- daß die Arbeitslosigkeit im Zuge des Auf- schwunges nicht abgebaut wird,

- daß die Armut auch in den reichen Ländern zunimmt,

- daß in den Aufschwungphasen eine massenhafte Kapitalvernichtung insbesondere durch Fusionen mit Stillegungen und eine in dieser Rigorosität noch nie zu beobachtende Verdrängungskonkurrenz eingesetzt hat und

- daß trotz dieser Kapitalvernichtung Überkapazitäten über den Zyklus hinweg bestehen bleiben (3),

Diese neuen Phänomene zeigen sich insbesondere in den USA. Sie sind Zeichen eines Strukturbruches in der längerfristigen Entwicklung des Kapitalismus.

Jede Belebung begann bis in die siebziger Jahre mit einer Erneuerung des Maschinenparkes. In jeder Prosperitätsphase wurden zusätzliche, technisch fortschrittlichere Anlagen installiert. In jedem Abschwung wurde ein Teil der Produktionsmittel entwertet. Die Folge war, am Beginn jedes neuen Zyklus standen mehr und technologisch wirkungsfähigere Anlagen bereit, als zu Beginn des vorangegangenen. Für die längerfristige Entwicklung hieß das: gemäß der technischen Entwicklung wuchs die Mehrwertrate, gemäß des Wachstums des Kapitals wuchs die Profitmasse und gemäß des Ersatzes von Menschen durch Maschinen fiel die Profitrate. Diese Tendenz der längerfristig, d.h. über die konjunkturellen Schwankungen hinweg, fallenden Profitrate, hat zwar zu immer stärkeren Klagen der Industrie geführt, war aber solange für den Bestand des kapitalistischen Systems unproblematisch, wie die fallenden Profitraten durch steigende Profitmassen kompensiert werden konnten.

Neu ist nun seit Mitte der siebziger Jahre, daß die längerfristige Akkumulationsrate, das heißt, das neue, zusätzlich gebildete Kapital, gesamtgesellschaftlich und tendenziell gesehen, nicht mehr ausreicht, den Fall der Profitrate zu kompensieren. Die Akkumulationsrate fällt stärker als die Profitrate, weil die Ausgangsmenge an Kapital immer größer geworden ist. Die Folge ist, seit Mitte der siebziger Jahre sinken in längerfristigen Trend nicht nur die Profitraten, sondern es sinkt auch die gesamtgesellschaftliche Profitmasse.(4) So, und nur so, ist zu erklären,

- daß die Unternehmer versuchet?, ihre Realinves- titionen einzuschränken und auf Ersatz- und Rationalisierungsinvestitionen zu beschränken,

- daß sie zu Lasten der Realinvestitionen riesige Geldkapitale bilden und

- eher andere Firmen aufkaufen, als die Gewinne zum Ausbau bestehender Unternehmen zu verwenden.

Diese als Strukturelle Überakkumulation bezeichnete längerfristige Entwicklung bedeutet eine Bedrohung für den Fortbestand des kapitalistischen Systems. Es ist logisch, daß das System als Ganzes wie jedes Einzelkapital für sich versuchen muß, diese Entwicklung zumindest abzubremsen.

Die Schumpetersche Frage, "Kann der Kapitalismus weiterleben?", ist im Unterschied zu ihm zwar nicht einfach mit Nein zu beantworten.(5) Der Kapitalismus ist dank seiner inneren Flexibilität und Regenerations- fähigkeit nicht am Ende, aber, ähnlich wie der Feudalismus im 18.Jahrhundert, längst an seine zivilisatorischen Schranken gestoßen. Das heißt, er wird bei zunehmender gesellschaftlicher Irrationalität zu einem das Überleben der Menschheit gefährdenden Leviatan.

1 Die gegenwärtige Entwicklung (1991) ist noch durch zwei Besonderheiten bestimmt: 1987 haben sich die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft verpflichtet, bis Ende 1992 den Europäischen Binnenmarkt zu schaffen. Dieser Beschluß hat 1978 ein "Gründungsfiebern", ähnlich wie nach 1871/71, ausgelöst. Durch die Umwälzungen in Ost-Europa hat dieses "Gründungsfieber" einen zweiten Schub erhalten.

2 Auch die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, die in der Bundesrepublik mit dem irreführenden, verklärenden Namen Wirtschaftswunder bezeichnet wurde, war nicht frei von solchen Schwankungen.

3 Nach der Krise 1974/75 stagnierte die Kapazitätsauslastung drei Jahre bei rd. 80% und erreichte 1979 mit 84,5% ihr Maximum. In dem gegenwärtigen Zyklus lag sie bis 1987 unter 85%, erst dann stieg sie auf Grund des "EG-Gründungsfiebers".

4 Das seit Mitte der 80er Jahre zu beobachtende Ansteigen der Profitrate ist eine nicht zu der Trendaussage im Widerspruch stehende zyklische Bewegung. Außerdem ist bei der Interpretation der Daten zu berücksichtigen, daß die Steigerung der Gewinne insbesondere auf den Steuerentlastungen und der Umverteilung zu Lasten der Löhne beruht.

5 Siehe Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Bern 1950, S. 105



Quelle: MAK-Rundbrief (Marxistischer Arbeitskreis der SPD), Februar 1991


 




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