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Jörg Huffschmid (1997)
"Dominanz globalisierter Finanzmärkte": Politische
Kapitulation statt ökonomisches Gesetz
Wer von Finanzmärkten redet, handelt vom Gipfel der Globalisierung.
Diese ist als überwältigende Entwicklung der Welt seit
Beginn der 80er Jahre ins Bewußtsein der Öffentlichkeit
gehämmert und mit Hinweisen auf offensichtliche Entwicklungen
belegt worden: Der internationale Handel mit Gütern und Dienstleistungen
ist schneller gewachsen als die Weltproduktion; die ausländischen
Direktinvestitionen haben stärker zugenommen als der Außenhandel;
transnationale Konzerne produzieren zunehmend in international
vernetzten Zusammenhängen. Die Transaktionen auf den internationalen
Finanzmärkten aber sind geradezu explodiert und haben schwindelerregende
Höhen erreicht. Unvorstellbare Geldmengen und Unvorstellbare
Geschwindigkeit: Das ist der Stoff, aus dem die Finanzmärkte
sind. Jeder kennt die 1,3 Billionen Dollar, die 1995 täglich
an den Devisenmärkten umgesetzt wurden. Jeder ahnt die power
jener zehn Mrd. Dollar, die von New York nach Tokio geschoben
werden und innerhalb einer Stunde nach New York zurückkommen
und von diesem roundtrip zehn Millionen Dollar Profit mitbringen.
Kein Wunder, daß gegen diese Macht der Finanzmärkte
kein Kraut gewachsen scheint. Wer sich den Finanzmärkten
zu widersetzen versucht, den bestrafen sie blitzschnell durch
Kapitalflucht mit ruinösen Folgen für Währung,
Wachstum und Wohlstand.
Hinsichtlich Außenhandel, Direktinvestitionen und internationaler
Produktion ist die Globalisierungsdiskussion mittlerweile in nüchternere
Bahnen eingemündet.(1) Sie stellt die Zunahme des Internationalisierungsgrades
der Wirtschaft während der letzten 20 Jahre nicht in Frage,
relativiert aber ihren Stellenwert und ihren Neuigkeitscharakter.
Der große Schub beim internationalen Handel erfolgte nicht
erst ab 1980, sondern schon in den 60ern und 70er Jahren, kann
also nicht als neue Qualität der Globalisierung herhalten.
Die ausländischen Direktinvestitionen entwickelten sich seit
Mitte der 80er Jahre besonders dynamisch, machten aber im Weltdurchschnitt
in der ersten Hälfte der 90er Jahre doch nicht mehr als 4,2%
aller Investitionen auf der Welt und 5,5% aller Investitionen
der entwickelten Länder aus.(2) Wie der internationale Handel
sind auch die internationalen Direktinvestitionen nicht global:
Zum einen finden beide hauptsächlich zwischen den entwickelten
OECDLändern statt, der größte Teil der Menschheit,
nämlich die Menschen der Dritten Welt, sind weitgehend von
ihnen ausgeschlossen. Zum anderen bilden sich innerhalb der OECD
in den 90er Jahren verstärkt (drei) regionale Zentren
die sog. Triade heraus, die intraregionale Verflechtung wächst
viel schneller als die interregionale. Die Verlagerung der Produktion
in Niedriglohnländer findet in Einzelfällen statt, ist
aber eher ein Randphänomen.(3) "Alles in allem kann
man trotz der Öffnung Osteuropas nicht pauschal
davon sprechen, daß es in den letzten Jahren einen Globalisierungsschub
gegeben hätte."(4) Auch bei den Finanzmärkten ist
ein nüchterner Blick angebracht. Er wird das Phänomen
ihrer rasanten Entwicklung nicht bestreiten. Er soll aber genauer
untersuchen, um welche Märkte und Teilmärkte es eigentlich
geht (1), welches der ökonomische und vor allem politische
Hintergrund für ihre schnelle Entwicklung ist (2), welche
Probleme sich heute ähnlich wie oder anders als früher
stellen (3) und schlagwortartig wo die politischen
Handlungsperspektiven hegen (4).
1. Finanzmärkte: Abteilungen und Entwicklungen
Finanzmärkte lassen sich schematisch in vier unterschiedliche
Teilmärkte aufgliedern, die unterschiedliche ökonomische
Funktionen haben und für die unterschiedliche Ablaufmuster
bestehen, die allerdings nicht ohne gegenseitige Rück
und Wechselwirkungen sind:
1. Die Finanzierungsmärkte oder Primärmärkte
dienen traditionellerweise der Finanzierung von Unternehmensinvestitionen
oder von Staatsausgaben (gelegentlich auch von Konsumgüterkäufen):
Geldeinkommen, die von Haushalten nicht für den Verbrauch
oder von Unternehmen nicht für Investitionen oder den laufenden
Betrieb ausgegeben werden, also die Ersparnis einer Volkswirtschaft,
sollen über die Institutionen der Finanzmärkte an (andere)
Unternehmen oder an die öffentliche Hand weitergeleitet und
dort zu privaten oder öffentlichen Investitionen verwendet
werden und somit die gesamtwirtschaftliche Nachfrage aufrechterhalten.
Zur Ankurbelung des Wirtschaftswachstums ist ferner zusätzliche
monetäre Nachfrage erforderlich, die durch Kreditschöpfung
geschaffen wird. Diese Finanzierung von Investitionen und Staatsausgaben
über die Finanzmärkte erfolgt auf drei Hauptwegen (und
zahlreichen weiteren Pfaden, die diese Wege kreuzen, verbinden
und mit einer Unzahl von Finanzinnovationen ausgestalten): die
Gewährung von Bankkrediten, die Ausgabe von Unternehmensanteilen
(i.d.R. Aktien), und die Auflage von Anleihen. Für die Unternehmen
sind die beiden ersten Wege die Regel, die Verschuldung von Regierungen
erfolgt üblicherweise über Anleihen. Dabei kann es natürlich
zu Fehlkalkulationen und Schwindelgeschäften kommen, die
mit Konkursen, Bankenkrach und Gläubigerverlusten enden.
Die Vermittlung von Defizitsektor (der Geld braucht) und Überschußsektor
(der Geld übrig hat) ist in einer wachsenden Wirtschaft kein
Problem, in der die Ersparnisse voll absorbiert werden. Prinzipiell
problematisch wird es erst, wenn der Überschußsektor
dauerhaft mehr Finanzmittel bereitstellt, als die Unternehmen
nachfragen und wenn die öffentliche Hand daran gehindert
wird, dieses Geld aufzunehmen und auszugeben.
Der Umfang dieser güterwirtschaftlich relevanten externen
Finanzierungsvorgänge kommt im Wert der zu einem bestimmten
Zeitpunkt ausstehenden Bankkredite bzw. der Ausgabekurse von Anleihen
und Aktien zum Ausdruck. Dieser Wert hat sich weltweit von 1982
bis 1992 von 15,0 Billionen auf 43,8 Billionen Dollar fast verdreifacht.(5)
Sein Wachstum ist hoch, aber nicht so hoch wie das der Direktinvestitionen,
die in der gleichen Zeit auf mehr als das Dreifache gestiegen
sind. Der Umfang der Finanzierungen entsprach 1982 knapp dem Doppelten
des OECDBruttoinlandsproduktes (8,8 Billionen Dollar), 1992
gut dem zweieinhalbfachen des OECDBIP (17,3 Billionen Dollar).(6)
Zwischen 1982 hat sich die Struktur des Finanzierungsmarktes zu
Lasten des Bankensektors verschoben: Während sein Anteil
an den Finanzierungen der Welt von 59,2% auf 44,9% zurückging,
nahm der Anteil des Kapitalmarktes entsprechend von 40,8% auf
55,1% zu, darunter Aktien von 18,2% auf 25,6%, Anleihen von 22,6%
auf 29,7%. Interessant ist, daß in diesen zehn Jahren der
Internationalisierungsgrad neuer Finanzierungen nicht gestiegen,
sondern leicht gesunken ist: Lag er 1982 bei 19,5% (wobei 17,8%
auf internationale Bankkredite entfielen), so war dieser Anteil
1992 auf 18,1% gesunken (14,0% Bankkredite), während sich
der Anteil der international aufgelegten Anleihen von 1,7% auf
3,9% verdoppelte, aber immer noch relativ gering blieb.(7)
Nach wie vor werden Anleihen überwiegend von öffentlichen
Körperschaften aufgenommen: Vom Weltbestand aller Anleihen
in Höhe von 26,9 Billionen Dollar waren Ende 1995 rund 61%
von öffentlichen Stellen aufgelegt worden, und dies zu 94%
im jeweiligen Inland. Auch für 1995 neu aufgelegte Anleihen
lag der Inlandsanteil bei 92,3%.(8)
2. Die Sekundärmärkte, auf denen bereits bestehende
Finanzierungsinstrumente gehandelt werden, also Aktien und
Anleihen sowie in sehr viel geringerem Umfang bereits
bestehende Kredite (die zu diesem Zweck allerdings erst in handelbare
Titel verwandelt d.h. "verbrieft" werden müssen).
Hinweise auf die Größe und Entwicklung dieser Märkte
geben die Umsätze an den Börsen. Sie untertreiben den
wirklichen Umfang allerdings deshalb, weil ein erheblicher Teil
des Wertpapierhandels unmittelbar, ohne Dazwischenschalten einer
Börse (OTC=over the counter), stattfindet. Der börsentägliche
Umsatz mit Aktien betrug 1992 rund 30 Mrd. Dollar, bei Anleihen
belief er sich auf rund 200 Mrd. Dollar. Bei 250 Börsentagen
ist das ein Jahresumsatz von 7,5 Billionen bei Aktien und 50,0
Billionen Dollar bei Anleihen. Die Wachstumsrate des Umsatzes
zwischen 1980 und 1992 betrug jahresdurchschnittlich für
Aktien und Anleihen jeweils zehn Prozent und lag damit weit über
der von Exporten und Produktion.(9) Interessant ist für die
aktuelle Diskussion, daß die Umschlaghäufigkeit von
Wertpapieren in diesem Jahrzehnt nicht zugenommen, sondern abgenommen
hat: 1982 wurde im Weltdurchschnitt jede Aktie alle 11 Monate
gehandelt, zehn Jahre später nur noch alle 17 Monate. Bei
Anleihen war das Umschlagstempo erheblich höher, ist aber
auch zurückgegangen: Jede Anleihe wechselte 1982 im Durchschnitt
jeden zweiten, zehn Jahre später jeden dritten Monat die
Hand.
Traditionellerweise fördert der Handel mit Aktien die Konzentration
und Zentralisation von Kapital und erleichtert insgesamt die Umstrukturierung
des Unternehmenssektors: Unternehmen kaufen die Aktien ihrer Konkurrenten
an den Börsen oder im Pakethandel auf, gliedern sich neue
Unternehmen an, stoßen andere ab und bereinigen so ihre
Unternehmensstruktur. Daß alle derartigen Prozesse in der
Regel mit "Durchforstungen" der neuerworbenen oder abgestoßenen
Unternehmensteile verbunden sind, gehört mit zu den beabsichtigten
Begleitumständen derartiger Transaktionen. Die großen
Konzentrationswellen nach dem zweiten Weltkrieg sind im wesentlichen
über die Börse abgewickelt worden, in zunehmendem Maße
ist das auch in Deutschland der Fall, wo bislang die Tradition
des Pakethandels direkt von Käufer zu Verkäufer oder
durch Vermittlung der Hausbanken vorherrschte.
Darüber hinaus führt die Existenz von Sekundärmärkten
zur Flexibilisierung der Geldgeberseite auf den Primärmärkten:
Sie verwandeln die bei Unternehmen und Staat längerfristig
gebundenen Finanzierungsmittel in für die Gläubiger
jederzeit liquidierbare Mittel, die entsprechend nach jeweilig
wechselnden Stimmungen und Erwartungen hin und hergeschoben
werden können. Das erleichtert und fördert die Spekulation
und die Instabilität der Finanzierungsverhältnisse.
Bei Börsenkrisen und Finanzmarktcrashs erleiden zunächst
nur die Finanzanleger Verluste. Für die Schuldner haben die
Kursbewegungen ihrer Aktien oder Anleihen an den Finanzmärkten
zunächst keine unmittelbare Bedeutung, weil mit der erfolgreichen
Emission von Aktien und Anleihen der Finanzierungsvorgang zunächst
abgeschlossen ist und der Gegenwert der ausgegebenen Finalizierungsinstrumente
für Investitionen oder öffentliche Ausgaben zur Verfügung
steht. Die mittelbaren Folgen eines Kursverfalls sind allerdings
nachhaltig: Die Möglichkeiten, neue Finanzmittel über
den Kapitalmarkt aufzunehmen, sinken und die Finanzierung wird
entsprechend teurer. Daher bemühen sich Unternehmen und Regierungen
zunehmend darum, ihre Papiere attraktiv für Anleger zu machen.
Bei Unternehmen wird der "shareholdervalue" gepflegt,
für die Attraktivität öffentlicher Anleihen soll
die "Verschlankung" des Staates sorgen.
Im Zuge der Erweiterung und Diversifizierung der Wertpapiermärkte
hat auch der Handel mit kurzfristigen, dem jederzeit liquiden
Geld immer ähnlicheren, Papieren (daher Geldmarktpapiere)
enorm zugenommen. Der Geldmarkt war bis vor wenigen Jahren der
Öffentlichkeit nicht zugänglich und diente nur dem kurzfristigen
Kreditverkehr zwischen Banken untereinander und mit der jeweiligen
Zentralbank. Hierdurch haben sowohl der Umfang als auch die Instabilität
der nationalen und internationalen Finanzmärkte zugenommen.
Schließlich ist auch darauf hinzuweisen, daß das Wachstum
des Wertpapierhandels auch die Bedeutung und den Einfluß
hierauf spezialisierter Unternehmen vergrößert hat.
Die traditionellen Kreditbanken haben ihre Abteilungen für
das "Investmentbanking" ausgebaut, die Zahl und das
Vermögen der Investmentfonds haben drastisch zugenommen.
Von den Dispositionen ihrer Manager hängt das Schicksal ganzer
Branchen ab.
3. Auf den Devisenmärkten werden die Währungen
verschiedener Länder gehandelt. Durch die Preise für
nationales Geld in anderen Währungen werden die güterwirtschaftlichen
Austauschverhältnisse maßgeblich beeinflußt.
Seitdem die jeweiligen nationalen Währungen nicht mehr an
Gold gebunden sind, spielt der Devisenhandel eine wichtige Rolle
in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen; und seitdem das
System der politisch garantierten Wechselkurse (BrettonWoods)
in den 70er Jahren abgeschafft und durch ein System flexibler
Wechselkurse abgelöst worden ist, kommt es in diesem Bereich
zu mehr Unsicherheit und Risiken auf der einen und zu mehr Spekulation
auf der anderen Seite. Von ihrer ursprünglichen Funktion
bei der Finanzierung von internationalen Handels und Investitionsströmen
hat sich der Devisenhandel weit entfernt: 1995 entsprach der Umfang
des gesamten Weltexportes nur noch 1,6% des Umsatzes mit Devisen,
1977 waren es noch 28,5% gewesen.(10) Die Tatsache daß die
Devisenumsätze sich zwischen 1979 und 1995 von 30 Billionen
auf 300 Billionen Dollar verzehnfacht haben, ist also in erster
Linie auf die Zunahme der internationalen Spekulation zurückzuführen.
4. Auf dem Markt für Derivate geht es um den Handel
mit Finanzprodukten, die sich auf die künftige Entwicklung
der vorgenannten Finanzierungsinstrumente, z.B. den Kurs einer
Anleihe oder die Zinsen eines Geldmarktpapiers oder den Wechselkurs
einer Währung beziehen, also von diesen abgeleitet sind.
Derartige Geschäfte können aus drei Gründen erfolgen:
um ein Basisgeschäft abzusichern, also z.B. den Erlös
eines Exportgeschäftes, der erst nach einer bestimmten Zeit
fällig wird, gegen Wechselkursschwankungen abzusichern (Hedging);
um bestehende Ertragsdifferenzen zwischen verschiedenen
Geldanlagen (an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten)
auszunutzen (Arbitragegeschäfte);
um von einer erwarteten Veränderung (von Kursen, Zinsen
oder Wechselkursen) zu profitieren (Spekulation).
Kurssicherungsgeschäfte gibt es schon lange. Das enorme Wachstum
der Derivate hat aber erst gegen Ende der 80er Jahre begonnen.
In der Zeit von 1990 bis 1994 ist der Betrag der ausstehenden
börsengehandelten Derivate auf über das Vierfache
von 2,3 Billionen auf 9,9 Billionen Dollar gestiegen. Derivate
werden aber zum überwiegenden Teil nicht über die Börse,
sondern frei gehandelt: Hier wuchs das Volumen in sechs Jahren
auf das Siebenfache, von 3,5 Billionen auf 24,3 Billionen Dollar.
Mit 334 Billionen Dollar lag der Jahresumsatz des weltweiten Derivatenhandels
1995 noch über dem des Devisenumsatzes.(11) Derivate sind
zumeist kurzfristige Papiere. Dies kommt in ihrer Umschlaghäufigkeit
zum Ausdruck: 1996 war der Handel mit Derivaten 32,5mal so hoch
wie der Bestand am Jahresende. Durchschnittlich wurde also jedes
Papier ungefähr alle 8 Tage (250 Arbeitstage durch 32,5 Umschläge
= 7,7 Tage) umgeschlagen.
2. Politisches Zurückweichen vor ökonomischem Druck:
Ursachen für die wachsende Bedeutung der internationalen
Finanzmärkte
Entscheidend für die zunehmende Rolle der Finanzmärkte
in der Gegenwart sind einerseits die ökonomischen Akkumulationsprobleme
des entwickelten Kapitalismus ab den 70er Jahren und andererseits
die Art und Weise, wie die Wirtschaftspolitik auf diese Probleme
reagiert hat.
Die Entwicklungsblockierung der realen Akkumulation und Produktion
ist in erster Linie Resultat unzureichender gesamtwirtschaftlicher
Nachfrage, die ihrerseits durch das Zurückbleiben der vor
allem aus Löhnen gespeisten Massenkaufkraft und der durch
Steuern finanzierten Staatsausgaben hinter dem mit Profiten aufgebauten
Produktionsapparat verursacht wird. Sie hält die Unternehmen
wegen fehlender Absatzaussichten von Erweiterungsinvestitionen
ab, während aus Konkurrenzgründen unternommene Rationalisierungsinvestitionen
Arbeitsplätze vernichten und so die Konsumnachfrage weiter
vermindern. Hierauf wird hier nicht weiter eingegangen
(vgl. hierzu den Artikel von
KlausPeter Kisker in diesem Heft).
Auf diese typischen Verwertungsprobleme reagieren kapitalistische
Unternehmen auf zweierlei Weise:
Zum einen betreiben sie forciert die Internationalisierung,
d.h. den Export von Gütern und Dienstleistungen, die sie
im Inland nicht rentabel verkaufen können, sowie von Kapital,
das sie im Inland nicht verwerten können. Diese Expansion
auf den Weltmarkt findet im wesentlichen innerhalb der industrialisierten
OECDLänder statt und verschärft die internationale
Konkurrenz und gegenseitige aggressive Marktdurchdringung. Die
politische Reaktion hierauf ist die Orientierung der Wirtschaftspolitik
und der ganzen Gesellschaft auf die Förderung der internationalen
Wettbewerbsfähigkeit, durch die Kürzung von Löhnen,
Sozialabbau, Steuersenkung für die Unternehmen usw.
Die zweite Reaktion der Unternehmen besteht darin, erzielte
Profite weder im Inland noch im Ausland in Produktionsanlagen
zu reinvestieren, sondern als Finanzinvestitionen mit der Perspektive
schneller und hoher Gewinne national oder international anzulegen.
Einerseits fließen den Finanzierungsmärkten zwar weniger
Mittel aus dem Haushaltssektor zu, der wegen niedriger Einkommen
oder Sozialleistungen (Arbeitslosenunterstützung) sein Sparen
einschränkt, andererseits aber drängen die Mittel auf
die Finanzmärkte, die als Gewinne realisiert worden sind,
aber wegen fehlender Absatzaussichten nicht reinvestiert werden
und statt dessen eine rentable Anlage im nichtproduktiven
Bereich suchen.
Das führt zu einer wesentlichen Veränderung der ökonomischen
Rollenverteilung. Die Unternehmen werden ihrer traditionellen
Rolle, als Defizitsektor die volkswirtschaftliche Ersparnis aus
dem Überschußsektor Haushalte, wo sie traditionellerweise
anfällt, über den Bankenapparat abzuziehen und in Realinvestitionen
und anschließende Produktion zu verwandeln, immer weniger
gerecht. Sie werden vielmehr ihrerseits zu Überschußsektoren
und Sparern, die eine Verzinsung ihres Geldkapitals suchen, ohne
es in produktives Kapital verwandeln und in der Produktion einsetzen
zu müssen. Ihr Hang zur Finanzinvestition findet seine theoretische
Spiegelung und Weiterentwicklung darin, daß die Unterscheidung
von Sparen und Investieren aufgegeben wird und jede Art der Geldverwendung
als Investition erscheint. So werden auch die traditionellen Haushalte
mit höheren Einkommen, die sparen können, unter der
Hand zu Investoren, nämlich Anlegern ihres Geldvermögens,
für das sie hohe Renditen erwarten. Die Zunahme von Finanzinnovationen
ist mit dem Nachlassen von Wachstum und Produktion und mit steigender
Arbeitslosigkeit verbunden.
Die seit den 70er Jahren für entwickelte kapitalistische
Gesellschaften typische Situation des Übersparens bringt
insbesondere die Finanzinstitutionen in Schwierigkeiten, die in
Zeiten störungsfreien Wachstums durch Kreditvergabe oder
das Management der Erstausgabe von und den Handel mit Wertpapieren
groß geworden sind. Hierzu zählen die traditionellen
Kreditbanken, die Versicherungen (als Kapitalsammelstellen, die
immer schon Anlagepolitik betrieben haben), die Wertpapierhäuser
und die Investmentfonds. Im modernen Kapitalismus sind Finanzmärkte
Käufermärkte, auf denen Finanzinstitute versuchen, durch
das Versprechen hoher Renditen Anleger zu finden, deren Geld die
Grundlage für ihr eigenes Geschäft ist. Daß Staaten
sich wegen des niedrigen realen Wachstums und der hohen Arbeitslosigkeit
gezwungen sehen, immer mehr Schulden aufzunehmen, ist ein äußerst
glücklicher Umstand für diese Institutionen. Auch die
Privatisierung zunächst aus Steuermitteln profitabel gemachter
Staatsunternehmen ist ein zunehmend beliebtes Betätigungsfeld
für institutionelle Anleger. Schließlich sind auch
die ersten Schritte zur Privatisierung der Sozialversicherungen
in Europa im Zusammenhang mit den Expansionsstrategien nationaler
und internationaler Finanzinstitute zu sehen: Die Zusammenstellung
und Verwaltung von Pensionsfonds öffnet weitreichende Geschäftsperspektiven
für Finanzinstitute.
Zunehmende Akkumulationsprobleme als ökonomisches Grundproblem,
zunehmende Internationalisierung und Finanzinvestitionen als hauptsächliche
Reaktionen von Seiten des Kapitals, härtere internationale
Konkurrenz und größeres Gewicht des Finanzsektors
das ist das Szenario, das die gegenwärtige Situation umschreibt.
Allerdings ist dies keine Situation, die sich zwingend aus der
Logik des Kapitals ergibt. Sie ist vielmehr deshalb eingetreten,
weil sie den Interessen der großen Kapitale am meisten entsprach,
und weil sie politisch durchgesetzt werden konnte.(12)
Um aber politisch durchgesetzt werden zu können, mußten
die politischen Regulierungen beseitigt werden, die nach dem 2.
Weltkrieg im fernen Nachhall der revolutionären Stürme
Anfang der 20er Jahre, im Rückblick auf die Katastrophe der
Weltwirtschaftskrise, aus der Erfahrung des Faschismus heraus
und mit Blick auf die Systemkonkurrenz gegenüber dem Sozialismus
in der kapitalistischen Welt eingeführt worden waren
mit dem erklärten Ziel, ungezügelte Konkurrenz
und Wirtschaftskriege zu verhindern und eine primär am binnenwirtschaftlichen
Ziel der Vollbeschäftigung ausgerichtete Wirtschaftsentwicklung
durch sichere außenwirtschaftliche Rahmenbedinungen zu ermöglichen.
Die in unserem Zusammenhang wichtigsten Elemente dieser Regulierung
bestanden in einer institutionalisierten internationalen Kooperation,
die feste Wechselkurse und einen Mechanismus zu ihrer Stützung
bzw. Wiederherstellung vorsahen sowie in der allgemeinen Akzeptanz
von Kapitalverkehrskontrollen, die das jeweilige Land vor Kapitalflucht
oder Überschwemmung mit Kapital beschützen sollten.
Dieses 1944 in Bretton Woods etablierte System, das weder eine
antikapitalistische Stoßrichtung hatte noch eine Abkehr
von der Profitorientierung bedeutete, hat trotz verschiedener
praktischer und prinzipieller Schwierigkeiten bis Anfang der 70er
Jahre funktioniert und günstige internationale Rahmenbedingungen
für den Aufschwung in fast allen Ländern während
der 50er und 60er Jahre geliefert.
Als sich die ökonomischen Akkumulationsbedingungen Ende der
60er Jahre weitgehend veränderten, stand die Politik vor
einer grundsätzlichen Alternative:
Entweder der 1945 eingeschlagene Weg der Zähmung und
Reform des Systems würde weitergeführt und die politische
Regulierung national durch Stärkung der konsumtiven oder
öffentlichen Endnachfrage, Investitionslenkung, Steuerreform
zugunsten der Massenkaufkraft etc. und international
durch stärkere internationale Arbeitsteilung und Kooperation,
Entwicklungspolitik etc. verstärkt. Hierzu waren jedoch
weder die Gewerkschaften noch die Sozialdemokratie in der Lage
und auch wohl nicht bereit.
Oder aber dem Druck des Kapitals würde nachgegeben,
die Reformperspektive fallengelassen, eine mehr im Interesse des
Kapitals liegende Entwicklung zugelassen. Bekanntlich wählten
die Regierungen die zweite Alternative und wurden daran nicht
von sozialen Bewegungen gehindert. Sie öffneten damit den
Weg für ein neues "Paradigma" kapitalistischer
Entwicklung, das sich seitdem schrittweise durchgesetzt hat und
gegenwärtig die wirtschaftspolitische und gesellschaftliche
Diskussion und Praxis beherrscht.
Hierbei lassen sich für die Finanzmärkte drei Etappen
und Bereiche der politischen Veränderung feststellen, die
sich teilweise zeitlich überlappen:
Zunächst wurde das System der festen Wechselkurse,
das auch die Verpflichtung enthielt, diese auch unter Einsatz
eigener Mittel zu stützen, aufgegeben und durch ein Regime
schwankender Wechselkurse ersetzt. Die Orientierung auf einen
Ausgleich der Handels und Leistungsbilanzen wurde durch
den Kampf um Weltmarktanteile abgelöst. Dabei wurde auch
der Wechselkurs zum Konkurrenzparameter. Die internationale Währungskonkurrenz
begann und führte zu heftigen Ausschlägen, Schwankungen
und Instabilitäten. Die hiermit verbundenen Risiken für
den Außenhandel mußten durch Kurssicherung abgewehrt
werden. Dies war die Geburtsstunde der Derivate in Form der Wechselkurssicherungsgeschäfte,
die freilich sehr schnell über diesen Rahmen hinauswuchsen
und große Spekulationswellen in Gang setzten. Private Wechselkursabsicherung
verteuerte die Produktion und führte ganz im Gegensatz
zu den euphorischen Prognosen, die mit der Wechselkursfreigabe
verbunden waren zum Anstieg statt zum Sinken des Zinsniveaus:
Die langfristigen Realzinsen der G7Länder, die in der
Zeit von 1956 1973 bei 1,7% gelegen hatten, stiegen für
die Zeit von 19811993 auf 5,1%, also auf das Dreifache.(13)
Der Druck zur privatwirtschaftlichen Währungsabsicherung
führte Unternehmen und Staaten und als Dienstleistungsunternehmen
dann in besonderem Maße auch die Finanzinstitutionen
zu intensiverem Währungsmanagement durch Strukturierung und
Umstrukturierung finanzieller Portfolios. Das erforderte die Liberalisierung
grenzüberschreitender Kapitalbewegungen, die nach dem 2.
Weltkrieg weitgehend eingeschränkt waren und strenger staatlicher
Kontrolle unterlagen, um den Vorrang für binnenwirtschaftliches
Wachstum und Beschäftigung nicht zu gefährden. Der Druck,
diese Beschränkungen im Interesse größerer internationaler
Beweglichkeit und Integration abzuschaffen, nahm zu. So geschah
es(14):
1973 beseitigten Deutschland, Kanada und die Schweiz alle Beschränkungen
für internationale Kapitalbewegungen, 1974 folgten die USA,
1979 England, 1980 Japan. Erst zehn Jahre später beseitigten
Italien und Frankreich ihre Kapitalverkehrsbeschränkungen,
und seit dem 1.7.1990 ist eine entsprechende Richtlinie der EG
mit einigen Ausnahmen in Kraft, die mittlerweile ausgelaufen sind.
Damit waren auch kurzfristigen Kapitalbewegungen Tür
und Tor geöffnet, die keine Kapitallenkungsfunktion haben,
weil sie Kreislaufbewegungen sind.
Freier Zugang zu allen Geld und Kapitalmärkten
der Welt erfordert aber auch vergleichbare Bedingungen für
das Kapital in aller Welt. Geldmärkte waren jedoch seit den
30er Jahren relativ streng reguliert. Der Grund liegt zum einen
darin, daß ein funktionierendes Geldsystem als ein "öffentliches
Gut 5 betrachtet wurde, das man nicht einfach den Märkten
überlassen kann. Zum anderen hatten die Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise
in so gut wie allen Ländern zu politischen Regulierungen
geführt, die eine Wiederholung ausschließen sollten,
die aber im übrigen entsprechend den unterschiedlichen historischen
Traditionen sehr verschieden ausfielen (Trennbankensystem, Regionalprinzip,
Universalprinzip, Bankenaufsicht usw.). Diese Unterschiedlichkeit
wurde als Hindernis für den internationalen Kapitalverkehr
betrachtet. Sie wurden jedoch nicht auf einem gemeinsamen Niveau
vereinheitlicht. Statt dessen kam es zu einer weitgehenden Deregulierung
auch auf den nationalen Finanzmärkten.
Der Übergang zu schwankenden Wechselkursen, die Liberalisierung
des Kapitalverkehrs und die Deregulierung der nationalen Finanzmärkte
sind politische Maßnahmen, die unter dem Eindruck neuer
nationaler und internationaler Handlungsbedingungen und natürlich
unter dem Druck von Interessen und Interessentengruppen erfolgten,
aber keinesfalls ökonomisch unausweichlich waren. Sie wurden
deshalb durchgesetzt, weil es weder eine Alternativkonzeption
auf Seiten der fortschrittlicheren politischen und gewerkschaftlichen
Kräfte gab, noch den Willen, diese durch politischen Druck
durchzusetzen. Es spricht daher nichts gegen die Möglichkeit,
diese politische Weichenstellung durch eine andere zu korrigieren
- wenn dies freilich nicht leicht sein würde.(16)
3. Dominanz der globalen Finanzmärkte?
Der Umfang, die Geschwindigkeit und der grenzüberschreitende
Charakter der Finanzströme sowie der Abbau ihrer politischen
Kontrolle und Regulierung hat gefährliche Folgen. Sie lassen
sich in drei Gruppen einteilen: Erstens kann die Abhängigkeit
von den Finanzmärkten zu großen, teilweise existenzbedrohenden
Problemen für Unternehmen und Staaten führen. Eine Kündigung
von Bankkrediten bedeutet in der Regel das Aus für Unternehmen,
der Abzug von Kapital in Form von Krediten oder Anleihen kann
Länder in große wirtschaftliche Schwierigkeiten bringen
und den Beginn eines tiefen Einbruchs markieren. Weder diese Folgen
noch die hierzu führenden Entwicklungen sind neu. Sie kennzeichnen
die MexikoKrise Ende 1994 ebenso wie die große Krise
in Deutschland im Jahre 1931: politische Verunsicherung
Wahlsiege des Faschismus in Deutschland, Zapatistenaufstände
und politische Morde in Mexiko lösten eine plötzliche
Kapitalflucht aus und leiteten dadurch eine massive wirtschaftliche
Krise ein. Bei genauem Hinsehen sind die Muster in vielen Punkten
ähnlich:
Nach Deutschland(17) waren bis 1930 20,5 Milliarden Mark
aus dem Ausland vor allem den USA transferiert worden,
davon bestand die Hälfte aus kurzfristigen Titeln, die zur
langfristigen Finanzierung eingesetzt waren. Fast die Hälfte
aller Einlagen der Berliner Großbanken stammten Anfang der
30er Jahre aus dem Ausland und wurden kurzfristig abgezogen. Dadurch
verlor die deutsche Reichsbank innerhalb weniger Wochen die Hälfte
ihrer Währungsreserven und hob am 15. Juli die Konvertibilität
der Mark auf. Ein Abwertungswettlauf mit disaströsen Folgen
begann.
Nach Mexiko(18) waren von 1989 1994, den Jahren
der wirtschaftspolitischen Wende zum Neoliberalismus, 98,9 Mrd.
Dollar Auslandskapital geflossen. Dabei handelte es sich überwiegend
nicht um längerfristig festgelegte Direktinvestitionen, sondern
um kurzfristig angelegtes Kapital: Fast Drei Viertel (72,5%) der
Zuflüsse bestanden aus sog. Portfolioinvestitionen, die ihrerseits
zu einem Drittel aus Aktien und zu zwei Drittel aus Anleihen bestanden,
deren Zweck nicht auf Profit durch private Produktion, sondern
auf schnelle Rendite auf Staatspapiere gerichtet war. Der Abzug
dieser Papiere aufgrund politischer Unruhen in Mexiko und der
Tatsache, daß eine Zinserhöhung in den USA die inländische
Anlage relativ attraktiver gemacht hatte, führte dazu, daß
Mexiko innerhalb von zwei Monaten (Dezember 1994 und Januar 1995)
77% seiner Devisenreserven verlor. Der Peso wertete um gut ein
Drittel in nur zehn Tagen ab; bis Ende 1995 war er auf weniger
als die Hälfte seines Wertes vor der Krise gefallen. Wegen
der hohen Importabhängigkeit der mexikanischen Wirtschaft
führte dies zu einem drastischen Einbruch der Produktion
und einem noch drastischeren Anstieg der Arbeitslosigkeit.
Ein wesentlicher Unterschied zwischen beiden Fällen betrifft
die politische Steuerbarkeit der durch Finanzströme verursachten
Krisen: Während die deutsche (und die vorhergehende amerikanische)
Bankenkrise sich zur Weltwirtschaftskrise ausweiteten konnte eine
ähnliche Ausbreitung der MexikoKrise durch schnelles
politisches Management unter Führung des amerikanischen Präsidenten
verhindert werden. Was blieb, war eine drastische Verschlechterung
der Lage Mexikos, aber kaum Verluste für amerikanische Anleger.
Im Unterschied zu den dreißiger Jahren besteht in den 90er
Jahren die Fähigkeit, extreme Gefahren für das internationale
Finanzsystem, die von einzelnen Krisen ausgehen, insgesamt einzugrenzen.
Dies zeigte sich auch in der großen Bankenkrise 1987, als
innerhalb weniger Tage durch Regierungen, IMF und die Bank für
internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) ein Sicherheitsnetz für
das internationale Finanzsystem geknüpft wurde. Allerdings
beruht diese Fähigkeit nicht auf einer soliden institutionellen
Grundlage, schon gar nicht auf einer Konzeption ausgeglichener
internationaler Finanzbeziehungen. Es handelt sich um adhoc
Management, funktioniert zu Lasten der Schwachen, verhindert aber,
daß die Stärkeren mit in den Strudel gerissen werden.
Das Beunruhigende der jüngsten Entwicklung besteht nicht
darin, daß die Globalisierung der Finanzmärkte heute
ganz andere Intensität angenommen hat(19) und die Transmission
von Finanzbewegungen in ganz anderer Geschwindigkeit abläuft.(20)
Die entscheidenden Unterschiede liegen nicht so sehr zwischen
den 20er Jahren und den 80er/90er Jahren, sondern zwischen den
50er bis 70er Jahren und sowohl den 20ern wie den 80/90er Jahren:
Das Problem der Gegenwart besteht darin, daß wir uns einer
Situation nähern, in der die internationalen Finanzmärkte
ebenso unreguliert sind wie Ende der 20er, Anfang der 30er Jahre.
Die Entwicklung läuft dahin, den Fortschritt der 50er und
60er Jahre abzubauen und zur Situation des ersten Drittels des
Jahrhunderts zurückzukehren.
In diesem ersten Drittel (und erst recht natürlich in den
zwölf Jahren danach) gab es keine internationale kooperative
Wirtschaftsordnung. Abwertungswettläufe, Konkurrenz oder
Isolationismus waren die Verhaltensfiguren, Krieg die ultima ratio.
Mitte der 40er Jahre wurde ein hegemonial strukturiertes
internationales Kooperationssystem erbaut, das aus den
Erfahrungen der Weltmarktkonkurrenz in den 20er Jahren und des
Krieges danach die Lehre gezogen hatte, daß hemmungslose
und ungezügelte Konkurrenz fatale Folgen hat und unter allen
Umständen vermieden werden muß. Die Hauptelemente dieses
Systems waren eine stabile internationale Währungsordnung
und Beschränkungen des internationalen Kapitalverkehrs. Erst
mit der Liquidierung dieses Systems bildete sich wieder ein internationaler
Finanzmarkt heraus, wie er um 1930 bestand.
Die zweite Gefahr, die von liberalisierten und deregulierten
Finanzmärkten ausgeht, ist die drastische Beschränkung
der wirtschaftspolitischen Handlungsmöglichkeiten einzelner
Nationalstaaten, der Verlust der sogenannten Zinsautonomie. Diese
Gefahr bestand vor dem zweiten Weltkrieg aus dem einfachen Grunde
nicht, weil es keine entwickelte Wirtschaftspolitik zur Stabilisierung
ökonomischer Prozesse gab. Unregulierte Finanzmärkte
können zur Gefahr für das Vorhaben werden, durch wirtschaftspolitische
Steuerung die Beschäftigung und das Einkommen einer Wirtschaft
zu stabilisieren. Die Bedrohung ist nicht zwangsläufig tödlich.
Sie wird beherrschbar, wenn Wirtschaftspolitik sich auf ein breites
Spektrum wirtschaftspolitischer Maßnahmen stützt, die
z.B. den Einsatz des öffentlichen Sektors und lenkender Steuerpolitik,
administrative Regelungen für Umwelt und Arbeitsschutz, Arbeitszeitverkürzungen
und Technologiepolitik etc. einschließen. Verengt sich die
Wirtschaftspolitik allerdings auf das Ziel der Geldwertstabilität
und das Instrument der Geldpolitik, werden unkontrollierte Finanzmärkte
zum Problem. Dann unterhöhlt nämlich der internationale
Zinszusammenhang die Souveränität nationaler Wirtschaftspolitik
und setzt sie außerordentlichen Risiken aus, wenn sie sich
anders als die wirtschaftspolitische Tendenz der Nachbarländer
orientiert. Denn sofern nationale Wirtschaftspolitik das zinspolitische
Instrumentarium einsetzt also beispielsweise die Zinsen
senkt, um Finanzanlagen weniger attraktiv zu machen und die Finanzierungskosten
für Investitionen zu senken können Unternehmen,
statt Finanzanlagen in Realinvestitionen umzuschichten, ihre Geldvermögensbestände
ins Ausland verlegen, wo sie wegen höherer Zinsen eine höhere
Rendite bringen. Um diese Kapitalflucht zu verhindern, muß
eine Regierung entweder die Währung abwerten mit negativen
Folgen für die Importe oder die Zinsen müssen
wieder auf ein attraktives Niveau heraufgesetzt werden. Das aber
würgt das Wachstum ab. Diese Beschränkung wird durch
die Einbeziehung kurzfristiger Gelder noch enger. Zinsdifferenzen
für derartige Anlagen (etwa Dreimonatsgelder) lösen
Arbitragegeschäfte aus, die es unmöglich machen, eigene
Wege zu gehen.
Es fragt sich allerdings, ob diese These nicht vorschnell eine
Realität als bereits eingetreten behauptet, die nur in Ansätzen
zu beobachten ist und damit auch Handlungsmöglichkeiten
hinwegdefiniert, die in Wirklichkeit bestehen. Tatsächlich
ist nämlich das beobachtbare Zinsniveau zwischen den verschiedenen
kapitalistischen Ländern keinesfalls einheitlich.(21) Das
gilt auch, wenn die unterschiedlichen Preissteigerungen und Preissteigerungserwartungen
berücksichtigt werden, was zumindest beim Vergleich von Zinsen
auf langfristige Anlagen erforderlich ist. Derartige Zinsdifferenzen
sind sicher teilweise auf Wechselkursunsicherheiten bzw. durch
Erwartungen auf Wechselkursänderungen bedingt. Im übrigen
werden sie tautologisch als Ausdruck unterschiedlicher Bonitäten
der jeweiligen Länder definiert. Dies engt das Spektrum der
Gründe dafür, daß Kapital lieber im Inland als
im Ausland angelegt wird, unzulässig ein. Die Behauptung
jedenfalls, schon die kleinsten Zinsdifferenzen veranlaßten
Anleger zur Umschichtung ihrer Portefeuilles zugunsten von Auslandstiteln,
kann nicht belegt werden. Hierfür gibt es auch einleuchtende
Gründe. Auch die Betätigung auf Geld und Kapitalmärkten
erfordert materielle Infrastrukturen und verursacht Kosten. Es
ist daher unwahrscheinlich, daß kleinere Zinsveränderungen
zu entsprechenden Umschichtungen von Finanzvermögen führen
auch wenn die Wahrscheinlichkeit derartiger Umschichtungen
mit der Höhe der Zinsdifferenz zunimmt. Sie wird dagegen
vermutlich deutlich abnehmen, wenn internationale Kapitalwanderungen
durch Umsatzsteuern (und Provisionen) verteuert werden. Merkwürdigerweise
wird der internationale Zinszusammenhang immer nur dann bemüht,
wenn es um eine expansive Politik mittels Zinssenkung geht. Kein
Problem aber scheint es zu geben, wenn eine kontraktive Politik
zur Inflationsbekämpfung die Zinsen heraufsetzt. Der Zufluß
von Kapital, der ja inflationstreibend wirken und damit die Zielsetzung
der Politik unterlaufen könnte, wird deshalb nicht für
problematisch gehalten, weil er durch restriktive Maßnahmen
der Zentralbanken im Rahmen ihres Offenmarktgeschäftes abgeschöpft
oder sterilisiert werden kann. Symmetrisch dazu läßt
sich allerdings auch argumentieren, daß Zentralbanken jede
Kapitalflucht durch zusätzliche Geldschöpfung neutralisieren
können. Dies aber liegt nicht im Interesse der stärkeren
Kapitalgruppen. Auch hier geht es letztlich nicht um Fragen der
ökonomischen Logik, Gesetzmäßigkeit oder Vernunft,
sondern um Interessen und Kräfteverhältnisse. Schließlich
hat der internationale Zinszusammenhang weder die USA noch England
daran gehindert, eine restriktiv monetaristische Politik gegenüber
einer Welt durchzusetzen, die noch in erheblichem Maße keynesianisch
beeinflußt war. Umgekehrt konnte sich der französische
Versuch Anfang der 80er Jahre, gegen einen international erstarkten
monetaristischen Trend eine expansive Politik zu betreiben, nicht
durchsetzen. Es kommt also weniger auf die Abweichung vom Trend,
sondern auf die Macht an, mit der der Trend beeinflußt werden
kann.
3. Die dritte finanzmarktbedingte Störquelle für
Reproduktion und Beschäftigung liegt im enormen Umfang und
der Geschwindigkeit der Devisenspekulationen. Sie gab es
in diesem Umfang ebenfalls Ende der 20er Jahre nicht, weil jedenfalls
teilweise noch ein bilaterales Goldstandardsystem vorherrschte.
In den dreißiger Jahren wurden dann fast in der gesamten
kapitalistischen Welt Devisenbewegungen verboten, beschränkt
oder streng kontrolliert. Diese Beschränkungen wurden auch
im System von Bretton Woods beibehalten. Heute dagegen unterliegt
der Devisenverkehr keinen Beschränkungen in den kapitalistischen
Industrieländern. Rein spekulative Währungsumschichtungen
großer Finanzvermögen werden nicht anderes behandelt
als die Finanzierung von Handel und langfristigen Investitionen.
Spekulative Attacken können die Währungen einzelner
Länder allerdings hinsichtlich ihrer internationalen Funktionen
und Wertigkeit verzerren und damit Außenhandel, Direktinvestitionen
und Portfolioinvestitionen erheblich beeinflussen, ohne daß
das betreffende Land sich hiergegen zur Wehr setzen kann. Dabei
ist es unerheblich, ob die Wechselkurse den Verhältnisse
der Produktivitäten und Preise, den sogenannten fundamentals
entsprechen oder nicht. Währungsabwertungen können zwar
die Exportpositionen eines Landes wegen höherer preislicher
Wettbewerbsfähigkeit verbessern, gleichzeitig verteuern sie
aber die Importe. Der Saldo dieser Wirkungen hängt von den
konkreten außenwirtschaftlichen Verflechtungen ab; bei weniger
entwickelten Ländern ist dieser Saldo regelmäßig
negativ. Darüber hinaus schwächt eine Abwertung die
Position der Währung als Anlagewährung oder als Wertaufbewahrungsmittel.
Dies wird wiederum die internationale Kreditwürdigkeit eines
Landes negativ beeinflussen und möglicherweise eine Spirale
nach unten in Gang setzen. Hier besteht offensichtlicher Handlungsbedarf.
4. Zwischenergebnis: Politische Kontrolle der Finanzmärkte
erforderlich
Ein genauerer Blick auf die Finanzmärkte muß vor allem
den eminent politischen Charakter ihrer Entwicklung, gegenwärtigen
Struktur und ihrer Dominanz zur Kenntnis nehmen. Sie sind nicht
das notwendige Produkt unerbittlicher Sachgesetze des Kapitalismus,
sondern Ergebnis politischer Weichenstellungen, die unter dem
Druck von Kapitalinteressen in den 70er und 80er Jahren vorgenommen
wurden und andere, 30 Jahre vorher beschlossene Weichenstellungen
liquidiert haben. Für diesen Widerruf eines weltwirtschaftlichen
Reformprojektes zur Gewährleistung ungestörter kapitalistischer
Binnenmärkte war die ökonomische Erschöpfung dieses
Entwicklungsmusters der Auslöser, die mangelnde konzeptionelle
Fähigkeit und politische Bereitschaft der Arbeiterbewegung
zur konsequenten Weiterentwicklung des nationalen und internationalen
Reformprojektes aber ausschlaggebend. Nichts spricht dafür,
daß zwangsläufig eine Rechtsentwicklung einsetzen muß,
wenn ein bestimmtes Muster der Entwicklung erschöpft ist.
Faktisch ist dies geschehen, die Kräfteverhältnisse
sind zugunsten des Kapitals verändert worden und die materielle
Lage auf der Welt hat sich für die meisten Menschen verschlechtert.
Die Liberalisierung und noch nicht abgeschlossene Deregulierung
der Finanzmärkte sind Ausdruck dieser Entwicklung und treiben
sie weiter. Damit steigt aber auch der Handlungsbedarf. Konzeptionen
hierzu liegen vor. Sie reichen von einer Verbesserung der Bankenaufsicht
und der Verteuerung von kurzfristigen Geld und Kapitalflüssen
durch Einführung einer Transaktionssteuer über die Wiedereinführung
des Instrumentariums von administrativen Kapitalverkehrskontrollen
bis zur Errichtung eines globalen währungspolitischen Kooperationssystems,
das die Wechselkurse der wichtigsten Weltwährungen stabilisiert
und damit auch eine solidere Grundlage für regionale Kooperationen
und Währungsunionen darstellt. Derartige Reformperspektiven
verstoßen gegen die Interessen der Hauptakteure auf den
Finanzmärkten und gegen die Dogmen des Neoliberalismus. Sie
sind jedoch ökonomisch vernünftig, gesellschaftlich
nützlich und politisch machbar. Allerdings bedarf es dazu
politischen Drucks. Derartigen Druck hat es nach 1945 schon einmal
gegeben. Die Vorstellung, daß es zu Reformen nur als Folge
von Kriegen kommen kann, ist weder akzeptabel noch einleuchtend.
© Jörg Huffschmid
Quellen:
1 Vgl. z.B. in Deutschland: HansHagen Härtel, Rolf
Jungnickel u.a., Grenzüberschreitende Produktion und Strukturwandel
Globalisierung der deutschen Wirtschaft, BadenBaden 1996;
Globalisierung: Falle oder Wohlstandsquelle?, DIW Wochenbericht
23/97, S. 413419; Ulrich Dolata, Das Phantom der Globalisierung,
in: Blätter für deutsche und internationale Politik,
1/97, S. 100104.
2 Vgl. United Nations Conference on Trade and Development (UNCTAD),
World Investment Report 1996; Investment, Trade and International
Policy Arrangements, New York 1996, S. 249.
3 Vgl. Härtel/Jungnickel, a.a.O., S. 244; vgl. auch International
Monetary Fund, World Economic Outlook, May 1997, Washington 1997,
S. 58.. 'Es sieht nicht so aus, daß
Unternehmen in großem Maße inländische durch
ausländische Arbeiter ersetzt haben."
4 DIWWochenbericht 23/97, S. 414.
5 Vgl. Yilmaz Akyüz, Taming International Finance, in: Jonathan
Michie, John Grieve 6 Smith (Hg.), Managing the Global Economy,
London u.a. 1995, S. 61.
6 Vgl. OECD Quarterty National Accounts, 1996, Nr. 3, S. 12.
7 Vgl. Akyüz, a.a.O., S. 61.
8 Vgl. Bank für internationalen Zahlungsausgleich (BIZ),
66. Jahresbericht (1.4.199531.3.1996), Basel 1996, S. 166.
9 Vgl. The Economist vorn 7. Oktober 1995, S. 6.
10 Mahbub ul Haq, Inge Kaul, Isabelle Grunenberg (Hg.), The Tobin
Tax. Coping with Financial Volatility, New York 1996, S. 292.
11 Vgl. BIZ, 66, Jahresbericht, a.a.O., S. 148.
12 Vgl. zum folgenden Eric Helleiner, States and the Reemergence
of Global Finance. From Bretton Woods to the 1990s, Ithaca and
London 1994, Teil 2.
13 OECD, National Accounts, zit. nach John Eatwell, International
Capital Liberalisation: An Evaluation. A Report to UNDP (SSA no.
90049), New York 1996, S. 15.
14 Vgl. Eatwell, a.a.O., S. 1.
15 Vgl. zur Herausbildung und Regulierung der Finanzsysteme in
Europa Charles P. Kindleberger, A Financial History of Western
Europe, London, Boston, Sydney, 1984.
16 Vgl. Eric Helleiner, PostGlobalization: Is the Financial
Liberalization likely to be Reversed? in: Robert Boyer, Daniel
Drache (Hg.), States against Markets. The Limits of Globalization,
London, New York 1996, S. 193210.
17 Vgl. Dietmar Petzina, Die deutsche Wirtschaft in der Zwischenkriegszeit,
Wiesbaden 1977, S. 9799; Charles P. Kindleberger, Die Weltwirtschaftskrise
1929 1939, München 1984, 6. Kapitel.
18 Vgl. Julio César Godoy Alvarado, Wirtschaftspolitik
in Mexiko. Der globale Finanzmarkt und das Scheitern des Neoliberalismus,
Bremen 1996, S. 44ff., 54ff.
19 Der Grad der finanziellen Offenheit ist immer noch geringer
als er zu Beginn des Jahrhunderts war vgl. R. Zevin, Are
World Financial Markets More Open? lf so, Why and Whith What Effects?,
in: T. Banurei, J. Schor (Hg.), Financial Openness, Oxford 1992,
S. 51f.
20 Der entscheidende Sprung in dieser Hinsicht war die Einführung
des Telegraphen des Tickers , der die Kommunikation
zwischen den Kontinenten innerhalb von wenigen Minuten ermöglichte,
und nicht die weitere Verkürzung der Kommunikationszeit auf
Sekundenbruchteile.
21 Vgl. Globalisierte Finanzmärkte machtlose Geldpolitik?
DIWWochenbericht 11/1995, S.237241.
Quelle: Z., Nr. 31, September 1997


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