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Beiträge zur Ökonomie  









1998-03-02

Immer höher in der Kreide

EU-Maastricht-Kriterien deutlich verletzt

Punktgenau will der Gebirgs- und Defizit-Jäger Waigel gelandet sein; der Haushaltsfehlbetrag soll 1997 mit 2,7 Prozent des Bruttoinlandprodukts sogar unter der Maastricht- Quote von drei Prozent gelegen haben. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung dagegen hat 3,3 Prozent errechnet. Der bayerische CSU-Politiker Huber meint, andere EU- Länder manipulierten die Statistik, weswegen jetzt »alle die Hosen runterlassen« müßten. Was Henning Voscherau vom SPD-Vorstand ähnlich sieht, aber vornehmer ausdrückt.

Doch wie ist der Streit um 2,7 oder 3,3 Prozent vom Klassenstandpunkt aus zu bewerten? Da blättern wir zunächst in dem mit dem Maastricht-Abkommen um diverse Artikel erweiterten »Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG-Vertrag)«. Im selbigen Gesetzes- Flickenteppich stoßen wir auf den Artikel 104 c, aus dem wir exklusiv für die jW-Lesenden die Absätze 2 a) und b) zum Vortrage bringen. Diese besagen, es gebe »zwei Kriterien«, die »zur Überwachung der Haushaltslage in den Mitgliedsstaaten« zu prüfen seien. Nämlich a) ob das »Verhältnis des ... Defizits zum Bruttoinlandsprodukt einen bestimmten Referenzwert überschreitet«. Und b) ob das »Verhältnis des öffentlichen Schuldenstands zum Bruttoinlandsprodukt einen bestimmten Referenzwert überschreitet«.

Der erste Referenzwert sind die allseits debattierten drei Prozent; der zweite, derzeit kaum mehr öffentlich erwähnte, aber laut EG-Vertrag exakt als gleichgewichtig vorgesehene Referenzwert wurde auf 60 Prozent festgelegt. Das heißt, die gesamten öffentlichen Schulden eines EU-Landes dürfen 60 Prozent nicht übersteigen, wenn es Euro-fähig sein soll. Volkswirtschaftlich macht das Sinn. Henning Voscherau wies am 1. März zu recht darauf hin, daß einzelne EU-Länder ihre Jahresdefizite »strategisch kleingerechnet« hätten. Dafür gibt es bekanntlich die Wortschöpfung der »kreativen Buchführung«.

Ein Jahresdefizit »kleinzurechnen« ist eingedenk der Erkenntnis, wonach man nur der Statistik trauen soll, die man selbst gefälscht hat, nicht allzu schwierig. Schwieriger ist schon, einen über viele Jahre hinweg sich auftürmenden Schuldenberg bzw. dessen Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt, das zweite Referenzkriterium also, »kleinzurechnen«. Hier sieht die Bilanz wie folgt aus: Bei acht von elf EU-Ländern, die sich angeblich für den Euro qualifiziert haben, machen diese Schulden 1997 mehr als 60 Prozent aus. Belgien und Italien haben mit 122,2 und 121,6 Prozent sogar Schulden, die doppelt so hoch wie das vereinbarte Maximum sind. Die BRD liegt inzwischen mit 61,3 Prozent ebenfalls über diesem Kriterium. Wohlgemerkt: Wir referieren die Zahlen, die bereits die »kreative Buchführung« für das Jahresdefizit 1997 akzeptieren.

Nun weist der Maastrichter Vertrag bei diesem Referenzkriterium eine Einschränkung auf. Ausnahmsweise dürften die 60 Prozent überschritten werden, wenn »das Verhältnis hinreichend rückläufig ist und sich rasch genug dem Referenzwert nähert«. Was sagt da die EU-Statistik? Der Anteil der öffentlichen Schulden am Bruttoinlandsprodukt lag in der BRD im Jahr 1990 bei 43 Prozent, 1996 bei 60,7 und 1997 bei 61,3 Prozent. Das heißt: Auch diese Maastricht- Schlupfloch-Bestimmung wird glasklar verletzt; die Verschuldung wird kontinuierlich gesteigert.

Daraus ergeben sich zwei Erkenntnisse. Erstens: Der Euro soll kommen, koste er, was er wolle. Zweitens: Bert Brecht hat den Maastricht-Vertrag richtig wie folgt interpretiert: »Sie sprechen wieder von großen Zeiten / (Anna weine nicht) / Der Krämer wird uns ankreiden.«


Winfried Wolf

Quelle: Junge Welt, 02.03.1998








 

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