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1999-02-06

Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder anläßlich der "Münchner Tagung für Sicherheitspolitik" zum Thema "Deutsche Sicherheitspolitik an der Schwelle des 21. Jahrhunderts" am Samstag, 06. Februar 1999

Anrede!

Die "Münchner Tagung für Sicherheitspolitik", die ich heute eröffnen darf, führt alljährlich bedeutende Akteure der Sicherheits- und Verteidigungspolitik von diesseits und jenseits des Atlantik zu einem intensiven Meinungsaustausch zusammen.

Im Laufe der letzten Jahre sind unsere Freunde und neuen Partner aus Mittel- und Osteuropa zum Kreis der Teilnehmer gestoßen. In diesem Jahr freue ich mich besonders, daß nun auch hochrangige Vertreter aus Indien und der Volksrepublik China nach München gekommen sind.

Anrede!

Der Kalender der Weltpolitik hat es so gewollt, daß meine Regierung schon nach 66 Tagen im Amt eine Fülle internationaler Aufgaben übernehmen mußte.

Ich nenne im Zusammenhang der heutigen Tagung nur die Ratspräsidentschaft in der EU und den Vorsitz in der Westeuropäischen Union.

Ich habe daher großes Verständnis dafür, daß sich bei unseren Nachbarn und Partnern die Frage stellt, wie dieses "neue Deutschland", von dem manche ausländische Zeitungen geschrieben haben, sich wohl "herausbilden" wird. Ich habe auch schon manche Skepsis herausgehört, ob die neue politische Generation, die dieses Land heute regiert, womöglich auch für einen internationalen Kurswechsel steht.

Ich betone deshalb auch vor Ihnen gern und in aller Deutlichkeit: Deutschland bleibt ein verläßlicher Partner in Europa und in der atlantischen Allianz. Ein Partner, der sich seiner nationalen und globalen Verantwortung in der Friedens- und Sicherheitspolitik voll bewußt ist.

Schon vor Amtsantritt der neuen Regierung haben wir im Deutschen Bundestag bezüglich der gefährlichen Entwicklung im Kosovo Deutschlands Handlungsfähigkeit und Solidarität sichergestellt.

Unsere Partner können sich darauf verlassen, daß das auch heute, angesichts einer erneuten bedrohlichen Zuspitzung der Lage im Balkan, so bleibt. Ich werde mir erlauben, später noch auf die Krise im Kosovo zurückzukommen.

Verläßlichkeit, das gilt auch für die große vor uns liegende Aufgabe in der Europäischen Union und auch im Bündnis: Die Definition und Ausgestaltung einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität.

Diese Aufgabe ergibt sich nicht nur aus den Erfordernissen einer - nach Überwindung des Kalten Krieges - multipolar gewordenen Welt. Für das Haus Europa ist eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungsidentität ein unverzichtbarer Baustein.

Für das Bündnis wird sie ein zusätzlicher Garant der Handlungsfähigkeit, der effizienten Krisenprävention und Krisenbewältigung sein.

Europa und das Bündnis stehen vor neuen gemeinsamen Herausforderungen, auf die wir gemeinsame Antworten finden müssen. Das wollen wir in Europa tun, ohne die NATO zu schwächen.

Und das wollen wir, gerade mit Blick auf die Neuausrichtung der Allianz, die wir auf dem NATO-Gipfel im April in Washington besprechen werden, im Bündnis tun, indem wir eine stärkere europäische Verantwortungsbereitschaft einbringen.

Mit anderen Worten: Wir wollen ein neues Europa für eine neue NATO, und wir wollen die neue NATO für das neue Europa.

Wir in Europa wissen, was wir dem atlantischen Bündnis und dem europäischen Einigungswerk zu verdanken haben: 50 Jahre friedlicher Entwicklung auf unserem Kontinent in diesem, wie Frau Außenministerin Albright es genannt hat, "blutigsten Jahrhundert überhaupt".

Und gerade wir Deutschen, die wir in diesem Jahr die Gründung der Bundesrepublik vor 50 Jahren und den Fall der Berliner Mauer vor 10 Jahren feiern, wissen sehr genau, daß Freiheit und Demokratie in Deutschland unauflöslich mit dem historischen Erfolg der Allianz verbunden sind.

Das gemeinsame Europa hat in den vergangenen Jahren große Schritte hin zu einer unumkehrbaren wirtschaftlichen und politischen Einheit getan. Zuletzt hat ein großer Teil der Europäischen Union durch die Einführung einer gemeinsamen Währung, des Euro, einen genuinen Akt gemeinsamer Souveränität vollzogen.

Dieser Einigungs- und Souveränitätsprozeß ist keineswegs abgeschlossen: Er bedarf der politischen Vertiefung und der geographischen Erweiterung.

Beides ist untrennbar miteinander verbunden ohne Vertiefung werden wir eine Erweiterung nicht bekommen können.

Eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die diesen Namen verdient, sowie die Herausbildung einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität sind unabdingbare Stützpfeiler in diesem Vertiefungsprozeß.

Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik ist an den Werten des Friedens, der Menschenrechte und einer nachhaltigen, demokratischen Entwicklung ausgerichtet. Das sind originär europäische, aber ebenso universelle Werte, auf die auch die nordatlantische Allianz gebaut ist.

Dabei sind Menschenrechte und nachhaltige Entwicklung, gerade angesichts der Globalisierung, weit mehr als ein politisch-philosophisches Ideal.

Die Wahrung der Menschenrechte, das hat uns nicht zuletzt die Asienkrise gezeigt, sind auch für die Wirtschaft ein bedeutsames Prinzip: Ohne umfassende Freiheiten gibt es keine wirklich freien Märkte.

Ohne ökologische Nachhaltigkeit und ohne freie Entfaltung der Individuen gibt es keine Investitionssicherheit. Und was für die Wirtschaft gilt, gilt für die Sicherheitsarchitektur der Welt erst recht.

In diesem Sinne muß unsere Außen- und Sicherheitspolitik ein Beitrag zur globalen Zukunftssicherung sein. Nennen wir es ruhig: als Export politischer Stabilität.

Die Achtung des Völkerrechts, das Eintreten für die Menschenrechte, Dialogbereitschaft, Gewaltverzicht und Vertrauensbildung sind die Grundsätze der Friedenspolitik, der wir verpflichtet sind.

Dabei kann moderne Sicherheitspolitik heute nur noch umfassend verstanden werden. Die politische, wirtschaftliche, soziale, ökologische und auch militärische Dimension müssen zusammengedacht und zusammengebracht werden.

Und nach der Überwindung des Ost-West-Konflikts gilt mehr denn je: Sicherheit kann heute immer weniger rein militärisch gewährleistet werden.

Die Risiken, die uns betreffen können, machen längst nicht mehr an den Grenzen der Nationalstaaten halt:

Ich nenne die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen und die Entwicklung weitreichender Trägerwaffen, gewaltbereiten Fundamentalismus, internationalen - auch staatlichen Terrorismus, weltweit organisierte Kriminalität, eine Rückkehr ethnischer Konflikte; aber auch soziale und ökonomische Krisen, die zu enormen Migrationswellen führen können.

Die grundsätzliche Antwort auf solche Herausforderungen ist einfach formuliert, aber hochkompliziert in der Durchführung. Es geht um effizientes Krisenmanagement. Und das heißt in aller Regel: wirksame Krisenprävention.

Vorbeugendes Handeln, das Krisen vermeiden oder schon im Ansatz zu bekämpfen hilft, ist nicht nur humaner, sondern auch günstiger und effizienter als nachträgliche Krisenbewältigung.

Dazu müssen wir die vorhandenen Instrumente und Institutionen internationaler Zusammenarbeit nutzen und stärken: Das gilt für die NATO wie für die Vereinten Nationen, für OSZE, EU und WEU.

Europa ist in diesem Zusammenhang bereit, größere politische und auch militärische Verantwortung zu übernehmen insbesondere natürlich dort, wo unsere europäischen Interessen zuallererst berührt sind.

Diesen Prozeß werden wir im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft vorantreiben.

Der Amsterdamer Vertrag, der voraussichtlich im späten Frühjahr in Kraft treten wird, eröffnet uns dafür neue Handlungsmöglichkeiten.

Der Europäische Rat wird künftig gegenüber der Westeuropäischen Union eine Leitlinienkompetenz in verteidigungspolitischen Fragen haben.

Darunter fallen humanitäre und Rettungseinsätze, aber auch friedenserhaltende und friedenschaffende Maßnahmen.

Die EU braucht in Zukunft eigene politische und militärische Entscheidungsstrukturen. Sie muß auch über die nötigen Instrumente zur Krisenerkennung und zum Krisenmanagement verfügen.

Natürlich haben wir dabei im Blick, daß nicht alle europäischen Staaten denselben Mitgliedsstatus in EU, WEU und NATO haben. Und keinesfalls wollen wir bestehende Strukturen verdoppeln.

Was wir wollen, sind effiziente Strukturen und Instrumente, die eine engere und bessere Abstimmung der Europäer untereinander und auch mit unseren nordamerikanischen Partnern ermöglichen.

Strukturen aber machen keine Politik, das machen Menschen. Der neue Generalsekretär des Europäischen Rates und Hohe Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik wird deshalb zentraler europäischer Ansprechpartner sein.

Gleichzeitig schlage ich vor, das Amt des Generalsekretärs der Westeuropäischen Union, das Ende dieses Jahres vakant wird, dem Hohen Vertreter der GASP in Personalunion zu übertragen. Damit wollen wir auch ein sichtbares Zeichen für die Integration der WEU in die Europäische Union setzen

Anrede!

Wir wissen, daß die europäische Bereitschaft, größere außen- und sicherheitspolitische Verantwortung zu übernehmen, auch im amerikanischen Interesse ist.

Entsprechend deute ich auch die Ankündigung von Verteidigungsminister Cohen, die USA würden sich an einer zur Durchsetzung eines Friedens-abkommens für den Kosovo notwendigen Einsatztruppe nur mit einem begrenzten Kontingent beteiligen.

Ich finde diese Haltung verständlich und zukunftsweisend. Wir Europäer werden keine Alleingänge unternehmen. Aber wenn wir unzulänglich vorbereitet sind, uns aktiv an der Gestaltung einer Friedensordnung zu beteiligen - hätten wir dann noch das Recht uns zu beklagen, daß andere eventuell unilaterale Entscheidungen treffen?

Die Felder gesamteuropäischen Interesses sind hinlänglich definiert. Aber wir haben es bislang versäumt, hinlänglich klarzumachen, wo und wie wir dieses Interesse auch durchzusetzen bereit sind. Ohne eine solche Klärung, das möchte ich hier betonen, werden wir die Unterstützung der europäischen Öffentlichkeit für eine aktive gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik nicht bekommen.

Vielleicht ist es an dieser Stelle ganz hilfreich, wenn ich noch einmal kurz den Weg skizziere, den die Bundesrepublik Deutschland in dieser Hinsicht zurückgelegt hat.

Lange Zeit und selbst nach dem Wiedergewinn der staatlichen Einheit Deutschlands wurde in der Öffentlichkeit und übrigens mit noblen Argumenten ja so diskutiert, als verbiete die historische Hypothek eines Landes, das in diesem Jahrhundert zwei vernichtende Weltkriege zu verantworten hat, jeglichen Einsatz deutscher Soldaten außerhalb des Bündnisgebietes.

Heute weiß ich mich mit der großen Mehrheit unserer Bevölkerung einig, wenn ich sage, daß die historische Verantwortung uns auch auferlegt, einem Massenmorden, wie wir es in Bosnien erlebt haben, mit allen zu Gebote stehenden Mitteln zuvorzukommen.

Ich versichere Ihnen: Deutschland kann und will keinen Sonderweg gehen. Wir sind im Bündnis mit unseren europäischen und amerikanischen Freunden Schritt für Schritt erwachsen geworden.

Deshalb sind wir heute ohne jedes Wenn und Aber bereit, als "normale" Alliierte Verantwortung zu übernehmen ob in der EU oder in der NATO. Gleichzeitig stehen wir auch zu unserer Verantwortung in der Friedenspartnerschaft mit Rußland und der Ukraine.

Ich will das an dieser Stelle gern noch einmal unterstreichen: Die transatlantische Partnerschaft und die Präsenz der Vereinigten Staaten in Europa bleiben auch in Zukunft Garant für Sicherheit und Stabilität auf unserem Kontinent. Aber ebenso ist eine europäische Sicherheitsarchitektur ohne die Beteiligung Rußlands undenkbar.

Anrede!

Die Bereitschaft, mehr als bisher Verantwortung zu übernehmen, heißt aber auch: Internationale Militäreinsätze über das Bündnisgebiet hinaus haben eine unbezweifelbare völkerrechtliche Grundlage zur Voraussetzung. In der Regel ist das ein Mandat des Weltsicherheitsrates oder ein Vorgehen in der Verantwortung der OSZE.

Gerade eine Wertegemeinschaft wie unser transatlantisches Bündnis kann sich hier keine Laxheiten leisten. Ein Abweichen von diesem Prinzip kann es nur im Ausnahmefall geben: zur Verhinderung humanitärer Katastrophen und schwerer Menschenrechtsverletzungen Ä wenn unmittelbares Eingreifen aus humanitären Gründen dringend geboten ist.

Anrede!

Die Entwicklung im Kosovo stellt uns auch heute vor schwerwiegende Entscheidungen. Wir begrüßen es, daß die Konfliktparteien die von der Kontaktgruppe geforderten Friedensverhandlungen jetzt offenbar aufnehmen wollen.

Ich kann die Parteien von hier aus nur noch einmal dringend aufrufen, die Chance zum Frieden zu nutzen.

Der Staatengemeinschaft ist es bitter ernst, die weitere Verletzung der Menschenrechte und weiteres Morden im Kosovo zu unterbinden. Wir wissen auch, daß es dazu einer militärischen Absicherung bedürfen wird. Deutschland wird dabei seinen Beitrag leisten.

Anrede!

Eines der wichtigsten Erfolgsrezepte der NATO ist es in den vergangenen Jahrzehnten gewesen, sich flexibel den veränderten Rahmenbedingungen anzupassen.

Auf dem NATO-Gipfel im April in Washington werden wir nicht nur das 50jährige Bestehen der Allianz feiern mit unseren alten, aber auch besonders freudig mit unseren neuen Partnern aus Polen, Ungarn und Tschechien. Wir werden in Washington auch über die Neuorientierung des Bündnisses sprechen und, ich bin sicher, dabei zu guten Ergebnissen kommen.

Wir stehen vor weitreichenden Entscheidungen über die Ausgestaltung unserer Partnerschaft im Bündnis. Die neue NATO wird über einen gestärkten europäischen Pfeiler verfügen und dadurch insgesamt gestärkt.

Aus dieser gestärkten Partnerschaft und aus dem gewachsenen europäischen Verantwortungsbewußtsein wollen wir gemeinsam eine neue strategische Vision entwickeln: für eine Friedens- und Stabilitätsordnung, die auf den Werten von Menschenrecht, Gerechtigkeit und demokratischer, sozialer und ökologischer Entwicklung basiert.

Rüstungskontrolle, Abrüstung, Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen und Vertrauensbildung gehören dabei zu den wichtigsten Schwerpunkten.

Das Ziel einer vollständigen Abschaffung der Massenvernichtungswaffen darf gerade ein sich neu definierendes Bündnis nicht aus den Augen verlieren.

Deshalb müssen wir alles tun, um eine weitere Verbreitung dieser Waffen schon im Ansatz zu unterbinden.

Stärkere Verantwortung der Europäischen Union für Europa; wirksame Krisenprävention durch vorausschauende Politik; eine neue strategische Vision für Frieden und Entwicklung; Rüstungskontrolle und Abrüstung - das ist die Substanz dessen, was wir anstreben, wenn wir sagen:

Ein neues Europa für eine neue NATO, und die neue NATO für ein neues Europa.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche der Tagung allen denkbaren Erfolg.



Quelle: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
Internet: http://www.bundesregierung.de



 




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