quellen |
Joschka Fischer empfiehlt seiner Partei Buendnis 90/Die Gruenen grundsaetzliches Nachdenken ueber Wehrhaftigkeit - UN-Konzeption in Bosnien gescheitert
Der Brief des Fraktionsvorsitzenden der Gruenen, Joschka Fischer, zur Lage in Bosnien hat ueber die Grenze seiner Partei hinaus fuer Aufsehen gesorgt. Die WELT dokumentiert wesentliche Passagen:
Die Konzeption der Vereinten Nationen in Bosnien ist, bis auf die
humanitaere Hilfe und Teile des Embargos, definitiv mit der
militaerischen Offensive der bosnischen Serben gegen die
UN-Schutzzonen Srebrenica und Zepa in diesem Juli gescheitert.
Diese bittere Erkenntnis zwingt deshalb jetzt alle, die sich
bisher in ihrer Politik positiv auf den UN-Einsatz in Bosnien
bezogen haben, zu einer grundsaetzlichen Ueberpruefung und
Neupositionierung ihrer Politik. Unsere Partei Buendnis 90/Die
Gruenen hat bei aller Kritik im Einzelfall immer den UN-Einsatz
unterstuetzt, nachdruecklich und mit guten Gruenden gegen einen
Abzug argumentiert und aus diesem Grund eine Fortsetzung des
UN-Einsatzes verlangt. Deshalb muessen auch wir uns heute fragen:
Wie soll es weitergehen in Bosnien, wenn der bisherige UN-Einsatz
gescheitert ist? Heisst das den Abzug der Blauhelme? Bedeutet das
eine Beendigung des Waffenembargos und Lieferung von schweren
Waffen an die bosnische Regierungsarmee? Oder heisst das im
Gegenteil jetzt seine Fortsetzung als militaerische Intervention
der Vereinten Nationen zum Schutz der Schutzzonen ohne Wenn und
Aber? Oder geht es am Ende gar so weiter wie gehabt?
Das Schlimme und fuer die Zukunft Hochgefaehrliche an der
gegenwaertigen Situation liegt darin, dass aus heutiger Sicht alle
drei Varianten eine Ausdehnung des Krieges, weitere Blutbaeder und
weitere zahllose Opfer bedeuten werden. Opfer zuerst und vor
allem an Menschen, dann aber auch an jenen elementaren und
zugleich so ueberaus wichtigen Grundsaetzen eines gewaltfreien
Zusammenlebens von Menschen, Staaten und Kulturen, die in der
Metzelei in Bosnien ernsthaft verlorenzugehen drohen. Eine Opfer
und Gewalt vermeidende politische Alternative in der
gegenwaertigen Lage in Bosnien ist nicht in Sicht, und diese
bittere Tatsache muss gerade eine gewaltfreie Partei
herausfordern.
Niemals wurde etwa von den wichtigsten Maechten offen und vor
allem ehrlich definiert, was jenseits der humanitaeren Ziele die
tatsaechlichen politischen Ziele sind, auf die sich der UN-Einsatz
einzustellen hat. Die Intervention der UN im ehemaligen
Jugoslawien war deshalb von Beginn an in sich widerspruechlich und
hoch gefaehrlich. Humanitaer war und ist der UN-Einsatz auf dem
Balkan unverzichtbar und ein grosser Erfolg, der zahllosen
Menschen das Leben gerettet und das Weiterleben ermoeglicht hat,
politisch-militaerisch droht er aber zu einem grauenhaften Debakel
zu werden. Die Blauhelme sollten einen "Frieden bewahren", den es
in Bosnien niemals gab, sondern sie gerieten dort als
"Friedensbewahrer" in einen "heissen" Krieg und zwischen die
Fronten. Sie sollten neutral sein gegenueber den Kriegsparteien
und mussten demnach den Aggressor und seine Opfer gleichermassen
"neutral" behandeln, das heisst, sie wurden Partei durch
Unterlassung und instrumentalisiert von allen Kriegsparteien.
Europa ist fuenf Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges und 50
Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht
wiederzuerkennen. Der Krieg ist mit all seiner Grausamkeit und
Barbarei zurueckgekehrt und tobt auf dem Balkan. Mit Krieg, mit
einer brutal ruecksichtslosen Skrupellosigkeit und dem Tod und
Elend Hunderttausender unschuldiger Menschen scheinen im Europa
des Sommers 1995 erfolgreich wieder Grenzen gezogen und mit
voelkischer Politik erneut politische Fakten geschaffen werden zu
koennen.
Wenn sich diese Politik des Krieges und des Mordens in Bosnien
erfolgreich durchsetzen wird, dann wird dies weit ueber den Balkan
hinaus fuer Europa anhaltend schlimme Konsequenzen haben. Gerade
eine auf Gewaltfreiheit und Achtung der Gewalt beruhende Politik
ist davon ganz besonders betroffen, denn wenn der Krieg wieder zu
einem erfolgreichen und durchsetzungsfaehigen Mittel der
europaeischen Politik wird, dann kann man eine gewaltfreie Zukunft
der europaeischen Nationen schlicht vergessen. In Bosnien geht es
deshalb auch um 50 Jahre Integrationsfortschritt und Frieden in
Europa.
Die Vereinten Nationen taumeln in Bosnien auf eine strategische,
mit hoher Wahrscheinlichkeit sogar auf eine historische
Niederlage zu. Fuer die UN und den Westen heisst heute die fatale
Alternative: Weichen oder widerstehen? Beides wird einen sehr
hohen Preis verlangen, und diese Erkenntnis zwingt uns deshalb
heute dazu, uns ueber die Ursachen des Scheiterns der bisherigen
friedensbewahrenden Politik der Vereinten Nationen schonungslos
Rechenschaft abzulegen. Denn nichts waere schlimmer, als durch
weitere Illusionen, Irrtuemer oder gar doppeltes Spiel weitere
Katastrophen und zahllose unschuldige Opfer mitverantworten zu
muessen.
Dies gilt auch fuer die Diskussion in unserer Partei Buendnis
90/Die Gruenen. Auch wir werden uns angesichts des bosnischen
Dramas sehr genau und mit grosser Ehrlichkeit zu ueberlegen haben,
was die Konsequenzen unserer Position sind und wie weit wir sie
tatsaechlich durchhalten koennen. Die Mehrheit in Partei und
Fraktion hat sich bisher nachdruecklich fuer das UN-Embargo, fuer
humanitaere Hilfe und fuer die Aufrechterhaltung des
Blauhelmeinsatzes ausgesprochen. Wir waren gegen eine Beteiligung
Deutschlands mit Kampfverbaenden in Bosnien, weil wir, bedingt
durch das Wueten der deutschen Wehrmacht im ehemaligen Jugoslawien
waehrend des Zweiten Weltkriegs, dadurch eine Verschaerfung des
Konflikts und nicht seine Daempfung befuerchten. Aber auch uns wird
angesichts des Scheiterns der bisherigen Friedensmission der
UN-Blauhelme in Bosnien ein erneutes und sehr grundsaetzliches
Nachdenken nicht erspart bleiben.
Unsere Partei Buendnis 90/Die Gruenen ist eine Reformpartei, die
ihren gesellschaftsverSndernden, und das heisst unter dem
Gesichtspunkt des friedlichen, gewaltfreien Zusammenlebens, der
Wahrung der Menschenrechte, des Schutzes von Minderheiten und der
sozialen Gerechtigkeit auch gesellschaftsverbessernden Anspruch
nicht aufgegeben hat. Ein Durchlavieren, eine Haltung des "Wir
sind entsetzt, ansonsten schauen wir aber lieber nicht hin" kommt
angesichts der bosnischen Katastrophe fuer unsere Partei nicht in
Frage. Entweder sind wir fuer den militaerischen Schutz der
Schutzzonen, wissend auch um die ganze Unzulaennglichkeit der
westlichen Bosnienpolitik und ihrer Risiken - und ich bin der
Ueberzeugung, wir muessen angesichts der Lage der dort
eingeschlossenen Zivilbevoelkerung fuer den militaerischen Schutz
der UN-Schutzzonen sein -, dann muessen wir dies als Partei auch
sagen, ausdiskutieren und beschliessen. Oder wir lehnen diesen
militaerischen Schutz ab, und dann sollten wir uns, aber ohne uns
darum herumzuwinden, fuer den Abzug der UN-Blauhelme aussprechen.
Die Folgen dieses Schrittes sind ebenfalls bekannt. Allerdings
wird die Welt (und damit auch wir) in diesem Fall den bosnischen
Regierungstruppen die notwendigen Waffen fuer ihre
Selbstverteidigung nicht laenger vorenthalten duerfen.
Ich bin, nach Abwaegung aller hier vorgetragenen Argumente der
Meinung, dass ein Abzug ein Anheizen des Krieges bedeuten wird und
es demnach zu einer militaerischen Garantie der UN-Schutzzonen nur
schlimmere Alternativen gibt. Freilich, ein solcher Schritt
bringt weder die politische Loesung noch gar eine substantielle
Besserung der Verhaeltnisse in Bosnien, wohl aber den moeglichen
Schutz und das Ueberleben der betroffenen Zivilbevoelkerung in den
Schutzzonen. Und dies ist angesichts der Barbarei nicht wenig.
Ein Frieden aber - oder auch nur ein tragfaehiger Waffenstillstand
- ist nicht zu sehen. Zudem koennte ein Abzug der UN-Einheiten aus
Bosnien durch eine entsprechende Zwei-Drittel-Entscheidung des
amerikanischen Kongresses fuer die Aufhebung des Waffenembargos
oder durch eine Nichtverlaengerung des UN-Mandates durch eine der
beteiligten Kriegsparteien im November durchaus schnell Realitaet
werden.
Beides, die Erklaerung fuer einen militaerischen Schutz der
Schutzzonen als auch die Alternative des Abzuges, wird unseren
innerparteilichen Grundwertekonflikt zwischen dem Schutz des
Lebens und der Freiheit von Menschen einerseits und der
Gewaltfreiheit andererseits nicht unberuehrt lassen. Und unsere
prinzipienorientierte Aussenpolitik, die die Gewaltfreiheit in den
internationalen Beziehungen zu ihrem zentralen Grundsatz erklaert
hat, wird sich dieser fuer uns ganz neuen Herausforderung durch
"ethnische Kriege" stellen und praktische Antworten darauf geben
muessen.
Quelle: DIE WELT, 3.8.1995
© GLASNOST, Berlin 1992 - 2019