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  Politik   

 


1999-03-25

Einen Tag nach dem Kriegsangriff gegen Jugoslawien will der Bundestag ungeachtet der Ereignisse zur Tagesordnung übergehen. Zur Beratung stehen Fragen zur Neuregungelung der Scheinselbständigkeit, zur Bafög-Erhöhung sowie diverse Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses an. Ströbele von den Bündnis90/Die Grünen und Gysi von der PDS wollen dies nicht hinnehmen. Aufgrund ihrer Intervention (die PDS hat eine Ausprache über den Kriegseinsatz beantragt) kommt es zu einer kurzen Debatte. Die Redebeiträge spiegeln in kurzer Form die wesentlichen Argumentationslinien der Parteien wider.
(ib) GLASNOST-Redaktion



Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort dem Bundesminister der Verteidigung, Rudolf Scharping.

Rudolf Scharping, Bundesminister der Verteidigung:

Herr Präsident!

Meine Damen und Herren! Ich verstehe, daß man im Rahmen einer Geschäftsordnungsdebatte versucht einzuhalten, was zwischen dem Bundeskanzler und allen Fraktionsvorsitzenden vereinbart worden ist. Allerdings gibt es auch Geschäftsordnungsdebatten, die es dann erforderlich machen, auf einige Dinge hinzuweisen, von denen ich denke, daß sie klarbleiben sollten.

Die militärischen Aktionen der NATO

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Krieg!)

sind Ergebnis und Endpunkt langer Bemühungen vieler Monate, auf friedlichem Wege zu einem Abkommen zu kommen, das den Menschen im Kosovo ein friedliches Leben ermöglichen sollte.

(Dr. Gregor Gysi [PDS]: Jetzt sind wir doch in einer Sachdebatte!)

Ich muß Ihnen in aller Deutlichkeit sagen, daß das Ergebnis des brutalen Vorgehens der jugoslawischen Armee gegen die Bevölkerung im Kosovo darin besteht, daß über 400 000 Menschen auf der Flucht sind, daß allein im Kosovo 250 000 Menschen auf der Flucht sind, daß viele Dörfer brennen und daß immer mehr Menschen die Grenze überschreiten. Diese Brutalität muß beendet werden.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)

Es ist eine Verpflichtung auf Grund der Erfahrungen aus der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts,

(Dr. Gregor Gysi [PDS]: Ist das jetzt eine Sachdebatte? Dann will ich auch darüber reden! Ich habe nichts dagegen!)

und es ist eine Verpflichtung auf Grund unserer eigenen Ideale, nicht zuzulassen, daß in Europa die Fratze der Kriege der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts und der Vergangenheit die Zukunft bestimmt.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es ist also unser Ziel, eine humanitäre Katastrophe zu beenden, die Einhaltung schon vereinbarter Abkommen zu gewährleisten und die Resolution des Weltsicherheitsrates Nr. 11/99 mit ihren Forderungen durchzusetzen - auf der Grundlage der Beschlüsse des Deutschen Bundestages vom 16. Oktober 1998. Es ist auch unser Ziel, ein Abkommen zu ermöglichen, das den Menschen im Kosovo die Verwaltung ihrer eigenen Angelegenheiten erlaubt. Es bleibt unser Ziel, die Tragödie zu beenden, die sich dort abspielt - nicht gegen das serbische Volk, wohl aber gegen eine Diktatur, die schändlich und verächtlich mit der Würde, der Freiheit und dem Leben von Menschen umgeht.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

In diesem Handeln stecken weitere Verpflichtungen: Wir sind verpflichtet, den Flüchtlingen zu helfen, die die Grenze des Kosovo und der Bundesrepublik Jugoslawien überschreiten. Wir sind verpflichtet, für die Stabilität der umliegenden Staaten zu sorgen und ihnen zu helfen. Wir sind verpflichtet, dem ganzen Balkan eine europäische Perspektive zu geben - einer Region in Europa, die in ihrer ganzen Geschichte sehr viele Erfahrungen mit Terror, Unterdrückung und Gewalt sammeln mußte, aber keine Erfahrung mit dem zivilen Austragen von Konflikten, mit Rechtsstaatlichkeit und mit Demokratie sammeln konnte.

Wir haben uns die Entscheidungen, die wir gemeinsam innerhalb der NATO und der Europäischen Union getroffen haben, nicht leichtgemacht. Ich möchte an dieser Stelle sagen, daß besonderer Respekt jenen Menschen zu schulden ist, die sich als Soldaten - nicht allein im Auftrag Deutschlands, sondern der NATO insgesamt - einer erheblichen Gefahr aussetzen, um anderen Menschen helfen zu können.

(Beifall bei der SPD und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU)

Deshalb hoffe ich, daß nicht nur die Mehrheit des Deutschen Bundestages, sondern daß auch die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland und wir alle gemeinsam verstehen, daß unsere Soldaten in dieser schwierigen Situation den Rückhalt und die Fürsorge derjenigen brauchen, die die Entscheidung für ihren Einsatz verantworten müssen.

Vor diesem Hintergrund appelliere ich nicht nur an unsere Vernunft und unsere Klugheit; ich appelliere vor allen Dingen an die Regierung in Belgrad. Niemand gibt dieser Regierung das Recht, das Morden im Kosovo fortzusetzen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Niemand gibt dieser Regierung das Recht, die Lebensinteressen einer ganzen Bevölkerung zu mißachten, nur weil sie anderen Ursprungs ist.

(Dr. Heidi Knake-Werner [PDS]: Was ist jetzt mit den Lebensinteressen der Menschen?)

Niemand gibt dieser Regierung das Recht, nicht nur die Selbstbestimmung einer ganzen Bevölkerung mit Waffen zu behindern, sondern sogar systematisch zu morden.

Ich appelliere an die Regierung in Belgrad, im Kosovo die Waffen sofort schweigen zu lassen, damit auch wir die Möglichkeit haben, die Waffen schweigen zu lassen, damit auch wir die Möglichkeit haben, die Waffen schweigen zu lassen und auf andere, nämlich friedliche Weise den Menschen im Kosovo zu helfen. Der Schlüssel zur Beendigung aller militärischen Maßnahmen liegt in Belgrad, nirgendwo sonst. Es ist die Verpflichtung der dortigen Regierung, den Menschen im Kosovo weiteres Leid zu ersparen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wenn die Bundesrepublik Jugoslawien und ihre Regierung klar erklärt, daß sie zu einem Waffenstillstand im Kosovo und zur Unterzeichnung eines Abkommens, das einen friedlichen Weg eröffnet, bereit ist, dann haben auch wir die Möglichkeit, die militärischen Maßnahmen zu beenden und auf den Weg zurückzukehren, den wir über Monate hinweg versucht haben zu gehen. Unser friedliches Bemühen - auch das muß man sehr deutlich sagen - ist mißbraucht worden, weil während laufender Verhandlungen immer mehr Menschen systematisch um ihr Recht auf Leben, auf Unversehrtheit und Gesundheit gebracht wurden. Es ist unsere Verpflichtung, diesen Weg zu beenden und dafür zu sorgen, daß die Menschen im Kosovo eine Perspektive für ein friedliches Leben erhalten.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Präsident Wolfgang Thierse:

Werte Kolleginnen und Kollegen, da die Debatte einen anderen Verlauf als geplant genommen hat, schlage ich vor, daß jede Fraktion Gelegenheit zu einer kurzen Erklärung erhält, damit wir dieses Thema in angemessener Weise behandeln. Danach kehren wir zur ursprünglich geplanten Tagesordnung zurück.

(Dr. Gregor Gysi [PDS]: Dann nehmen wir unseren Antrag zurück!)

Ich erteile dem Kollegen Wolfgang Schäuble, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.


Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU):

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die CDU/CSU-Fraktion stimmt dem, was der Bundesverteidigungsminister soeben für die Bundesregierung ausgeführt hat, zu.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)

Wir haben im Oktober letzten Jahres dem Antrag der Bundesregierung zugestimmt. Es gibt in Deutschland richtigerweise eine ungewöhnliche Verfassungslage, die eine vorherige Zustimmung des Parlaments zu Entscheidungen, wie sie bezüglich des Kosovo- Einsatzes getroffen wurden, erfordert. Den meisten von uns war schon bei der Debatte im Bundestag im Oktober letzten Jahres klar - ich hoffe, daß es uns allen klar war -, daß wir damals eine Entscheidung von ungewöhnlich großer Verantwortung und Tragweite getroffen haben. Wir haben im Januar und im Februar dieses Jahres erneut über den Einsatz im Kosovo diskutiert und haben keinen Zweifel daran gelassen, daß wir zu der Entscheidung stehen, die wir im Oktober letzten Jahres getroffen haben, und daß sie richtig und notwendig war. Ich füge hinzu: Wir sind durch die Bundesregierung in den zurückliegenden Wochen zu jedem Zeitpunkt korrekt unterrichtet worden. Deswegen gibt es in dieser Frage zwischen der großen Oppositionsfraktion und der Bundesregierung keinen Dissens. Sie können sich auf die Unterstützung der CDU/CSU- Fraktion verlassen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)

Auf die Unterstützung des - ich hoffe - ganzen Parlaments können sich vor allen Dingen die Soldaten der Bundeswehr und die Soldaten der Streitkräfte unserer Verbündeten im atlantischen Bündnis verlassen. Das sind wir ihnen in einer solchen Situation schuldig.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)

Wir gehen davon aus, daß eine menschenmögliche Vorsorge getroffen worden ist, um die Risiken für alle so klein wie möglich zu halten. Wir gehen auch davon aus, daß alles Menschenmögliche im Rahmen der atlantischen Allianz getan wird, um die Risiken für die unschuldigen Menschen in Jugoslawien so gering wie möglich zu halten. Der Bundesverteidigungsminister hat soeben zu Recht gesagt: Vielleicht hat man eher zu lang als zu kurz versucht, das zu verhindern, was jetzt durch die Uneinsichtigkeit der Regierung in Belgrad unvermeidlich notwendig geworden ist - so bitter das auch ist. Ich habe gestern darauf hingewiesen: Niemand hat dem, was unvermeidlich geworden ist, mit Freude zugestimmt. Das ist nach meiner Erinnerung eine der bittersten Stunden in meiner auch nicht mehr ganz jungen Laufbahn als Mitglied dieses Hauses. Aber, verehrte Kolleginnen und Kollegen, wenn wir unsere Verantwortung für Frieden, für Freiheit und für Menschenrechte ernst nehmen, haben wir keine Alternative. Deswegen muß unser geschlossener Appell an den Aggressor lauten: Das Morden in Europa muß aufhören!

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)

Die Gemeinschaft der Demokraten dieser Erde und der Europäer muß die Kraft haben, das Ende des Mordens durchzusetzen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Präsident Wolfgang Thierse:

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen erteile ich das Wort der Kollegin Angelika Beer.

Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, für alle Mitglieder meiner Fraktion sagen zu können, daß die Entscheidungen der letzten Stunden für uns schwierig waren, daß aber die Mehrheit meiner Fraktion nach vielen Diskussionen dem Bundeskanzler, seiner gestrigen Erklärung und der Erklärung des Bundesverteidigungsministers heute die volle Unterstützung gewährt. Damit positionieren wir uns in voller Verantwortung in dieser Regierungskoalition.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich will eine gewisse Hilflosigkeit gerade bei den Grünen, die aus der Friedens- und Menschenrechtsbewegung kommen, nicht verhehlen. Ich glaube aber, daß wir uns in Wahrnehmung der Verantwortung - damals in der Diskussion über das Vorgehen in Bosnien und in den letzten Wochen und Monaten über das Vorgehen im Kosovo - bewußt vor die Alternative haben stellen lassen und darüber entschieden haben. Die Alternative war, ob eine grüne Partei sagen kann: "Zehn Jahre lang wurde alles versäumt, und daraus leiten wir das Recht ab, der sich zuspitzenden humanitären Katastrophe im Kosovo einfach zuzusehen", oder aber, ob man versucht - wie es insbesondere unser Außenminister getan hat -, die diplomatischen Möglichkeiten bis zur letzten Sekunde auszunutzen, um Milosevic klarzumachen, daß er derjenige ist, der als einziger den Knoten der Gewalt lösen kann, indem er ein Friedensabkommen unterschreibt und die Angriffe auf die Zivilbevölkerung unterläßt; oder daß, wenn er dies nicht tut - so wie gestern -, die Konsequenz lautet, dem Vorgehen der NATO zuzustimmen, mit dem Ziel, eine sich anbahnende humanitäre Tragödie im Kosovo zu verhindern. Vor dieser Alternative haben wir uns klar positioniert. Ich hoffe, daß diejenigen, die uns oder mich persönlich, wie in den letzten Tagen geschehen, als Kriegstreiber bezeichnen, endlich die Antwort auf die Frage geben, was denn die Alternative zu dieser schwierigen Entscheidung gewesen wäre.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich möchte für meine Fraktion unterstreichen, daß wir natürlich die Hoffnung haben, daß Milosevic spätestens jetzt einlenkt. Es gibt keine Alternative zu der Unterschrift unter den Friedensvertrag.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Es gibt keine neuen Verhandlungen, sondern nur die Abkehr von Krieg und Mord im Kosovo. Wir hoffen in der gleichen Verantwortung, daß die deutschen Soldaten mit ihren Tornados, die im Rahmen des NATO-Einsatzes eingesetzt werden, und jene Soldaten, die im Moment in einer sehr schwierigen Situation in Tetovo stationiert sind, um die Umsetzung eines Friedensvertrags und ein politisches Konzept auf dem Balkan zu gewährleisten, die Solidarität für ihre schwere Aufgabe finden; denn auch dann wird es schwieriger sein, als es vor wenigen Jahren in Bosnien war. Ich wünsche insofern den Soldaten, die heute diese schwere Aufgabe zu tragen haben, daß sie gesund zurückkommen.

Ich hoffe, daß sich unsere Partei in dem Dialog, dem wir uns auch nachträglich noch stellen werden, in Fragen des Völkerrechts wie auch der Glaubwürdigkeit des zukünftigen Handelns, wenn es darum geht, frühzeitig nichtmilitärisch zu intervenieren, wenn Menschenrechte verletzt werden, der Verantwortung stellt. Ich hoffe, daß wir auch danach noch sagen können, daß es das Richtige war, dem wir gestern und heute zugestimmt haben. Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse:

Das Wort für die F.D.P.-Fraktion hat Kollege Wolfgang Gerhardt.

Dr. Wolfgang Gerhardt (F.D.P.):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ich möchte zuerst für meine gesamte Fraktion betonen, daß wir den Entscheidungen des Verteidigungsministers, die wir alle mit getroffen haben, sowie seinen heutigen Ausführungen zustimmen.

(Wolfgang Gehrcke [PDS]: Nicht alle!)

- Ich spreche für meine Fraktion. Die Debatte zeigt auch heute morgen wieder die Skrupel, die freiheitliche Demokratien immer haben, wenn es auf ein letztes Mittel zugeht. Diese Debatte führen wir schon seit einigen Jahren, nicht erst seit heute. Wir haben mehrere Bundestagsdebatten geführt, die deutlich widergespiegelt haben, welche Schwierigkeiten freiheitlich verfaßte Gesellschaften haben, zur Ultima ratio zu greifen. Aber es gibt auch für freiheitlich verfaßte Gesellschaften eine Grenze: Niemals dürfen sie Despoten erlauben, sie lächerlich zu machen, weil sie diese Skrupel haben.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD - Zurufe von der PDS)

Diese Grenze ist zweifellos erreicht: nicht nur nach den Verhandlungen in Rambouillet und den vielen Gesprächen im Kosovo, sondern auch nach den vielen einzelnen Zusagen der serbischen Führung, von denen sie sich im nachhinein wieder distanziert hat. Freiheitliche Gesellschaften müssen wissen, daß das Völkerrecht nicht selbst trägt, sondern daß sie es tragen müssen. Sie müssen es auch tragen wollen. Im Kosovo geht es nicht um ein Kriegsziel der NATO, sondern um die Frage an freiheitlich verfaßte Gesellschaften, ob sie wegschauen wollen, wenn Menschen vertrieben werden, wenn das Leben von Menschen in Gefahr gebracht wird und wenn Vernichtung über sie gebracht wird.

(Beifall bei der F.D.P., der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dann tritt die Kernfrage nach dem politischen Ziel auf, die wir beantworten müssen. Ich weigere mich einfach, nur in einen Dialog über Luftoperationen einzutreten, wenn nicht auch gesagt wird, welches politische Ziel wir haben. Unser Ziel ist doch kein aggressives, kein feindseliges. Wir wollen dort internationale Garantien, wir wollen Minderheitenrechte, wir wollen schlicht, daß das, was die europäische Kulturgeschichte für die Menschen gebracht hat, alle Menschen genießen können. Alle Menschen im Kosovo haben einen Anspruch darauf, menschlich behandelt zu werden. Darum geht es im Kern.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Zurufe von der PDS)

Wir setzen nicht Soldaten ein, um einen Staat zu beschädigen und Menschen in Not zu bringen, sondern wir setzen sie für zutiefst humanitäre Zwecke ein. Nichts anderes legitimiert überhaupt diesen Einsatz als unsere Absicht, Menschen zu helfen und zu schützen. Die serbische Führung zeigt nahezu jeden Tag, daß sie ein menschenverachtendes Regime repräsentiert. Nach allen Erfahrungen in der Geschichte dieses Jahrhunderts kann es für freiheitliche Demokratien am Ende keine Alternative dazu geben, einem Aggressor auch mit Soldaten entgegenzutreten.

Die deutschen Soldaten und ihre Familien haben einen Anspruch auf unsere Solidarität, unsere Unterstützung und unseren Respekt. Sie stehen im Dienst einer guten Sache. Sie sind zu dem Einsatz legitimiert. Sie kämpfen für Menschenrechte, die vor unserer Tür mit Füßen getreten werden. Sie sollen wissen, daß die Fraktion der F.D.P. - das sage ich auch für die Kolleginnen und Kollegen aus der CDU/CSU sowie die Mehrheit der Grünen und der SPD - zu ihnen steht. Wir wünschen ihnen Erfolg und hoffen, daß sie alle gesund zurückkommen.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile dem Kollegen Gregor Gysi für die PDS-Fraktion das Wort.


Dr. Gregor Gysi (PDS):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte zunächst meinen ganz ehrlichen Respekt dafür zum Ausdruck bringen, daß sich der Bundestag in eigener Souveränität doch noch ganz kurzfristig zu dieser Debatte entschieden hat.

(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Ich finde, es ist dieses Hauses würdig, das nicht im Rahmen einer GO-Debatte verhindert zu haben. Deshalb nehmen wir unseren Antrag selbstverständlich zurück.

Ich kann die hier genannten Argumente zu einem Großteil nicht teilen. Vor allen Dingen sind viele Fragen gar nicht angesprochen worden, zum Beispiel die nach der rechtlichen Grundlage für den Krieg, der gestern begonnen hat.

(Dr.-Ing. Rainer Jork [CDU/CSU]: Es geht um Menschen!)

- Ich komme darauf zurück. - Sie alle wissen, daß die UN-Charta nur zwei Fälle des berechtigten militärischen Eingreifens kennt: den Fall der individuellen Selbstverteidigung oder kollektiven Selbstverteidigung im Rahmen eines Bündnisses und den Fall, daß der UN-Sicherheitsrat - kein anderer; nur er besitzt das Gewaltmonopol, was aus guten Gründen nach 1945 so festgelegt worden ist - anordnet, zur Herstellung des Friedens militärische Maßnahmen einzusetzen.

(Beifall bei der PDS sowie der Abg. Monika Knoche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Beide Voraussetzungen liegen nicht vor. Die Bundesrepublik Jugoslawien - wie auch immer die inneren Zustände zu beurteilen sind - hat kein anderes Land angegriffen; deshalb liegt der Fall einer individuellen Selbstverteidigung oder kollektiven Selbstverteidigung nach Art. 51 der UN-Charta nicht vor. Sie wissen genauso gut wie ich, daß der UN-Sicherheitsrat keine militärischen Maßnahmen nach Kap. VII der UN-Charta - der anderen Möglichkeit, die militärisches Eingreifen erlaubt - beschlossen hat und daß er sich sogar ausdrücklich vorbehalten hat, über die weitere Situation zu beraten und zu entscheiden. Die NATO hat ihm diese Entscheidung aus der Hand genommen; sie hat sich damit von der UNO abgekoppelt.

(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich sage Ihnen: Das zerstört eine Weltordnung; aber es schafft keine neue. Auch ich kann mir eine bessere Weltordnung als die gegenwärtige vorstellen.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Machen Sie doch einen Vorschlag! Werden Sie doch einmal konkret! - Zurufe von der CDU/CSU)

Die jetzige aber zu beseitigen, ohne eine neue zu haben, wird Europa und die Welt sehr grundsätzlich verändern. Was glauben Sie denn, wie wenig Rücksicht andere Staaten in Zukunft auf die UN- Charta nehmen werden, wenn die NATO und auch die Bundesrepublik Deutschland erst einmal bewiesen haben, daß sie bereit sind, die UN-Charta zu ignorieren und dennoch militärisch aktiv zu werden, und zwar in Form eines Krieges!

(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Juristisch gilt - auch wenn es Sie sehr ärgert -: Wenn man einen Krieg führt, ohne selbst angegriffen worden zu sein, dann ist das ein Angriffskrieg und kein Verteidigungskrieg. Genau diesen verbietet das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Auch dagegen haben Sie verstoßen.

(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN )

Sie sprechen von der Sicherheit unserer Soldaten. Ich finde, die größte Unsicherheit besteht darin, sie in einen Krieg zu schicken, der weder völkerrechtlich noch durch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland legitimiert ist.

(Beifall bei der PDS - Bernd Reuter [SPD]: Was sagen Sie dazu, daß die NVA-Truppen der DDR in die Tschechoslowakei einmarschiert sind?)

- Dazu kann ich gerne etwas sagen. Ich spreche jetzt über die selektive Wahrnehmung humanitärer Katastrophen. Die Situation ist doch in Wirklichkeit nicht neu. Es gab schon ganz häufig bewaffnete Bewegungen von Bevölkerungsgruppen, die aus einem Staatenverband ausscheiden wollten. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich in solchen Fällen, wie andere Staaten auch, sehr unterschiedlich verhalten. Ich erinnere Sie an ein noch viel verbrecherischeres Regime, an das Pol-Pot-Regime. Damals griff Vietnam ein. Das wurde international mit dem Hinweis darauf verurteilt, daß sich das kambodschanische Volk selbst befreien müsse, solange Kambodscha keinen anderen Staat angegriffen habe. Ein Angriff durch Vietnam auf Kambodscha sei nicht gerechtfertigt. So lautete damals die Argumentation.

Als der US-Präsident vor kurzem im Senat seines eigenen Landes gefragt worden ist, warum die NATO nicht in Kaschmir oder in Burundi militärisch eingreife, sondern gerade im Kosovo in Jugoslawien, hat er geantwortet: Dort haben wir andere Interessen. - Das ist eine Begründung, die mit Moral nichts zu tun hat.

(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wenn Menschenrechte gelten sollen, dann müssen sie universal gelten. Südafrika hat über Jahrzehnte die große Mehrheit der Bevölkerung nicht nur unterdrückt, nicht nur der einfachsten Menschenrechte beraubt, sondern hat Menschen auch massakriert. Nicht einmal zu einem Wirtschaftsboykott konnte sich die Bundesrepublik Deutsch- land entschließen. Die Deutsche Bank und andere haben dort weiter große Geschäfte gemacht.

(Beifall bei der PDS)

Was passiert denn seit Jahrzehnten und Jahren in der Türkei? Sie wissen, daß die Rechte der Kurdinnen und Kurden erheblich beeinträchtigt werden. Sie wissen, daß sie nicht einmal das Recht auf eigene Sprache und eigene Kultur haben. Sie wissen, daß auch dort Militär und Polizei massakrieren, daß es auch militärische Gegenbewegungen gibt. Auch ich kritisiere die PKK; das ist nicht die Frage. Aber entstanden ist sie aus der Unterdrückung des kurdischen Volkes. Auch das ist eine Tatsache. Die Türkei ist Partner im Bündnis, Partner der NATO, die jetzt sagt, aus humanitären Gründen müsse sie gegen Jugoslawien einen Angriffskrieg starten.

(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wie selektiv wollen wir denn diese Probleme in der Welt wahrnehmen? Damit ich hier nicht mißverstanden werde: Wenn Sie eines Tages auf die Idee kommen sollten, deshalb in die Türkei einzumarschieren, wäre ich auch dagegen - um das ganz klar zu sagen. Aber ich will Sie darauf aufmerksam machen, wie selektiv die Wahrnehmung ist.

Sie sagen immer, der Krieg richtet sich gegen Milosevic und nicht gegen das serbische Volk. Das sagt sich so leicht. Aber die Tatsachen sind doch andere. Was glauben Sie denn, wer kein Wasser hat, weil die Bomber gestern das Wasserwerk in Belgrad zerstört haben, die serbische Bevölkerung oder Milosevic? Ich kann Ihnen garantieren: Milosevic wird noch lange Wasser haben.

(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wer werden die Toten sein? Das werden Frauen und Kinder sowie Soldaten sein, darunter sehr viele Wehrpflichtige in Jugoslawien, die gar keine Chance haben, nicht zur Armee zu gehen, und es wird nicht Milosevic sein. Nein, ob Sie es wahrhaben wollen oder nicht: Ein solcher Krieg richtet sich immer gegen die Bevölkerung und nicht gegen einen einzelnen Diktator. Einen Krieg gegen einen einzelnen Diktator hat es noch nicht gegeben, auch im Irak nicht, und es wird ihn auch nicht in Jugoslawien geben. - Das macht mir alles größte Sorgen, muß ich Ihnen sagen.

Lassen Sie mich, weil die Redezeit um ist, nur noch eines sagen. Ich verstehe auch folgendes nicht: Hier wird immer gesagt: Milosevic ist völlig irrational, er kalkuliert den Krieg mit ein. Er trägt die alleinige Verantwortung. - Was aber ist das politische Ziel? Da wird mir gesagt: Nach zwei, drei Bombenangriffen wird der Mann rational. Dann denkt er plötzlich an sein Volk und unterschreibt, und damit ist der Krieg beendet.

Eine von beiden Thesen kann doch nur stimmen. Wenn er ein so irrationaler Diktator ist, wenn er sein eigenes Volk opfert, wie es mir die Regierung und die Vertreter der Fraktionen sagen, wie kommen Sie denn dann darauf, daß der nach zwei, drei Tagen unterschreiben würde? Und was ist, wenn er es nicht macht? Was ist denn dann die politische Lösung?

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Was ist denn Ihre? - Weitere Zurufe von der SPD)

Das haben Sie noch nie gesagt. Sie haben nur gesagt, daß Sie auf eine Unterschrift von Milosevic hoffen. Ich erwarte sie nicht; das muß ich Ihnen ganz ernsthaft sagen.

Lassen Sie mich einen letzten Satz sagen: Mit Bomben verhindert man keine humanitären Katastrophen, man verschärft sie nur.

(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Deutschland hat in diesem Jahrhundert überhaupt kein Recht mehr, Bomben auf Belgrad zu werfen.

(Lebhafter Beifall bei der PDS - Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Sie haben kein einziges Wort über die Kosovo-Albaner gesagt!)


Präsident Wolfgang Thierse:

Für die SPD-Frak- tion hat der Kollege Peter Zumkley das Wort.


Peter Zumkley (SPD):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die letzten Worte des Herrn Gysi haben mich insofern nachdenklich gemacht, als ich die Gegenfrage stelle: Wenn man heute nicht eingreift, werden denn dann die Menschenrechtsverletzungen im Kosovo beendet? Das ist doch die Frage.

(Zuruf von der F.D.P.: Er hat kein Wort dazu gesagt!)

Diese Frage beantworte ich für mich mit Nein, leider Nein. Zu den Luftoperationen gibt es nur eine Alternative, nämlich das Einlenken der serbischen Führung.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)

Monatelang ist vergeblich versucht worden, mit großer Geduld eine Friedensregelung im Sinne der geschundenen Bevölkerung des Kosovo zu implementieren. Jetzt mußte die NATO entschlossen handeln, um die Ziele zu erreichen, nämlich die Gewalt im Kosovo zu beenden, eine humanitäre Katastrophe zu verhindern und vor allem die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß endlich den vielen tausend Flüchtlingen geholfen wird, die unter schlimmsten Witterungsbedingungen in den Wäldern hausen müssen, weil Unfriede herrscht, weil sie aus ihren Dörfern vertrieben worden sind, weil die Dörfer verbrannt worden sind. Diese Voraussetzungen müssen doch endlich geschaffen werden. Dazu muß die serbische Regierung leider gezwungen werden.

(Dr. Gregor Gysi [PDS]: Dieser Konflikt kann sich aber auch ausweiten!)

Es ging darüber hinaus um die Beilegung eines Konflikts, der sich auch ausweiten kann: Wenn dort nicht etwas geschieht, was geschieht denn dann möglicherweise mit den Nachbarstaaten?

(Dr. Gregor Gysi [PDS]: Er hat gar nichts zu Rußland gesagt!)

Das ist doch ein Risiko, das man in Europa nicht eingehen kann. Insofern haben wir auch eine Verantwortung für die Nachbarstaaten in diesem Gebiet. Die diplomatischen Kanäle sind doch weiterhin offen. Die Serben müssen doch nur endlich dazu übergehen, diese zu nutzen und auch entsprechend zu handeln.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Belgrad kann jederzeit dazu beitragen, daß diese Luftoperationen beendet werden.

Einen Gedanken zu unseren deutschen Soldaten und den Soldaten der Alliierten, die dort eine schwierige Aufgabe erfüllen müssen, möchte ich noch mitteilen: Wir müssen an sie denken, unsere Fürsorge muß ihnen und auch ihren Familien gelten. Dazu gehört auch, daß wir ihnen ganz deutlich sagen, daß sie einen rechtmäßigen Einsatz in unserem Sinne wahrnehmen. Das gehört dazu, Herr Gysi.

(Beifall bei der SPD der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei
Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich möchte mit zwei Sätzen aus der Erklärung des EU-Gipfels schließen: Die Aggression darf sich nicht lohnen; das ist die Lehre des 20. Jahrhunderts. Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Abg. Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Kurzintervention)

Präsident Wolfgang Thierse: Da die PDS-Fraktion ihren Geschäftsordnungsantrag zurückgezogen hat, brauchen wir darüber nicht abzustimmen. Ich beende damit diesen Punkt unserer Debatte.


Quelle: Stenografischer Bericht des Bundestages vom 25.03.1999


 




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