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Rosa Luxemburg

Über die bürgerliche Gesetzlichkeit

"Wenn ein "freier Bürger" von einem anderen gegen seinen Willen, zwangsweise in ein enges, unwohnliches Gelaß gesteckt und dort eine Zeitlang gehalten wird, so versteht jeder, daß dies ein Gewalt ist. Sobald jedoch die Operation aufgrund eines gedruckten Buches, genannt Strafkodex, geschieht und das Gelaß "königlich-preußisches Gefängnis" oder Zuchthaus heißt, dann verwandelt sie sich in einen Akt der friedlichen Gesetzlichkeit. Wenn ein Mensch von einem anderen gegen seinen Willen zur systematischen Tötung von Nebenmenschen gezwungen wird, so ist das ein Gewaltakt. Sobald aber dasselbe "Militärdienst" heißt, bildet sich der gute Bürger ein, in vollem Frieden der Gesetzlichkeit zu atmen. Wenn eine Person von einer anderen gegen ihren Willen um einen Teil ihres Besitzes oder Verdienstes gebracht wird, so zweifelt kein Mensch, daß ein Gewaltakt vorliegt, heißt aber dieser Vorgang "indirekte Steuererhebung", dann liegt bloß eine Ausübung der Gesetze vor.

Mit einem Worte: Was sich uns als bürgerliche Gesetzmäßigkeit präsentiert, ist nichts anderes als die von vornherein zur verpflichtenden Norm erhobene Gewalt der herrschenden Klasse. Ist diese Festlegung der einzelnen Gewaltakte zur obligatorischen Norm einmal geschehen, dann mag die Sache sich im bürgerlichen Juristenhirn und nicht minder im sozialistischen Oportunistenhirn auf den Kopf gestellt bespiegeln; die "gesetzliche Ordnung" als eine selbständige Schöpfung der "Gerechtigkeit" und die Zwangsgewalt des Staates bloß als eine Konsequenz, eine "Sanktion" der Gesetze. In Wirklichkeit ist umgekehrt die bürgerliche Gesetzlichkeit (und der Parlamentarismus als die Gesetzlichkeit im Werden) selbst nur eine bestimmte gesellschaftliche Erscheinungsform der aus der ökonomischen Basis emporgewachsenen politischen Bourgeoisie."


Quelle: Rosa Luxemburg: Ges. Werke, Bd. 1/2, S. 242




 




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