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Abbé Meslier: Das Testament.
Aus: Hartmut Krauss: Das Testament des Abbé Meslier. Die Grundschrift der modernen Religionskritik. Osnabrück 2005.
Schlußfolgerungen aus diesem ganzen Werk
Alle diese Argumente hier sind so beweiskräftig, wie sie es nur
sein können; es genügt, ihnen nur geringe oder mittlere
Aufmerksamkeit zu schenken, um ihre Evidenz einzusehen. Und so ist
durch alle Argumente, die ich oben vorgebracht habe, klar bewiesen,
daß alle Religionen der Welt, wie ich am Anfang dieser Schrift
behauptet habe, bloß menschliche Erfindungen sind und alles, was
sie uns lehren und zu glauben zwingen, nichts als Irrtümer,
Blendwerk, von Scharlatanen, Gaunern und Heuchlern erfundener Lug und
Trug, um die Menschen zu täuschen, oder von schlauen und
gerissenen Politikern erfunden, um sie im Zaume zu halten und mit dem
unwissenden Volk, das blind und einfältig alles, was man ihm sagt,
als von den Göttern kommend glaubt, nach Lust und Laune verfahren
zu können. Und diese schlauen und gerissenen Politiker behaupten,
daß es zweckmäßig und ratsam wäre, die Menschen
im allgemeinen so hinters Licht zu führen, unter dem Vorwand, es
sei nötig, daß das Volk viele Dinge nicht wisse und viele
falsche glaube.1
Da aber alle derartigen Irrtümer, Wahngebilde und Schwindeleien
die Quelle und die Ursache unendlich vieler übel,
Mißstände und Verbrechen in der Welt sind und da die
Tyrannei, die so viele Völker auf der Erde seufzen macht, es auch
noch wagt, sich dieses falschen und abscheulichen Scheinbehelfs zu
bedienen, so ist es wohl gerechtfertigt, wenn ich sage, daß
dieser ganze Wust der Religionen und staatlichen Gesetze, wie sie
gegenwärtig sind, im Grunde nur Mysterien der Bosheit sind. Ja,
meine lieben Freunde, sie sind in der Tat nichts weiter als Mysterien
der Bosheit, verabscheuungswürdige Mysterien der Bosheit, denn
durch eben dieses Mittel machen Eure Priester Euch zu elenden
Gefangenen und halten Euch unter dem verhaßten und
unerträglichen Joch ihres eitlen und irrwitzigen Aberglaubens,
immer unter dem Vorwand, Euch glücklich zu Gott führen und
seine heiligen Gesetze und Gebote beachten lassen zu wollen. Und durch
eben dieses Mittel plündern und pressen Euch die Fürsten und
Großen dieser Erde aus, unterdrücken Euch, richten Euch
zugrunde und tyrannisieren Euch unter dem Vorwand, Euch zu regieren und
das allgemeine Wohl herbeizuführen und aufrechtzuerhalten.
Ich möchte meine Stimme vom einen Ende des Königreiches bis
zum anderen ertönen lassen, oder vielmehr bis zu den Endpunkten
der Erde, und aus Leibeskräften schreien: Ihr seid von Sinnen, oh
Menschen, Ihr seid von Sinnen, Euch derart gängeln zu lassen und
blind soviel ungereimtes Zeug zu glauben. Ich würde sie darauf
hinweisen, daß sie sich im Irrtum befinden und daß
diejenigen, die sie regieren, sie mißbrauchen und betrügen.
Ich entdeckte ihnen dieses abscheuliche Mysterium der Bosheit, das sie
überall so elend und unglücklich macht und unserer Zeit
unfehlbar in den kommenden Jahrhunderten zu Schimpf und Schande
gereichen wird. Ich würfe ihnen ihre Torheit und
Einfältigkeit vor, an so viele Irrtümer, soviel Blendwerk und
soviel lächerlichen und plumpen Betrug zu glauben und dies alles
so blind zu glauben. Ich würfe ihnen ihre Feigheit vor, so lange
solch abscheuliche Tyrannen am Leben zu lassen, anstatt das
verhaßte Joch ihrer tyrannischen Regierung und
Willkürherrschaft abzuschütteln.
In der Antike sagte einmal jemand, daß nichts seltener zu sehen
sei als ein alter Tyrann, und der Grund hierfür war, daß die
Menschen noch nicht so schwach und feige waren, Tyrannen lange Zeit
regieren oder leben zu lassen. Sie hatten den Geist und den Mut, sich
ihrer zu entledigen, wenn sie ihre Macht mißbrauchten. Heutzutage
aber ist es kein seltenes Ereignis mehr, Tyrannen lange Zeit leben und
regieren zu sehen. Die Menschen haben sich nach und nach an die
Sklaverei gewöhnt, und sie sind jetzt so sehr daran gewöhnt,
daß sie fast nicht mehr daran denken, ihre einstige Freiheit
wieder zu erringen; die Sklaverei scheint ihnen eine Bedingung ihrer
Natur zu sein. Deshalb wächst die Hoffart dieser abscheulichen
Tyrannen auch von Tag zu Tag, und deshalb erschweren sie auch alle Tage
das unerträgliche Joch ihrer Willkürherrschaft noch mehr.
Superbia eorum ascendit semper (Psalm 73,32). Ihr werdet sagen,
daß ihre Bosheit und ihre Verbrechen aus dem Übermaß
ihres Fettes und dem Unmaß ihres Wohlergehens herrührten,
prodiit quasi ex adipe iniquitas eorum (Psalm 72,7), sie sind so weit
gekommen, sich in ihren Lastern und Verbrechen zu gefallen,
transierunt in a ff ectum cordis. Und deshalb auch ist das Volk so
elend und unglücklich unter dem Joch ihrer Willkürherrschaft.
Wo sind die edlen Tyrannenmörder, die man in vergangenen
Jahrhunderten gesehen hat? Wo sind die Brutus und Cassius? Wo sind die
edlen Mörder eines Caligula? Wo sind die Publicola? Wo sind die
großmütigen Verteidiger der allgemeinen Freiheit, die
Könige und Tyrannen aus ihrem Lande jagen und die jedem Einzelnen
das Recht gaben, die Tyrannen zu töten? Wo sind die Cecinna und so
viele andere, die erbittert gegen die Tyrannei der Könige
schrieben und laut ihre Stimme gegen sie erhoben? Wo sind die Kaiser,
die würdigen Kaiser, wie Trajan und Antonius der Fromme, von denen
ersterer dem obersten Beamten seines Reiches ein Schwert reichte und
ihm befahl, ihn mit eben diesem Schwert zu töten, wenn er zum
Tyrannen werden sollte, und der andere sagte, daß er lieber das
Leben eines seiner Untertanen retten würde, als tausend seiner
Feinde zu töten? Wo sind, so frage ich, diese guten Fürsten
und diese würdigen Kaiser? Solche Männer sieht man nicht
mehr! Auch sieht man keinen dieser edlen Tyrannenmörder mehr! Aber
wo sind, wenn es sie schon nicht gibt, die Jacques Clément und
Ravaillac unseres Frankreich? Warum leben sie nicht noch in unserem
Jahrhundert, ja in allen Jahrhunderten, um alle diese abscheulichen
Ungeheuer und Feinde der Menschheit zu erdolchen und zu erschlagen? Und
durch dies Mittel die Völker der Erde von ihrer tyrannischen
Herrschaft zu befreien! Lebten doch noch diese erhabenen und edlen
Verteidiger der allgemeinen Freiheit! Warum leben sie heutzutage nicht
mehr, um alle Könige von der Erde zu verjagen, alle
Unterdrücker zu unterdrücken und den Völkern endlich die
Freiheit zu geben? Warum leben alle diese tapferen Schriftsteller und
Redner nicht mehr, die die Tyrannen anprangerten, ihre Stimme gegen
deren Tyrannei erhoben und mit deren Lastern, Ungerechtigkeiten und
schlechter Staatsführung streng ins Gericht gingen? Warum leben
sie nicht noch heutzutage, um offen alle Tyrannen anzuprangern, die uns
unterdrücken? Um ihre Stimme laut gegen alle Verbrechen und alles
Unrecht ihrer schlechten Staatsführung zu erheben? Warum leben sie
nicht noch heutzutage, um mit ihren Schriften jene Personen
öffentlich für jedermann verächtlich und verhaßt
zu machen? Um endlich das Volk aufzurütteln, mit vereintem Willen
und gemeinsamer Kraft das unerträgliche Joch ihrer
Willkürherrschaft abzuschütteln?
[...] Solange Ihr die Herrschaft von Fürsten und Königen auf
der Erde duldet, werdet Ihr und Eure Nachkommen elend und
unglücklich sein; und ihr werdet elend und unglücklich sein,
solange Ihr den Irrtümern der Religion folgt und Euch ihrem
aberwitzigen Aberglauben unterwerft. Verwerft daher gänzlich diese
eitlen und abergläubischen Verrichtungen, verbannt aus Eurem Geist
den törichten und blinden Glauben an diese falschen Mysterien;
schenkt ihnen nicht den geringsten Glauben und lacht über alles,
was Euch Eure auf ihren Gewinn bedachten Priester sagen. Wollt Ihr denn
mehr daran glauben als sie selbst? Beruhigt Euren Geist und Euer Herz
ganz und gar darob, und schafft auch unter Euch alle diese eitlen und
dem Aberglauben dienenden Ämter der Priester und Opferer ab und
zwingt alle jene, soviel es ihrer auch sind, so zu leben und
nützlich zu arbeiten wie Ihr selbst, oder laßt sie sich
zumindest mit etwas Gutem und Nützlichem beschäftigen. Aber
das ist nicht genug. Strebt danach, Euch zu vereinigen, alle, so viele
es Eurer und Euresgleichen sind, um das Joch der tyrannischen
Herrschaft Eurer Könige und Fürsten abzuschütteln;
stürzt überall die Throne des Unrechts und der Ruchlosigkeit;
zertrümmert alle diese gekrönten Häupter, brecht
überall den Hochmut und die Überheblichkeit dieser stolzen
und hochmütigen Tyrannen und duldet niemals mehr, daß sie
Euch irgendwie beherrschen.
Den Vernünftigsten gebührt es, die anderen zu führen und
zu regieren, ihre Aufgabe ist es, gute Gesetze und Verordnungen zu
erlassen, die den Erfordernissen der Zeit, des Ortes und anderer
Umstände gemäß die Vermehrung und Erhaltung des
allgemeinen Wohls bezwecken: »Wehe denen«, sagt einer
unserer sogenannten heiligen Propheten, »die ungerechte Gesetze
machen. Vae condunt leges iniquas« (Jesaja io,r). Aber wehe auch
denen, die sich feige ungerechten Gesetzen unterwerfen; wehe den
Völkern, die sich feige von Tyrannen versklaven lassen und sich
selbst blind zu Sklaven von Irrtümern und Aberglauben der Religion
machen.
[...] Überzeugt Euch also selbst, geliebte Völker, daß
die Irrtümer und der Aberglaube Eurer Religion und die Tyrannei
Eurer Könige und all derjenigen, die Macht über Euch haben,
die verhängnisvollen und verabscheuungswürdigen Ursachen
aller Eurer Übel, aller Schmerzen, aller Sorgen und Eures ganzen
Elends sind. Ihr könntet glücklich sein, wäret Ihr von
diesem abscheulichen und unerträglichen Joch des Aberglaubens und
der Tyrannei befreit und würdet allein von einem guten und
vernünftigen Magistrat regiert. Deshalb schüttelt, wenn Ihr
das Herz dazu habt und Euch endgültig von Euren Leiden befreien
wollt, gänzlich das Joch derer ab, die Euch regieren und Euch
unterdrücken, vereinigt Euch und brecht mit vereinter Kraft das
Joch der Tyrannei und des Aberglaubens; vertreibt in gemeinsamer
Übereinstimmung alle Eure Priester, alle Eure Mönche und alle
Eure Tyrannen, um unter Euch einen guten, vernünftigen und klugen
Magistrat einzurichten, damit er Euch in Frieden regiere,
anständig rechtspreche, weder die einen noch die anderen bevorzuge
und sorgfältig über die Aufrechterhaltung der
öffentlichen Ruhe und des allgemeinen Wohls wache, und dem Ihr
Eurerseits unverzüglichen und zuverlässigen Gehorsam
schuldet. Euer Heil läge in Eurer Hand, Eure Erlösung hinge
allein von Euch selbst ab, wenn Ihr Euch nur alle zusammen tätet;
Ihr habt alle Mittel und die nötige Kraft, um die Freiheit zu
erringen und Eure Tyrannen zu Sklaven zu machen; denn Eure Tyrannen
hätten ohne Euch selbst keinerlei Gewalt über Euch, wie
mächtig und großartig sie auch sein mögen; ihre ganze
Größe, alle ihre Reichtümer, ihre ganze Stärke und
Macht kommen nur von Euch. Es sind Eure Kinder, Eure Eltern, Eure
Verwandte, Eure Freunde und Eure Nächsten, die ihnen im Kriege wie
auch an allen anderen Stellen dienen, wohin jene sie schicken, und jene
vermöchten ohne sie, ohne Euch nichts zu unternehmen. Sie bedienen
sich Eurer eigenen Kraft gegen Euch selbst, um Euch, so viele Ihr auch
seid, alle in ihre Sklaverei zu zwingen, und sie würden sich ihrer
auch bedienen, um Euch alle, die einen nach den anderen, zugrunde zu
richten und zu vernichten, wenn nur einige ihrer Städte oder ihrer
Provinzen versuchten, ihnen Widerstand zu leisten und ihr Joch
abzuschütteln. Aber das wäre nicht ebenso, wenn das ganze
Volk, alle Provinzen und alle Städte sich vereinigen und das ganze
Volk sich gemeinsam verschwören würde, um sich aus der
gemeinsamen Sklaverei, in der sich alle befinden, zu befreien, denn
dann wären alle diese Tyrannen bald zerschmettert und ausgerottet.
Vereinigt Euch also, Völker, wenn Ihr vernünftig seid,
schließt Euch alle zusammen, wenn Ihr das Herz habt, um Euch von
Eurem ganzen gemeinsamen Leid zu erlösen, ermutigt und ermuntert
Euch gegenseitig zu einem solch edlen, erhabenen, wichtigen und
ruhmreichen Werk, wie dieses es ist. Beginnt zunächst damit, Euch
heimlich Eure Ansichten und Wünsche mitzuteilen, verbreitet
überall so geschickt wie möglich ähnliche Schriften wie
zum Beispiel diese hier, die allen Leuten die Eitelkeit der
Irrtümer und des Aberglaubens kundtun und überall die
Willkürherrschaft der Fürsten und Könige der Erde
verhaßt machen. Unterstützt Euch gegenseitig bei einer so
gerechten wie notwendigen Sache, wo es sich um das gemeinsame Interesse
aller Völker handelt. Was Euch bei dieser Art von
Zusammenstößen und Umständen, wo es darum ginge,
für die Freiheit aller zu kämpfen, ins Verderben führt,
ist, daß Ihr Euch selber gegenseitig zu grunderichtet, indem Ihr
bei solchen Gelegenheiten gegeneinander für die Ziele der Tyrannen
oder die Aufrechterhaltung ihrer Sache und Macht kämpft, anstatt,
wie Ihr müßtet, Euch alle zu vereinen, um sie gemeinsam alle
zu vernichten und auszurotten. Ihr könntet unter solchen
Verhältnissen nichts Besseres tun, als mit vereinter Kraft dem
Beispiel derjenigen zu folgen, die sich früher heldenmütig
von der Tyrannei derer befreiten, die sie regierten und
unterdrückten, dem Beispiel der tapferen Holländer und der
tapferen Schweizer, von denen die einen heldenmütig das
unerträgliche Joch der Tyrannei der Spanier abschüttelten,
die damals vom Herzog von Alba ausgeübt wurde, die anderen ebenso
heldenmütig sich gegen die Tyrannei der grausamen Regierung, die
das österreichische Herrscherhaus in ihrem Land eingesetzt hatte,
zur Wehr setzten. Ihr habt im Hinblick auf Eure Fürsten und
Könige und alle, die Euch regieren und in jener Namen und
Autorität tyrannisieren, nicht weniger Grund und Anlaß, ein
Gleiches zu tun, da deren Tyrannei den äußersten Punkt des
Unmaßes erreicht hat.
Es heißt in unserer sogenannten heiligen und göttlichen
Schrift: »Gott hat die hoffärtigen Fürsten vom Stuhl
heruntergeworfen und Demütige daraufgesetzt. Sedes ducum
superborum destruxit Deus, et sedere fecit mites pro eis.K Und es
heißt da auch, daß er »der stolzen Heiden Wurzel
ausgerottet und Demütige an ihre Stätte gepflanzt«
habe (Jesus Sirach zo,z7/z8). Radices gentium superbarum arefecit
Deus, et plantavit humiles ex ipsis gentibus. Wer sind denn nun die
stolzen und hoffärtigen Fürsten, von denen in dieser
sogenannten heiligen und göttlichen Schrift die Rede ist? Das sind
Eure Herrscher, Eure Herzöge, Eure Fürsten, Eure Könige,
Eure Monarchen, Eure Potentaten und so weiter. Laßt zu unserer
Zeit diese Weissagung der angeblich göttlichen Worte sich
erfüllen, stürzt, wie sie es sagen, alle diese
hoffärtigen Tyrannen von ihrem Thron und setzt an ihre Stelle
einen guten, milden, vernünftigen und klugen Magistrat, daß
er Euch mit Milde regiere und glücklich in Frieden erhalte.
Welches sind die stolzen Geschlechter, von denen es in derselben
Schrift heißt, daß Gott sie mit der Wurzel ausrotten wolle?
Das ist niemand anderes als dieser ganze stolze und hoffärtige
Adel, der unter Euch lebt und Euch auspreßt und unterdrückt;
es ist niemand anderes als alle diese stolzen Beamten Eurer
Fürsten und Könige, alle diese stolzen Intendanten und
Gouverneure der Städte und Provinzen; alle diese stolzen
Steuerpächter und Empfänger von Abgaben, alle diese stolzen
Erpresser und Steuerbeamten; schließlich alle diese
hochmütigen Prälaten, Bischöfe, Äbte, Mönche
und dicken Pfründner und alle diese anderen reichen Herren und
Damen oder Fräulein, die nichts anderes auf der Welt tun, als die
Großen und die Erhabenen zu spielen, die nichts anderes tun, als
sich zu zerstreuen und jede Art von Wohlleben zu genießen,
während Ihr, das Volk, Tag und Nacht mit allerlei mühseliger
Arbeit zubringt und Euer Leben lang die ganze Last des Tages und der
Hitze tragt, um im Schweiße Eures Angesichts alle die zum Leben
notwendigen und nützlichen Dinge hervorzubringen.
Da habt Ihr, meine lieben Freunde, die wahrhaft hoffärtigen Leute,
die Ihr mit der Wurzel ausrotten solltet wie Pflanzen, die den Saft der
Erde, der sie nährt, nicht mehr aufnehmen können. Der Saft
aber, der so reichlich fließt und alle diese hoffärtigen und
stolzen Herrschaften nährt, sind die großen Reichtümer
und die fetten Einkünfte, die sie alle Tage aus der mühsamen
Arbeit Eurer Hände ziehen. Denn allein von Euch, Eurem Fleiß
und Eurer mühsamen Arbeit kommt der Überfluß aller
Gaben und aller Reichtümer der Erde. Dieser
überströmende Saft, den sie aus Eurer Hände Arbeit
saugen, hält sie am Leben, nährt sie, mästet sie und
macht sie so stark und mächtig, so hochmütig, hoffärtig
und stolz, wie sie sind. Aber wollt Ihr, Völker, wollt Ihr
gänzlich diese hoffärtigen und hochmütigen Herrschaften
da mit der Wurzel ausrotten? Dann braucht Ihr sie nur dieses
überströmenden Saftes zu berauben, den sie aus Eurer
Hände Arbeit und Eurer Mühsal ziehen. Behaltet selbst in
Euren Händen alle die Güter, die Ihr im Schweiße Eures
Angesichts so reichlich hervorbringt; haltet sie für Euch selbst
und alle Euresgleichen zurück, gebt nichts davon diesen
hoffärtigen und unnützen Herrschaften, gebt nichts davon
diesen hoffärtigen und reichen Faulpelzen; gebt nichts davon allen
diesen unnützen Mönchen und Geistlichen; gebt nichts davon
diesem stolzen und hochmütigen Adel; gebt nichts davon diesen
hoffärtigen und überheblichen Tyrannen noch jenen, die ihnen
dienen. Befehlt allen Euren Kindern, Euren Eltern, Euren Verwandten und
allen Euren Freunden, sie zu verlassen, ihren Dienst völlig
aufzukündigen und nichts mehr für sie zu tun; schließt
sie gänzlich aus Eurer Gesellschaft aus; betrachtet sie
überall, wie Ihr Ausgestoßene unter Euch betrachten
würdet, und durch dies Mittel werdet Ihr sie bald vertrocknen
sehen, wie die Pflanzen, deren Wurzeln keinen Saft mehr aus der Erde
aufnehmen.
Ihr habt keinerlei Bedarf an allen diesen Leuten da, Ihr könntet
gut auf sie verzichten, sie aber können niemals auf Euch
verzichten. Werdet doch endlich vernünftig, Völker dieser
Erde (denn ich redete gern zu allen Völkern auf der Welt, da
niemand für sie spricht und niemand ihnen sagt, was ihnen gesagt
werden müßte), Ihr alle, die Ihr nichts verstanden habt,
lernt endlich Euer eigenes Wohl kennen, lernt Euer wahrhaftes Wohl
erkennen! Und Ihr alle, die Ihr einfältig seid, lernt endlich
vernünftig zu werden! Intelligite insipientes in populo, et
stulti aliquando sapite (Psalm 93,8). Wenn Ihr also vernünftig
seid, legt allen Euren Haß, Euren Neid aufeinander ab,
vergeßt alle persönlichen Feindschaften untereinander und
wendet Euren ganzen Haß und alle Eure Empörung gegen Eure
gemeinsamen Feinde, gegen alle diese abscheulichen Tyrannen und gegen
diese ganze stolze und hochmütige Bande, die Euch
unterdrückt, so elend macht und Euch die besten Früchte Eurer
mühsamen Arbeit aus den Händen reißt und raubt. Vereint
Euch in dem gleichen Gedanken an Eure Befreiung aus diesem
verhaßten und unerträglichen Joch ihrer tyrannischen
Herrschaft wie auch der eitlen und abergläubischen Verrichtungen
ihrer falschen Religionen. Es gebe daher keine andere Religion bei Euch
als die der wahren Vernunft und der Rechtschaffenheit der Sitten,
nichts anderes als die Ehrlichkeit und den Anstand, die Aufrichtigkeit
und den Großmut des Herzens, nichts anderes, als die Tyrannei und
den abergläubischen Götzendienst gänzlich auszurotten,
nichts anderes, als überall die Gerechtigkeit und Billigkeit
aufrechtzuerhalten; es sollte nichts anderes bei Euch geben, als Irrtum
und Betrug vollkommen zu verjagen und überall die Wahrheit, die
Gerechtigkeit und den Frieden herrschen zu lassen; keine andere
Religion, als daß sich alle mit ehrlichen und nützlichen
Aufgaben beschäftigen und geordnet alle gemeinsam leben und immer
die allgemeine Freiheit erhalten und Ihr Euch schließlich alle
gegenseitig liebt und unverletzlichen Frieden und Einigkeit
untereinander bewahrt.
[...] Wenn alle diejenigen, die genauso gut wie ich, oder eher noch
besser als ich, die Eitelkeit der menschlichen Dinge kennen, die viel
besser als ich die Irrtümer und den Betrug der Religionen kennen,
die viel besser als ich die Mißbräuche und Ungerechtigkeiten
der Herrschaft über die Menschen kennen, wenigstens am Ende ihrer
Tage sagten, was sie darüber denken, wenn sie das alles
wenigstens, bevor sie sterben, in dem Maße anprangerten,
verurteilten und verdammten, wie es dies verdiente, dann sähe man
die Welt bald ihr Gesicht und ihre Gestalt verändern; man lachte
bald über all die Irrtümer und all die eitlen und
abergläubischen Verrichtungen der Religion, und man sähe bald
diese ganze prachtvolle Größe und diesen ganzen stolzen
Hochmut der Tyrannen fallen; man sähe sie bald gänzlich
bezwungen. Was aber diese Art von Verbrechen und von Irrtümern und
Mißständen überall auf der Welt so mächtig
erhält, ist, daß niemand ihnen entgegentritt, niemand
widerspricht, niemand sie dort anprangert und offen verurteilt, wo sie
einmal etabliert und zugelassen sind. Alle Völker seufzen unter
dem tyrannischen Joch der Irrtümer und des Aberglaubens, der
Mißbräuche und des Unrechts der Herrschaft, und niemand wagt
offen gegen so viele so abscheuliche Irrtümer seine Stimme zu
erheben, gegen so viele so abscheuliche Mißbräuche, gegen so
viele so abscheuliche Raubzüge und Ungerechtigkeiten, die
überall auf der ganzen Welt begangen werden. Die Weisen verstellen
sich in dieser Hinsicht, sie wagen es nicht, offen zu sagen, was sie
denken, und es ist diesem feigen und furchtsamen Schweigen zu
verdanken, daß alle die Irrtümer, dieser ganze Aberglaube
und alle die Mißstände, von denen ich geredet habe, sich auf
der Welt behaupten und sich jeden Tag noch vervielfältigen
können, wie wir es sehen.
1 Cf. S. 93.
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