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Beiträge zur Geschichte  









Die Tage danach

Für den Morgen danach hatte der Allgemeine Studentenausschuß der Freien Universität eine Protestversammlung einberufen. Sie galt dem Beschluß des Akademischen Senats, der dem SDS die Förderungswürdigkeit abgesprochen hatte. Angesichts der Ereignisse vom Vorabend war nun anderes wichtig geworden: die Sammlung von Augenzeugenberichten, eine Diskussion der Lage, Formulierung von Protesten gegen Stadtregierung und Polizei. Aber der Rektor öffnete ihnen den Henry-Ford-Bau nicht. Die Studenten mußten sich im Freien davor versammeln, sie formierten sich zu einem Trauerzug in Richtung Schöneberger Rathaus.

In der Stadt herrschte der Ausnahmezustand. Bürgermeister Albertz teilte mit, daß sich der Senat veranlagt gesehen habe, bis auf weiteres jede öffentliche Demonstration zu untersagen. Ein Heer von Polizisten riegelte den Kennedy-Platz ab. Der Trauerzug wurde gewaltsam aufgelöst, die Studenten mußten sich auf das Gelände der Freien Universität zurückziehen. Lautsprecherwagen, Wasserwerfer, Mannschaftswagen fuhren auf und machten auch hier eine Trauerfeier unmöglich. Schließlich öffnete der Dekan der Wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultät den Studenten sein Fakultätsgebäude, was ihm später die Rüge des Rektors und des Senats eintrug. Einige Tausend Studenten diskutierten vier Stunden lang. Die Professoren Gollwitzer und Löwenthal, die Schriftsteller Grass und Lettau, sowie Erich Kuby, dessen Hausverbot zwei Jahre zuvor die ersten großen Studentendemonstrationen ausgelöst hatte, sprachen vor den Versammelten. Zur gleichen Zeit waren die Rektoren der Berliner Universitäten beim Stadtsenat und boten sich an, die Maßnahmen des Senats gegen die Studenten durch scharfe Anwendung von Hausrecht und Disziplinarordnung zu unterstützen.

Diese Haltung der Rektoren hat die Lage noch verschärft. Die Studenten ziehen daraus aber auch weiterreichende Schlüsse:

"Die Universität hat sich, trotz einiger Ausnahmen, der politischen Situation nicht gewachsen gezeigt. Sie hat versagt und ihre Studenten in Stich gelassen. Auch das ist kein Zufall, kein einmaliger Fehler ohne historische Entsprechung. Es ist ein deutliches Zeichen für die Rolle der Universität in der Gesellschaft." (Knut Nevermann: "Der 2. Juni 1967".)

Die Berliner Öffentlichkeit ist beunruhigt. Die Informationen durch Senat, Polizei und Presse sind widersprüchlich und tragen nicht zur Aufklärung der tatsächlichen Vorgänge an der Oper bei. In einseitigen Kommentaren und Stellungnahmen werden die Schah-Demonstrationen als Terrorisierung der Stadt und ihrer Bevölkerung durch "einige hundert radikale Müßiggänger" (CDULandesvorstand) und "Mißbrauch des Demonstrationsrechts" (SPD-Landesvorstand) und als Ausfluß des "zügellosen Treibens eines Mobs, einer Minderheit Wirrköpfiger, hysterischer notorischer Radaumacher" (Polizeigewerkschaft) hingestellt.

Die Studenten wehren sich gegen diese Diskriminierung durch Erklärungen, durch Sammlung von Zeugenaussagen, durch Diskussionen mit der Bevölkerung am Kurfürstendamm, die sich bis in die frühen Morgenstunden hinziehen. Die Polizei verbietet, ein Gedenkkreuz an der Stelle zu errichten, an der Ohnesorg erschossen wurde. Die Hauptfrage ist: Wie kam er zu Tode? Erste Version der Polizei: Kopfverletzung durch Sturz; zweite Version: im Handgemenge habe sich versehentlich ein Schuß gelöst; dritte Version: ein Warnschuß sei abgegeben und Ohnesorg von einem Querschläger getroffen worden. Schließlich stellt sich heraus: Ohnesorg wurde von einem Polizisten in den Hinterkopf geschossen. Der Staatsanwalt nimmt sich dieses Falles an. Auf Antrag der FDP-Fraktion setzt der Senat einen parlamentarischen Untersuchungsausschuß ein. Ermittlungsverfahren und Anklagen gegen Studenten werden beschleunigt betrieben, der Senat kündigt die Einrichtung von Schnellgerichten an. Von den 47 vorläufig festgenommenen Personen bleibt der Student Fritz Teufel in Haft. Ihm wird Landfriedensbruch vorgeworfen. Die Studenten fordern den Rücktritt von Albertz, Innensenator Büsch und Polizeipräsident Duensing. Die Vorlesungen fallen aus, Diskussionen erscheinen notwendiger. Kundgebungen und Trauerfeiern finden in den Räumen der Hochschulen statt. Es gelingt den Studenten, ein gewisses Verständnis zu wecken. FU-Rektor Lieber wendet sich gegen die Übergriffe der Obrigkeit, Senat und Studentenvertretung der Technischen Universität verurteilen das Verhalten der Polizei und fordern eine strenge Aufklärung der Vorgänge. Der Berliner Bischof Kurt Scharf stellt fest:

"Hinter den Vorgängen am Ende der vergangenen Woche liegen tiefere Ursachen, Ursachen, die in der Struktur unserer Gesellschaft, der Gesellschaft in Westeuropa und in der freien Welt, gegründet sind. Die Ursachen sind zu suchen in der Art, wie wir Gemeinverantwortung wahrnehmen oder auch versäumen."

Am 8. Juni geben nach einer Trauerfeier in der Freien Universität viele tausend Studenten dem Sarg das Geleit bis zum Autobahnkontrollpunkt. Der parlamentarische Untersuchungsausschuß wird eingesetzt. Der Polizeipräsident bittet um seine Beurlaubung.


Quelle: Mager / Spinnarke: Was wollen die Studenten ? S. 112, Fischer-Verlag November 1967










 

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