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berliner manuskript 2

Die Juniereignisse in West-Berlin


Ihre gesellschaftlichen Grundlagen

Von bürgerlicher Seite wird allgemein die Version propagiert, daß die Ereignisse des 2. Juni zurückzuführen seien auf persönliches Versagen der politischen Führung der Stadt und ihrer Polizei, vor allem aber auf die "exzessive" Demonstrationspraxis und Agitation einer "radikalen Minderheit" der Studenten.

Man ist der Meinung, durch Umstellen der politischen Führung und "Durchforsten" der Polizei sowie durch Eliminieren der "radikalen Minderheit" ließe sich ein Konsensus in West-Berlin herstellen, der Ausdruck eines unbeschädigten Funktionierens von Demokratie sei.

Dieser bürgerlichen Version hängen große Teile der Studentenschaft an. Sie ist grundfalsch und beruht auf einer entweder illusionären oder willentlich deformierenden Einschätzung der wirklichen Vorgänge in West-Berlin.

Weder sind die Brutalitäten der Polizei auf persönliche Obergriffe einzelner "übereifriger" Beamten zurückzuführen, noch handelt es sich um "verständliche" Reaktionen der Polizei auf die "provokatorische" Art der studentischen Proteste.

Es handelt sich vielmehr um den bewußten Versuch des Regimes, die studentische Opposition mit einem großen terroristischen Schlag zum Schweigen zu bringen.

Im Gegensatz zur allgemeinen Strategie der herrschenden Klasse im modernen Kapitalismus, jede oppositionelle Bewegung mit antikapitalistischer Spitze durch Integration in das kapitalistische System aufzulösen, versuchten es die Herrschenden West-Berlins mit polizeistaatlichen Methoden.

Der 2. Juni war der Gipfelpunkt dieser Unterdrückungsstrategie. In Zukunft werden die Herrschenden versuchen, durch Integration ihr Ziel, die Vernichtung der studentischen Opposition, zu erreichen. Die hysterisch-terroristische Reaktion der Herrschenden auf die Studentenbewegung hat ihre Wurzeln in der besonders prekären Lage des kapitalistischen Systems in West-Berlin.

Die allgemeinen Widersprüche des westdeutschen Kapitalismus finden hier ihren schärfsten Ausdruck. Diese Verschärfung der kapitalistischen Widersprüche beruht auf der besonderen politischen Situation WestBerlins.

Der politische Widerspruch zwischen Realitäten und herrschender Ideologie, der der Politik der BRD ihren besonders irreal-aggressiven Charakter verleiht, spitzt sich in West-Berlin so zu, daß er die Existenz der Stadt lebensgefährlich bedroht.

West-Berlin hat nur dann eine Zukunft, wenn es diesen Widerspruch aufhebt, d. h. wenn es ein entspanntes Verhältnis zur DDR schafft, wenn es radikal den ganzen verlogenen ideologischen Krempel, der sich während des kalten Krieges hier angesammelt hat, die "Frontstadt-Ideologie", über Bord wirft.

Die Aufhebung der lebensgefährlichen Spannung zwischen objektiver Lage und "Frontstadt-Ideologie" würde nicht nur die ökonomische Lebensfähigkeit West-Berlins garantieren, sondern auch eine innere Demokratisierung herbeiführen, das neurotische politische Klima, in dem der Faschismus gedeiht, reinigen.

Schon heute lebt West-Berlin nur noch zur Hälfte aus eigener Kraft, und es gibt auf der Grundlage des politischen Status quo keinen Weg, aus dieser parasitär-stagnierenden Existenzform herauszukommen. Die wirtschaftliche Lage West-Berlins wird immer bedrohlicher. Der Auszehrungsprozeß an Produktivkräften nimmt beängstigendes Ausmaß an. Immer mehr Großbetriebe wandern ab, ihnen schließen sich an die qualifizierten Wissenschaftler und Technokraten, ohne die eine moderne Wirtschaft überhaupt nicht existieren kann.

Dem entspricht ein rapider Vergreisungsprozeß der Westberliner Bevölkerung. West-Berlin ist auf dem besten Wege, sich in ein parasitär dahinlebendes Altersheim zu verwandeln, das aus bloß noch politischen Gründen von der BRD künstlich erhalten wird.

In dem Maße, in dem sich die wirtschaftliche Situation der Stadt verschlechtert, intensiviert sich die antikapitalistische Aktivität der Arbeiterklasse.

Besonders gefährlich wird diese Reaktivierung der Arbeiterklasse vor dem Hintergrund der schnellen Aufwärtsentwicklung des Sozialismus in der DDR, die sich vor einer politisch erwachten Arbeiterschaft gerade in West-Berlin nicht vertuschen lassen wird. Ersichtlich ist das kapitalistische System in West-Berlin in höherem Grade gefährdet als in der BRD oder auch anderswo in Westeuropa. West-Berlin ist eines der "schwächsten Glieder" in der Kette der kapitalistischen Industriestaaten.

Mit den gleichen Gefahren, wenn auch in weitaus geringerem Maße, sieht sich das kapitalistische System in der BRD konfrontiert. Darum schaffen die Herrschenden jetzt Mittel, eine aufmuckende Arbeiterklasse sofort unterdrücken zu können. Diese Aufgabe haben die Notstandsgesetze. Die "Formierung" der Gesellschaft soll die Gefahr revolutionärer Krisen des Systems ausschalten.

Da die Entwicklung der allgemeinen kapitalistischen Widersprüche und der besonderen politischen Widersprüche der BRD in West-Berlin ein besonders scharfes Tempo und besonders radikale Formen aufweist, muß auch die "Formierung" der Westberliner Gesellschaft forciert betrieben werden.

In dieser Situation sieht sich das System durch eine radikale oppositionelle Bewegung attackiert, durch die Studentenbewegung. Diese studentische Opposition wird als Sturmvogel kommender Unruhe verstanden und erbittert bekämpft. Die Herrschenden begreifen, daß in nicht allzu ferner Zukunft diese studentische Opposition sich mit einer antikapitalistischen Arbeiterbewegung treffen würde und daß diese Verbindung von Arbeiterschaft und Intelligenz für das System eine tödliche Gefahr bedeutet.

"Wehret den Anfängen!" schreit die ultrareaktionäre Springerpresse und hat recht. Denn es sind wirklich die Anfänge.

Diese gefährdete Lage des kapitalistischen Systems in West-Berlin macht die Versuche verständlich, die Studentenbewegung durch Polizeiterror zu liquidieren. Man will so kurzfristig wie möglich mit ihr fertig werden, da man sich ausrechnet, für eine langfristige Liquidierung durch Integration nicht mehr ausreichend Zeit zu haben.

Gleichzeitig dient die gewaltsame Unterdrückung der studentischen Opposition als Modell für eine Unterdrückung proletarischer Opposition, die zur Systemhaltung nötig wird, wenn auf Grund der verschärften Widersprüche die bisherige Integrationspraxis versagt.

Neben der besonderen Problematik West-Berlins hat die oppositionelle Studentenbewegung allgemeine gesellschaftliche Grundlagen, die in der Entwicklung des kapitalistischen Systems selbst liegen. Der Kapitalismus ist in seiner jetzigen Entwicklungsphase mehr denn je auf einen massenhaften Ausstoß der Universitäten an technischer Intelligenz angewiesen. Eine moderne Wirtschaft ist ohne einen gigantischen Zustrom von Technokraten aller Disziplinen nicht mehr lebensfähig. Erforderlich ist eine rasche Produktion von "Fachidioten". Das universalistische Bildungsideal der Vergangenheit muß deshalb rigoros abgebaut werden. Insbesondere politisches Engagement erscheint als überflüssig und gefährlich.. Die Universitäten stehen durch diese gesellschaftlichen Anforderungen unter starkem Druck, der von der Universitätsbürokratie an die Studenten verstärkt weitergegeben wird. Die Rebellion gegen diesen gesellschaftlichen Druck ist das wesentliche Bewegungsmotiv der studentischen Opposition. Es ist klar, daß diese Rebellion eine antikapitalistische Spitze hat.

Dieser auf allen Universitäten lastende Druck wurde vornehmlich in West-Berlin in politische Opposition umgemünzt, weil das "Berliner Modell" der FU der Ausbildung von politischem Bewußtsein förderlich war und weil in Westberlin eine besonders intensive Reibung zwischen dem autoritären Herrschaftssystem, der ultrareaktionären Springerpresse und der progressiven Studentenschaft bestand.

Wir haben gesehen, daß in West-Berlin auf Grund der besonderen Situation des Systems auf jede oppositionelle Regung außerordentlich aggressiv reagiert wird, was wiederum auf die Opposition radikalisierend zurückwirkt.

Die Untersuchung der besonderen Situation West-Berlins zeigt, daß der 2. Juni nicht ein Unfall oder ein Zufall war, sondern daß er notwendig aus den kapitalistischen Widersprüchen West-Berlins hervorging.

Peitsche und Zuckerbrot

Der Westberliner Senat war unfähig, die studentische Opposition durch Integration aufzulösen. Deshalb versuchte er, sie auf dem brutal-simplen Wege der polizeistaatlichen Unterdrückung abzuwürgen.

Gegen diese Unfähigkeit der politischen Führung richtete sich die bürgerliche Kritik. Sie richtet sich gegen Personen und übersieht, daß die politische Führung auch unter dem Druck objektiver Verhältnisse stand, die eine Integrationspolitik erschwerten.

Sie richtet sich auch keineswegs gegen den Inhalt der Polizeiaktion vom 2. Juni, sondern gegen ihre terroristische Form, die als unklug empfunden wird.

Es wird der politischen Führung nicht vorgeworfen, daß sie die studentische Opposition vernichten wollte, sondern daß sie sich dazu unfähig erwiesen hat.

Albertz hat in diesem Punkt Selbstkritik geübt:

"Der Kern des Problems sieht so aus: Ruhe und Ordnung zu sichern und auf der anderen Seite freiheitliche Rechte nicht zu beschneiden." (Gespräch mit der WELT 16./17. Juni)

Das heißt aus dem "Freiheitlich-Demokratischen" ins Deutsche übertragen: Das autoritäre System ist zu sichern, die Opposition ist abzuwürgen, aber so, daß der spektakuläre Einsatz von polizeistaatlichen Mitteln möglichst vermieden wird.

Es ist denkbar, daß das Versagen der politischen Führung zu personalen Konsequenzen führen wird. Es wäre aber gefährlich falsch, wenn das studentischerseits als Erfolg gewertet würde. Eine neue, "bessere" politische Führung wird eine neue Strategie der studentischen Opposition gegenüber anwenden, um die Ziele der alten, "schlechteren" zu erreichen. Sie wird versuchen, die Opposition der Studenten, die sich gegen das System selbst richtet, in der Weise zu integrieren, daß die Studenten als eine Interessengruppe neben anderen im Rahmen des

Systems einen besseren Platz anstrebt und nicht mehr über den Rahmen des Systems hinausdrängt.

Der erste Schritt auf diesem Wege ist die "Versöhnungswelle" von Senat und Presse, die auf den Terror vom 2. Juni folgte. Bedeutet sie eine Revision der agressiv-reaktionären Politik des Senats und eine Buße der Presse unter dem Druck der studentischen Massenbewegung? Nein, das bedeutet sie nicht! Sie bedeutet keinen Abbruch der reaktionären Offensive gegen die studentische Opposition. Sie bedeutet vielmehr die Fortsetzung dieser Offensive mit wirksameren Mitteln. Die Taktik wurde revidiert. Ziel ist nach wie vor die Vernichtung der studentischen Opposition.

Diese versöhnlerische Taktik ist keine Erfindung des Westberliner Senats. Das Abwechseln von Peitsche und Zuckerbrot ist so alt wie die Unterdrückung überhaupt.

Man schlägt zu, um Angst zu verbreiten. Dann macht man Konzessionen. Man gießt dickes Kompromiß-Öl auf die Wellen, damit die Aufwallung der Massen abklingt, damit die Bewegung einschläft. So kann man die avantgardistische Führung der Bewegung von den Massen isolieren oder Teile dieser Führung bestechen.

Genau das will der Senat. Er will die studentischen Oppositionsführer von der Masse der Studenten isolieren und schwankende Elemente bestechen.

Dem studentischen Normalverbraucher wird die Rückkehr in den Schoß der Gemeinschaft gestattet unter der Auflage, daß er sich von seiner als "Eierschmeißer" und "Radaubrüder" diskriminierten Führung trennt.

Die studentische Protestkampagne Erfolg oder Niederlage?

Die studentische Protestbewegung gegen den Polizeiterror vom 2. Juni ist objektiv Teil und muß sich verstehen als Teil des Kampfes aller demokratischen Kräfte Westdeutschlands und West-Berlins gegen die globale Offensive der Reaktion, die in Notstandsgesetzen und "Formierung" der Gesellschaft ihren konkreten Ausdruck findet. Als solche kann sie kein Kampf um Beseitigung gewisser personalistisch verstandener Auswüchse und Deformationen bei der Exekutive sein, sondern muß mit Forderungen antreten, die auf eine fundamentale Demokratisierung des sich ständig faschisierenden kapitalistischen Systems hinzielen.

Es ist Kriterium für den politischen Gehalt der studentischen Protestkampagne, inwieweit sie ihren Kampf unter der Parole der radikalen Demokratisierung der Gesellschaft führt.

Es scheint, daß die Protestkampagne sich allzu sehr an den formalen Exzessen des Systems festmacht und nicht scharf genug, nicht inhaltlich genau gegen das System selbst angeht.

Um die studentische Protestkampagne zu untersuchen, müssen die Motive geklärt werden, die die Masse der Studenten veranlaßten, an ihr teilzunehmen.

Hauptmotiv für die Masse der Studenten war zweifellos emotionale Aufwallung, Empörung und Bestürzung über den Tod von Benno Ohnesorg. Es ist an dieser Stelle zu bezweifeln, ob es der Propaganda des AStA gelungen ist, den Tod Ohnesorgs aus der personalistischen Sphäre zu lösen, um durch ihn der Masse der Studenten die gesellschaftlichen Zusammenhänge bewußt zu machen, deren Auswuchs dieser Tod ist.

Ein weiteres Hauptmotiv erwuchs sicher aus der Gleichsetzung aller Studenten mit der Kommune, aus der Diskriminierung aller Studenten als "Wirrköpfe", "Radaubrüder", "Steine- und Eierschmeißer" durch Senat, Presse und Teile der Bevölkerung.

Diese demagogische Pauschalisierung schuf bei den Studenten Empörung aus dem Gefühl heraus, ungerecht behandelt worden zu sein. Es bestand nun das Bedürfnis, die Öffentlichkeit zur Differenzierung zwischen "anständigen" Studenten und "Radikalinskis" zu zwingen. Deshalb begann man sich von denen zu distanzieren, die von der Presse als "Rädelsführer" ausgemacht wurden. Dabei zählten als "Rädelsführer", als "radikale Minderheit" keineswegs nur die unpolitischen KommuneProvos, sondern gerade die Studenten, deren politischer Arbeit es zu danken ist, daß es an der FU überhaupt eine oppositionelle Studentenbewegung gibt.

Die Studenten mußten sich also, um sich vor der Öffentlichkeit zu rehabilitieren, von ihrer eigenen Bewegung distanzieren, die gerade in der "radikalen Minderheit" ihren Motor hatte und hat. Mit anderen Worten: Man verlangte von den Studenten ihre Kapitulation.

Aus dieser Defensivhaltung der Studenten heraus wurden die berühmten Kudammdiskussionen mit "Bürgern dieser Stadt" geführt. Diese Diskussionen waren bewußt oder unbewußt eine einzige große A p o l o g i e der Studenten gegenüber der ressentimentgeladen und diskriminierend angreifenden Bevölkerung, die einen bestürzenden Grad von Verhetzung zur Schau stellte.

Ober die Distanzierung von gewissen Randerscheinungen der Proteste, den "Eier-, Tomaten- und Steinwürfen", rutschten die meisten der diskutierenden Studenten unversehens in eine Distanzierung von der studentischen Oppositionsbewegung selbst ab, indem sie sich von den Trägern, der "radikalen Minderheit", distanzierten.

Damit war die Protestaktion gegen den Terrorismus der Herrschenden umgeschlagen in objektive Unterstützung ihrer Integrationsstrategie. Der Senat kann gleich bei seinem ersten Versuch der Integration einen Erfolg verbuchen. Daß dieser Erfolg des Gegners von vielen Studenten als ihr Erfolg mißverstanden wurde, wirft ein bezeichnendes Licht auf das noch schwach entwickelte politische Bewußtsein der großen Masse der Studenten.

Mit der katastrophal verlaufenen Demonstration vom 13. Juni am Funkturm wurde die Niederlage offenkundig.

Es war ein geradezu lächerlicher Fehler der studentischen Führung, durch Beantragung einer Demonstration in der Peripherie dem Senat die erwünschte Gelegenheit zu geben, sich sein fadenscheiniges freiheitlichdemokratisches Mäntelchen wieder umzuhängen, das er in der Aufregung verloren hatte.

Es ist schwer zu begreifen, warum die studentische Führung nicht auf einer Demonstration im Zentrum oder vor dem Schöneberger Rathaus bestanden hat. Eine offensive, konsequente Führung hätte eben darauf bestanden und keine Kompromiß-Demonstration gemacht.

Ferner war die Überlegung falsch, die albernen Auflagen des Senats (1 Ordner für 50 Demonstranten usw.) durch eigene hypertrophe Albernheiten zu übertrumpfen und so "lächerlich zu machen".

Es war doch nur eine Verlegenheitslösung, um die verfahrene Karre wenigstens optisch aus dem Dreck zu ziehen. Mit formalen Mätzchen allein aber war diese Demonstration nicht mehr zu retten. Sie hätte inhaltlicher Schärfe bedurft. Und diese fehlte vollkommen. Die als Diskussion annoncierte Sammlung fader Reden auf dem Theodor-Heuß-Platz hätte besser nicht stattgefunden.

Es ist mit dieser Demonstration genau das geschehen, was laut AStAFlugblatt hätte verhindert werden müssen. "Der Berliner Senat wurde gerechtfertigt und SEINE Auffassung von Demokratie vorexerziert."

Abermals war die Protestaktion umgeschlagen in objektive Unterstützung der Senatsstrategie.

Die Bewegung kühlt durch solche falschen Aktionen ab. Mit der Abkühlung ist eine Vorbedingung für die langfristig geplante Liquidierung der Studentenbewegung durch Integration gegeben. Eine solche Abkühlung muß verhindert werden. Deshalb muß man offensive Aktionen machen. Die Massen müssen mobil gemacht werden. Defensive und glücklose dazu führen sehr schnell zum Abbröckeln der Massenbasis.

Ansätze zu einer Offensive zeigten sich im Flugblatt des AStA "An die Berliner Arbeiter". Dort versuchte der AStA, den Arbeitern ihre gemeinsamen Interessen mit den Studenten bewußt zu machen. Daß hier ein neuralgischer Punkt berührt wurde, beweist die hysterische Reaktion des Westberliner DGB-Vorsitzenden Sickert, der den Studenten verwehren wollte, mit den Arbeitern ins Gespräch zu kommen. Man fürchtet, daß die Arbeiter sich ihrer wahren Lage bewußt werden und eine Aktionseinheit mit der oppositionellen Studentenschaft herstellen.

Die notwendige Erfolglosigkeit dieser Aktion zum gegenwärtigen Zeitpunkt soll uns nicht darüber hinwegtäuschen, daß eine erfolgversprechende langfristige Offensive der studentischen Opposition in diese Richtung erfolgen muß.

Ihre vergebliche Suche nach Verbündeten in der Bevölkerung hat den Studenten das Ausmaß ihrer Isolation bewußt gemacht. Es ist zu hoffen, daß sie daraus die richtigen Schlüsse ziehen.

Diese jetzt plötzlich aktualisierte Isolation der Studenten ist zu einem großen Teil Selbstisolation. Nicht nur die Bevölkerung kapselte sich gegen die Studenten ab, sondern auch die Studenten von der Bevölkerung. Sie haben sich, nicht ohne Geschmack daran zu finden, in die splendid isolation des ruhigen Vorortes Dahlem zurückgezogen, um dort im berüchtigten "Elfenbeinturm" exotische Süppchen zu kochen. Sie haben sich viel zu viel mit theoretischen Spezereien abgegeben und viel zu wenig mit den aktuellen Sorgen und Nöten der Bevölkerung, vor allem der Arbeiter. Das rächt sich jetzt auf unangenehme Weise.

Die Ideologie der Studentenbewegung, die in der SDS-Ideologie ihren schärfsten Ausdruck findet und dort ihren schärfsten Ausdruck in der Ideologie von Rudi Dutschke, trägt diese Isolation als fundamentalen Bestandteil mit.

Wenn man die Universitäten als den einzigen Ort betrachtet, wo Bewußtsein gedeihen kann, wo daher auch eine die Gesellschaft umwälzende Bewegung in Gang kommen kann, sieht man sich berechtigt, die Arbeiterklasse in ihrer Verdinglichung liegen zu lassen und selbst als historisches Subjekt, verbunden mit der Kolonialrevolution, der Götterdämmerung des Kapitalismus entgegenzuschreiten.

Wenn man so von vornherein, von der Theorie her, die Möglichkeit einer revolutionären Massenbewegung außerhalb der Universitäten verneint, verwandelt man diese von innen in Ghettos der Revolution. Die katastrophalen Folgen dieser letztlich elitären Konzeption zeigen sich deutlich genug in diesen Tagen.

Eine langfristige Offensive der Studenten wäre einzuleiten mit einer Revision dieser revolutionären Exklusivität. Die scheinradikale Ideologie muß beiseite gelassen und eine intensive Agitation in der Bevölkerung, vor allem unter den Arbeitern - in den Gewerkschaften - aufgenommen werden, mit dem Ziel, zur Rekonstruktion einer klassenbewußten Arbeiterbewegung beizutragen, als deren Bestandteil die Studentenbewegung eine materielle Basis hätte.

Die Studenten sollten sich klar machen, daß die Ressentiments der Arbeiter ihnen gegenüber reale und nicht ganz unberechtigte Wurzeln haben. Diese Ressentiments können nur durch langfristige Agitation unter den Arbeitern abgebaut werden und nicht durch einmaliges Verteilen von Flugblättern vor den Fabriken, wenn offensichtlich ist, daß man in der Defensive die Unterstützung der Arbeiterschaft sucht.

Die Studenten sollten verstehen, daß sie nur dann Unterstützung bei der Arbeiterschaft finden können, wenn sie nicht nur immer an ihren eigenen Problemen herumkauen, sondern wenn sie die Probleme der Arbeiterschaft dauernd verarbeiten und ihrerseits die Arbeiterschaft in ihrem Kampf unterstützen.

Autor unbekannt


Quelle: berliner manuskripte 2, Juli 1967




 




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