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Beiträge zur Politik  









So demütigend wie möglich für den Irak

Die UN-Resolution 1441 zwischen Krieg und Frieden.

Eine Textanalyse

Bernhard Graefrath

Nach wochenlangen Beratungen seiner ständigen Mitglieder hat der Sicherheitsrat auf Antrag der USA und Großbritanniens am 8. November einstimmig die Resolution 1441 angenommen. Sie wird sowohl als Chance für die Erhaltung des Friedens und Zurückweisung der amerikanischen Kriegspläne verstanden als auch als Feigenblatt zur Rechtfertigung des geplanten Angriffskrieges. Sie ist das Ergebnis der erpresserischen Forderungen des US-amerikanischen Präsidenten Georg W. Bush vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen: Entweder es gibt ein UN- Mandat für den Krieg gegen den Irak oder wir handeln allein.

»Erhebliche Verletzung«

Die Resolution tut leider so, als hätte es nicht sieben Jahre Abrüstungsmaßnahmen und Kontrollen der UNO im Irak gegeben, als wäre nicht klar, daß es keine Atomwaffen im Irak gibt, als wären die chemischen Waffen, die einst mit Hilfe der USA produziert wurden, nicht ebenso unter Aufsicht der UNO vernichtet worden wie ihre Produktionsstätten und Ausgangsmaterialien. Daß die USA die Realisierung des Übereinkommens zwischen dem Irak und dem Vorsitzenden der UNMOVIC, Hans Blix, zur Wiederaufnahme der Inspektionen Mitte Oktober verhinderten, wird mit Stillschweigen übergangen. Die Resolution behauptet nur »erhebliche Verletzungen« der Abrüstungs- und Kontrollverpflichtungen aus der Resolution 687. Es wird so getan, als würde das einer Feststellung einer Friedensbedrohung gleichkommen. Aber gerade diese von den USA behauptete These wird durch die Resolution nicht bestätigt. Darin liegt ihre potentielle Rolle zur Erhaltung des Friedens. Allerdings bedarf es zu ihrer Realisierung einer schnell wachsenden Bewegung gegen den vorbereiteten und angedrohten Irak-Krieg. Die Resolution verschärft andererseits aber nicht nur die Abrüstungs- verpflichtungen des Irak und die Kontrollbefugnisse der UNO, sie bedient mit ihrer provokativen, anklägerischen und bewußt unbestimmten Terminologie auch die amerikanische Propagandamaschine bei der Vorbe- reitung des geplanten Angriffskrieges gegen den Irak. Es ist nicht zu übersehen, daß sie ganz wesentlich die Gefahr erhöht, daß beliebige Vorkommnisse oder Versäumnisse als erhebliche Verletzung von Ver- pflichtungen ausgegeben und als Vorwand für militärische Aktionen mißbraucht werden. Die USA jedenfalls sehen sie als Instrument im Bush-Krieg.

Dem Irak bleibt trotzdem gar nichts anderes übrig, als der Resolution zuzustimmen. Eine Ablehnung, selbst der Versuch über Einzelheiten der Resolution zu verhandeln, würde den USA nur sofort als Vorwand für den geplanten Angriffskrieg dienen. Ob der Irak allerdings überhaupt in der Lage ist, die weitgehenden Forderungen der Resolution vollinhalt- lich und zeitgerecht zu erfüllen, hängt keineswegs nur von ihm ab. Zu vielfältig sind die eingebauten Fallstricke für den Irak und Sprung- bretter für jene, die den Krieg mit oder ohne UN-Mandat wollen. Die Resolution macht leider nicht unmöglich, daß sie als Persilschein für den geplanten Angriffskrieg mißbraucht wird. Das wäre furchtbar - für den Irak, für den Frieden, für die Entwicklung im Nahen Osten und nicht zuletzt für die Organisation der Vereinten Nationen selbst, die als Instrument zur Wahrung des internationalen Friedens gedacht ist.

Gewollte Ungenauigkeit

Eines der Vehikel zur Zuspitzung der Situation, die die Resolution herbeiführt, ist die Einführung des Begriffs der »erheblichen Verletzung« (material breach). Derartige Verletzungen werden für Vergangenheit und Gegenwart schon mal vorsorglich festgestellt. (Operativer Absatz 1, im folgenden OA.). Angedroht wird als weitere »erhebliche Verletzung« jede falsche Angabe oder Auslassung sowie jegliches Versäumnis des Iraks, die Resolution zu befolgen oder bei ihrer Durchführung uneingeschränkt zu kooperieren (OA. 4). Ein weites Feld für amerikanische Interpretationen. Jede solche »erheb- liche Verletzung« - von wem immer berichtet - führt zum sofortigen Zusammentritt des Sicherheitsrats, »um über die Situation und die Notwendigkeit der vollinhaltlichen Befolgung aller einschlägigen Ratsresolutionen (und das sind viele) zu beraten, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu gewährleisten.« (OA. 12)

Es wird so getan, als wäre jede Verletzung von Verpflichtungen aus einer der zahlreichen Irak-Resolutionen eine Bedrohung des Friedens. Angedroht werden »ernsthafte Konsequenzen« (OA.13). Das ist eine beliebig auslegbare politische Formulierung. Sie dient als Ersatz- formel für die Androhung von Sanktionen. In der UN-Charta gibt es diesen Begriff nicht. Ihn mit Sanktionen, ökonomischen oder militärischen, nach Kapitel VII gleichzusetzen, wäre eine Verletzung der Charta, weil diese keine ernsthaften Konsequenzen bei erheblichen Verletzungen völkerrechtlicher Verpflichtungen kennt.

Das alles ist darauf angelegt, den Eindruck zu erwecken, als hätte der Sicherheitsrat festgestellt, daß der Irak eine Bedrohung für den Weltfrieden ist, als genüge die Verletzung einer Verpflichtung, selbst wenn es sich um eine »erhebliche Verletzung« handeln sollte, militärische Sanktionen zu beschließen. Dafür aber gibt es in der UN- Charta keine Grundlage. Der Sicherheitsrat ist nicht berechtigt, die Einhaltung völkerrechtlicher Verpflichtungen mit ökonomischen oder militärischen Sanktionen durchzusetzen. Diese Mittel der Charta stehen ihm nur für die Abwendung einer Bedrohung oder Verletzung des Friedens zur Verfügung. Wenn die Medien jetzt allgemein den Eindruck erwecken, als würde eine Verletzung von Berichts- oder anderen Verpflichtungen aus der Resolution 1441 den Einsatz militärischer Mittel rechtfertigen, so bedienen sie die amerikanischen Kriegsvorbereitungen. Ein Erfolg der französischen Intervention besteht gerade darin, daß die Resolution keine Feststellung enthält, daß vom Irak eine Bedrohung des Friedens ausgeht.

Im Zentrum der Resolution 1441 steht die Einführung eines verschärften Abrüstungs- und Kontrollmechanismus (OA. 2-7). Von einer auch nur zeitweiligen Aussetzung des für die Zivilbevölkerung verheerenden Handelsembargos ist im Gegensatz zur Resolution 1284 nicht mehr die Rede. Auch an die Feststellung der Resolution 687, daß man sich der Bedrohung bewußt ist, die alle Massenvernichtungswaffen (nicht nur die des Irak) für den Frieden und die Sicherheit im Nahen Osten darstellen, wird nicht mehr erinnert, auch nicht an die Notwendigkeit, eine Zone frei von Massenvernichtungswaffen im Nahen Osten zu schaffen.

Neue Verpflichtungen für Irak

Es werden neue Verpflichtungen für den Irak eingeführt. So erstreckt sich die Berichtspflicht jetzt nicht nur auf die Programme, sondern auf »alle Aspekte seiner Programme zur Entwicklung von Massenver- nichtungswaffen«, was immer »alle Aspekte« sind. Es ist nicht mehr vom Verbot ballistischer Raketen mit einer Reichweite von mehr als 150 Kilometer die Rede, sondern von ballistischen Flugkörpern und anderen Trägersystemen, wie unbemannten Luftfahrzeugen und Ausbringungssystemen (OA. 3). Zusätzlich zu Komponenten und Subkomponenten werden »Agenzien und dazugehöriges Material« erfaßt, wo immer die Grenzen liegen. Selbst der Vorsitzende der Inspektions- gruppe, Hans Blix, hielt es für unwahrscheinlich, daß ein so um- fassender Bericht innerhalb von 30 Tagen akkurat und vollständig zusammengestellt werden kann.

Die UN-Kontrollorgane können nicht nur jedermann an einem beliebigen Ort verhören, sondern auch nach ihrem Ermessen Befragungen in- und außerhalb Iraks durchführen und die Ausreise der Befragten und ihrer Angehörigen erzwingen (OA. 5). Anzunehmen, daß damit ein breites Tor für Spionage und die systematische Abwerbung von Spitzenkräften eröffnet wird, ist keineswegs abwegig. Es sei nur an den Mißbrauch der UNSCOM durch die CIA erinnert. Schließlich wird die Resolution 1154 (1998), die das Übereinkommen zwischen der UN und dem Irak über Inspektionen in Bereichen der Präsidentenpalais regelte, einseitig aufgehoben. Sie sollen jetzt zu den gleichen Bedingungen wie andere Stätten zugänglich sein (OA.7, 3).

Die Sicherheit der Inspektoren soll durch eine ausreichende Zahl von Sicherheitskräften der UN gewährleistet werden (OA. 7,5). Weder auf die Anzahl dieser Kräfte noch deren Zusammensetzung hat der Irak irgendeinen Einfluß. Nur bezahlen darf er sie, wie den ganzen übrigen Kontrollapparat auch. Bewußt im Dunkeln bleiben auch die Grenzen des Rechts der Kontrollorgane, ganze Gebiete zu »Geschlos- senen Zonen« zu erklären, in denen der Irak alle Bewegungen in der Luft und am Boden einstellen muß (OA. 7,6).

Diese Beispiele mögen genügen, um zu zeigen, daß die weitere Verschärfung des ohnehin rigiden Abrüstungs- und Kontrollsystems durch die Resolution 1441 mit ihren vagen Begriffen und offenen Kompetenzen beliebig neuen Konfliktstoff schaffen wird. Das System ist so demütigend wie möglich ausgestaltet, nahezu unzumutbar für einen Staat, dem versichert wird, daß seine Souveränität respektiert wird. Es wurden keinerlei Sicherheiten für den Irak erörtert oder gar beschlossen, um einen erneuten Mißbrauch des Kontrollsystems für amerikanische Militärspionage auszuschließen, obgleich das angesichts der Erfahrungen mit UNSCOM und der offenen Ankündigung eines Angriffs- krieges gegen den Irak als vertrauensbildende Maßnahme dringlich not- wendig gewesen wäre.

Die Resolution 1441 kompliziert die Gesamtsituation auch dadurch, daß sie nicht nur einen verschärften Abrüstungsmechanismus einführt, sondern diesen mit einer Reihe anderer Aspekte der Irak-Resolutionen verbindet, was die Möglichkeiten für Streitfälle und Komplikationen vervielfältigt. Dazu gehört z.B., daß in der Präambel zum ersten Mal im Zusammenhang mit Abrüstungsresolutionen und im Rahmen des Kapitel VII auf die Resolution 688 (1991) hingewiesen und deren Verletzung gerügt wird (OA. 1 und 9). Damit werden nicht nur die ethnischen und religiösen Spannungen mit Kurden und Schiiten im Irak instrumentali- siert, sondern auch der Versuch unternommen, vergangene und zukünftige Militäraktionen der USA in diesem Bereich mit dem Segen der UN zu versehen. Schließlich hat die Resolution des US-Kongresses vom Oktober 2002 Bush ermächtigt, auch Militär einzusetzen, »um die Ziele der Resolution 688 zu realisieren.«

Ein anderer Versuch, die andauernden Bombardierungen des Irak durch die USA und Großbritannien abzusegnen, findet sich im Absatz 4 der Präambel. Dort wird so getan, als bezöge sich die Autorisierung der Resolution 678 (1990), militärische Gewalt anzuwenden, nicht nur auf die Befreiung Kuweits (Resolution 661, 1990), sondern auch auf alle danach ergangenen Irak-Resolutionen. Das widerspricht ganz offensichtlich dem Wortlaut und der Zielsetzung der Resolution 687 (1991), kommt aber den amerikanischen Interessen zur Rechtfertigung ihrer unilateralen militärischen Aktionen gegen den Irak sehr ent- gegen.

Besonders gefährlich ist die Formulierung im Präambelabsatz 10, die anglo-amerikanische Theorien bedient, daß jeder Staat berechtigt sei, bei einer »erheblichen Verletzung« des Waffenstillstandes durch den Irak, die Feindseligkeiten wieder aufzunehmen. Das würde auch jedes erneute Reagieren des Sicherheitsrats überflüssig machen. Eine solche Interpretation wird erreicht, indem der Eindruck erweckt wird, als wäre der Waffenstillstand nur bedingt eingetreten, nämlich abhängig davon« (be based on), daß Irak die Bestimmungen der genannten Resolution ... akzeptiert«. Jede erhebliche Verletzung der Bestimmungen würde die Verbindlichkeit der Einstellung der Feindseligkeiten aufheben.

Guter Wille wird nicht reichen

In der Resolution 687 (1991) aber wird der Waffenstillstand gegründet auf »die offizielle Notifikation der Annahme der Resolution durch den Irak an den Generalsekretär und den Sicherheitsrat« (OA. 33) und nicht auf eine zukünftig festzustellende Erfüllung der Bestimmungen der Resolution 687. Hier wird der Text der Resolution 687 durch die Resolution 1441 geradezu verfälscht. Diese läßt im Unterschied zur Resolution 686 (Abs. 4) eben keinen Raum für die Wiederaufnahme militärischer Aktionen. Die Absurdität der Theorien, daß eine Ver- letzung der Resolution 687 zur Wiederaufnahme der Feindseligkeiten berechtige, wurde u. a. bereits 1998 von Thomas Franck, einem der bekanntesten amerikanischen Völkerrechtler, nachdrücklich unter- strichen. Er erklärte, wenn man nach all dem, was nach Beendigung der Feindseligkeiten unter UN-Aufsicht im Irak geschehen sei, noch behaupten wolle, daß die UN nicht das Heft in der Hand habe ... und daß noch immer unter Berufung auf die Resolution 678 jedes Mitglied der Vereinten Nationen volle Freiheit habe, jederzeit militärische Gewalt gegen den Irak anzuwenden, sobald es der Meinung sei, es liege eine Verletzung der Bedingungen vor, die durch die Resolution 687 gestellt wurden, so würde das das gesamte UN-System zum Narren machen.

Die Resolution 1441 mit dem provokativ verschärften Abrüstungs- und Kontrollsystem, dessen Text voller »constructive ambiguities« (gewollter Ungenauigkeiten) ist, seiner Konstruktion »erheblicher Verletzungen« beliebiger Irakresolutionen, den Bemühungen, die ständigen Bombardierungen des Irak zu rechtfertigen und der unbe- stimmten Drohung mit ernsthaften Konsequenzen läßt viele Wege zum Mißbrauch offen. Es bedarf großer Wachsamkeit und des gebündelten Einsatzes aller Friedenskräfte, wenn sie zu einem Instrument zur Erhaltung des Friedens werden soll. Die Annahme der Resolution durch den Irak und der gute Wille, sie zu erfüllen, werden leider dazu nicht ausreichen.

* Unser Autor lehrte Völkerrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin und war von 1986 bis 1991 Mitglied der Völkerrechts- kommission der UNO.

Quelle: junge welt, v. 13. 11. 2002








 

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