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VÖLKERRECHT

Mangel an Beweisen

Der Rechtsprofessor UWE WESEL fordert, die Dossiers gegen Bin Laden zu veröffentlichen

Bis zum 11. September war Terrorismus im Wesentlichen eine kriminelle Erscheinung, die durch die Polizei und mit den Mitteln des Strafrechts bekämpft wurde. Wie bei uns die RAF in den 70er Jahren. Aber schon die Attentate palästinensischer Extremisten führten auch zu militärischen Gegenschlägen. Mit den Verwüstungen in New York und Washington ist die Schwelle zum Militärischen endgültig überschritten. Damit stellt sich die Frage, ob die Angriffe der USA gegen Afghanistan und gegen Bin Laden völkerrechtlich erlaubt sind. Der UN-Sicherheitsrat und die Nato haben sie mit Ja beantwortet. In Übereinstimmung mit dem Völkerrecht?

Strafrecht ist die Antwort des Staates auf Unrecht einzelner Personen. Wenn Osama Bin Laden tatsächlich verantwortlich ist für die Anschläge in New York und Washington, droht ihm Strafe für tausendfachen Mord. Krieg dagegen ist die Antwort eines Staates auf Unrecht eines anderen Staates, nach dem Völkerrecht nur erlaubt als Verteidigung gegen einen Angriff von außen. Aber die gekaperten Flugzeuge mit den Selbstmordattentätern sind von amerikanischen Flughäfen gestartet, und Bin Laden und seine Organisation sind kein Staat. Wahrscheinlich haben sie aber im Schutz eines Staates gehandelt, nämlich Afghanistans. Damit stellen sich weitere Fragen: Lässt sich das beweisen? Und rechtfertigt das das Vorgehen der USA?

Den Beweis, dass Bin Laden für die Anschläge verantwortlich ist, haben die USA öffentlich bisher nicht geführt. Nur indirekt haben die Nato, die britische und die pakistanische Regierung bestätigt, die ihnen von der amerikanischen Regierung vorgelegten Tatsachen seien eindeutig und unwiderlegbar. Die Nato jedoch ist Partei - unter Führung der USA. Die Pakistani sind stark von Eigeninteressen bestimmt, wie viele Länder in der Allianz gegen den Terror: Russland wegen Tschetschenien, China wegen seiner neuen Handelspolitik. Ein starkes zusätzliches Indiz hat Bin Laden allerdings selbst geliefert, auf jenem Videoband, das ein arabischer Sender nach den Raketenangriffen auf Afghanistan ausgestrahlt hat: Er drohte mit neuen Anschlägen und hat sich mit denen vom 11. September in einer Weise identifiziert, die immerhin rechtfertigen würde, Anklage gegen ihn zu erheben. Für eine Verurteilung reichte das immer noch nicht, wohl aber fast für einen militärischen Verteidigungsschlag. Denn nun hat er als Täter gedroht - mit Duldung der Taliban.

Das militärische Eingreifen der USA ist aber nur gerechtfertigt, wenn tatsächlich weitere Anschläge drohen. Denn Vergeltungsschläge sind völkerrechtlich nicht erlaubt. Die Taliban haben Bin Laden zwar aufgefordert, das Land zu verlassen, und angeboten, ihm selbst den Prozess zu machen. Nach Lage der Dinge ist jedoch nicht damit zu rechnen, dass sie ihm das Handwerk legen. Das militärische Vorgehen der USA wäre demzufolge als präventiver Akt der Verteidigung statthaft, wenn - und das ist entscheidend - eindeutige Beweise vorliegen, dass Bin Laden die Terrorakte zu verantworten hat. Seit Sonntag haben wir einen Anspruch darauf, dass sie vorgelegt werden.

Mit der Wende in der Bekämpfung des Terrorismus, von der Polizei zum Militär, sind innenpolitische Gefahren auch bei uns verbunden. Schon hört man Forderungen, polizeiliche und militärische Maßnahmen auch im Inneren zu verbinden. Aber wenn man damit erst anfängt, wird irgendwann statt der Polizei die Bundeswehr auch gegen eigene Bürger eingesetzt, um im Namen der Sicherheit andere Bürger zu schützen. Das verkraftet auf Dauer keine Armee. Und auch nicht die freiheitliche demokratische Grundordnung.

(Zur Person: UWE WESEL (68) lehrt Rechtsgeschichte an der Freien Universität Berlin)

Quelle: DIE WOCHE 42/01, 12. Oktober 2001


 




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