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  Politik   

 

2001-02-04

Rede des Bundesministers der Verteidigung, Rudolf Scharping, auf der Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik am 4. Februar 2001

"Gesamteuropäische Sicherheit unter Einbeziehung Russlands"

Es gilt das gesprochene Wort

Zur Lösung der globalen, aber auch der wichtigen europäischen Fragen brauchen wir Russland.

Die Einbindung Russlands in die gesamteuropäischen Sicherheits-strukturen ist notwendig. Sie gestaltet sich aber offenkundig schwieriger als viele erwartet haben.

Die Gründe hierfür sind vielfältig. Sie liegen in der realen Politik und in tradierten Verhaltensmustern Russlands genauso wie in russischen Wahrnehmungen des internationalen Umfelds.

Das Vorgehen Russlands in Tschetschenien hat die Beziehungen zu Russland belastet.

Der NATO-Einsatz im Kosovo führte zunächst zu einer Selbstisolierung Russlands, die erst allmählich durch eine politische Lösung des Kosovo-Konflikts überwunden wurde - auch dank aktiver russischer Politik.

Hier wie an anderen Beispielen zeigte sich: Solange Reflexe vergangener Jahrzehnte bleiben und die NATO nicht als Sicherheitspartner, sondern allein als Konkurrent und potentieller Gegner wahrgenommen wird, solange werden Chancen für die gemeinsame Sicherheit belastet.

Wir alle wissen, dass sich Staat und Gesellschaft in Russland in einer ungewöhnlich schwierigen Transforma-tionsphase befinden, die ein Land dieser Größe wohl jemals bewältigen musste.

Der Ausgang dieser politischen, wirtschaftlichen und auch militärischen Umwälzungen ist noch nicht klar erkennbar.
Beeindruckenden Fortschritten stehen ungewisse Reformbemühungen gegenüber.

Das Land in einen Rechtsstaat zu verwandeln und den Weg zu Demokratie, Freiheit und Marktwirtschaft zu gehen, ist natürlich zuerst eine Aufgabe der Russen selbst.

Aber das Schicksal dieses größten europäischen Landes kann uns nicht unberührt lassen.

Unsere Ziele sind klar:

Erstens: Wir unterstützen den demokratischen Prozess und die innere Transformation in Russland durch Einbindung in die europäischen Strukturen. Dieser Weg Russlands in das Europa der Menschenrechte, der Freiheit und des ökonomischen Wohlstands hat schon lange begonnen.

Er wird auch noch lange Zeit benötigen, also auch der langfristigen, zielorientierten und verlässlichen Politik bedürfen.

Bilaterale und multilaterale Zusammenarbeit sind wichtig, um diesen langfristig angelegten Prozess zu fördern.

Zweitens: Gleichzeitig wollen wir mit Russland die sicherheitspolitischen Herausfor-derungen und außenpolitischen Aufgaben bewältigen, die sich im euro-atlantischen Raum stellen.

Dies ergibt sich sowohl aus gemeinsamen Sicherheitsinteressen in vielen Fragen als auch aus der wichtigen Rolle, die Russland als Folge von Größe, Potential und Geografie für die Lösung sicherheitspolitischer Probleme in unserem Raum zukommt.

Russland ist nicht nur die größte Militärmacht auf dem europäischen Kontinent, konventionell und nuklear, es ist auch ständiges Mitglied des VN-Sicherheitsrats mit Veto-Recht.

Dass dies von Bedeutung auch für europäische Probleme ist, wurde zuletzt bei der Entscheidung über die VN-mandatierte KFOR-Friedenstruppe im Kosovo deutlich.

Fest steht: Zur Durchsetzung dieser beiden Ziele – Einbindung Russlands in die europäischen Strukturen und gemeinsame Bewältigung sicherheitspolitischer Herausforderungen - sind Dialog und Zusammenarbeit von herausragender Bedeutung.

II.

Das vergangene Jahrzehnt stand im Zeichen der Anpassung der europäischen Sicherheitsorganisationen an die neue Situation in Europa. Die NATO hat sich reformiert, sich auf das neue Aufgabenspektrum ausgerichtet und sich für neue Mitglieder geöffnet.

Die Europäische Union ist dabei, die sicherheits- und verteidigungspolitische Dimension der europäischen Integration zu entwickeln.

Die sicherheitspolitische Handlungs-fähigkeit der Europäer wurde im Ergebnis sowohl in der NATO als auch in der Europäischen Union gestärkt.

Was bedeutet das für die künftige Rolle Russlands?

Entscheidend ist: Die euro-atlantischen Sicherheitsorganisationen NATO, die EU und die OSZE bieten einen differenzierten Rahmen, in dem eine aktive Mitgestaltungsrolle Russlands möglich und wünschenswert ist.

Erstens: Die NATO hat mit der NATO-Russland-Grundakte und dem NATO-Russland-Rat Maßstäbe gesetzt. Das Potential von Dialog und Zusammenarbeit ist hier bei weitem noch nicht ausgeschöpft.

Zweitens: In dem Maße, wie die EU ihre Sicherheits- und Verteidigungspolitik entwickelt und als eigenständiger Akteur auftritt, wird sie auch ihr sicherheitspolitisches Verhältnis zu Russland, dem größten europäischen Nachbarn, bestimmen müssen.

In einer handlungsfähigeren und größeren EU wird Russland zunehmend einen wichtigen sicherheitspolitischen Partner finden.

Umgekehrt sucht die EU den Dialog mit Russland, um der gewachsenen Verantwortung für die Sicherheit in und um Europa gerecht werden zu können.

Der Dialog zwischen der EU und Russland baut dabei auf den bestehenden EU-Russland-Foren auf und ergänzt die NATO-Russland-Kooperation.

Mit der Gemeinsamen Strategie für Russland hat die EU bereits 1999 ein Zeichen gesetzt.

Die Gemeinsame Erklärung von Paris vom 30. Oktober 2000 sieht eine weitere substantielle Vertiefung der strategischen Partnerschaft zwischen der EU und Russland durch breit gefächerte Konsultationen zu sicherheitspolitischen Themen vor.

Drittens: Die OSZE hat auf dem Gipfel 1999 ihre künftige Rolle konkretisiert. Im Mittelpunkt der Charta für Europäische Sicherheit steht der Ausbau der operativen Fähigkeiten der OSZE zur schnelleren und effizienter Krisenverhütung und –bewältigung.

Auf dem Balkan spielt die OSZE eine wichtige Rolle in der Umsetzung der Friedensvereinbarungen und des Stabilitätspakts. Missionen in vielen Krisengebieten Europas unterstreichen die wichtige politische und krisenpräventive Rolle der OSZE.

Es liegt im Interesse aller Europäer, diese gesamteuropäische Sicherheitsinstitution zu stärken.

Auch Russland ist hier gefordert. Die Unterstützung von OSZE-Missionen kann nicht a la carte erfolgen.

Die Zusammenarbeit in den euro-atlantischen Foren wird ergänzt und unterfüttert durch die bilateralen Beziehungen, die beträchtliche Spielräume für Vertrauensbildung und Kooperation, nicht zuletzt zwischen den Streitkräften, bieten.

Ein Beispiel: Seit 1993 führen wir mit großem Erfolg das deutsch-russische Generalsseminar „Streitkräfte in der Demokratie“ durch. In diesem Jahr ergänzen wir es durch ein entsprechendes Seminar für jüngere Offiziere. Dies ist eine wirkliche Investition in die Zukunft.

Wichtig erscheint mir allerdings: Der Ausbau bilateraler Beziehungen zu Russland sollte von Russland nicht als Alternative zur multilateralen Zusammenarbeit gesehen werden. Beide Ansätze sind notwendig.

Der größte Teil der Sicherheitsfragen im heutigen sicherheitspolitischen Umfeld kann weder national noch allein bilateral gelöst werden.

In einer Welt komplexer, grenzüber-schreitender Risiken, wo gemeinsame Antworten auf gemeinsame Sicherheitsprobleme gefragt sind, muss das ganze Netz der Kooperation genutzt werden.

III.

Die Agenda der „europäischen Sicherheit“ ist umfassend. Sie bildet den Rahmen für eine Zusammenarbeit Russlands mit seinen euro-atlantischen Partnern auf bilateraler wie multilateraler Ebene.

Um nur einige Schwerpunkte zu nennen:

1. Die Fortentwicklung der euro-atlantischen Sicherheitsinstitutionen ist zentral für die europäische Sicherheit der Zukunft. Beide Institutionen haben eine umfassende Strukturreform eingeleitet und öffnen sich schrittweise für weitere Mitglieder .

Sie haben hierbei immer deutlich gemacht, dass in diesem Prozess Dialog und Zusammenarbeit mit Russland große Bedeutung zukommt. Russland wird nicht ausgegrenzt. Ganz im Gegenteil.

Die Mitgliedsstaaten von NATO und EU setzen

  • auf den Aufbau von Vertrauen,
  • auf stetigen sicherheitspolitischen Dialog und
  • auf den Ausbau der praktischen Kooperation.

All dies liegt auch im russischen Interesse.

2. Die Eingrenzung des Krisenpotentials auf dem Balkan, im Kaukasus, im Kaspischen Raum, in Zentralasien und im Nahen und Mittleren Osten.

In all diesen Regionen ist Russland entweder, wie im Kaukasus oder im Kaspischen Raum, unmittelbar betroffen oder es kann, wie zum Beispiel im Nahen Osten, eine aktive Rolle spielen.

Während sich im Kosovo die militärische Zusammenarbeit mit der NATO bewährt, könnte im Kaspischen Raum oder im Nahen Osten eher die Zusammenarbeit mit der EU zur regionalen Stabilisierung beitragen.
Ein beeindruckendes Beispiel für regionale Kooperation unter Einbeziehung Russlands bietet der Ostseeraum.

Im Ostseerat kooperieren Mitglieder der NATO, der EU mit Russland und widmen sich der ganzen Palette gemeinsamer Sicherheitsfragen wie zum Beispiel der Bekämpfung der organisierten Kriminalität, einem der drängendsten grenzüberschreitenden Risiken.

3. Die Erhöhung der nuklearen Sicherheit im zivilen wie im militärischen Bereich, eine gerade für die europäischen Nachbarn besonders wichtige Frage.

Auf bilateraler Ebene ist hier bereits zwischen einzelnen NATO-Staaten und Russland enormes geleistet worden, um die nukleare Infrastruktur sicherer zu machen und die nukleare, aber auch chemische Abrüstung zügig, sicher und umweltfreundlich zu gewährleisten. Auch die EU hat hier eine wichtige Aufgabe.

4.Fortschritte bei Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen und ihrer Trägermittel. Wir alle wissen, dass der Abrüstungsprozess trotz enormer Erfolge in den letzten 10 Jahren ins Stocken geraten ist.

Weitere Fortschritte sind möglich.

Denn:

  • die Nuklearpotentiale des Kalten Krieges sind immer noch zu hoch,
  • das globale Proliferationspotential ist weiter angestiegen,
  • das Wettrüsten in verschiedenen Regionen der Erde ist noch lange nicht beendet.

Um diese Risiken für die europäische sowie die globale Sicherheit und Stabilität zu reduzieren, um kooperative Rüstungskontrolle und effiziente Nichtverbreitung voranzutreiben, kommt Russland eine Schlüsselrolle zu.

Auch hier hat Russland Interessen und Verantwortung.

Gemeinsame Sicherheitsprobleme bedeuten, um dies klar zu sagen, nicht in jedem Fall identische Interessen oder identische Lösungsvorschläge.

Deshalb kann die Einbeziehung Russlands in den gesamteuropäischen Sicherheitsraum nur gelingen, wenn wir die realen Probleme und offenen Fragen, die beide Seiten beschäftigen, offen ansprechen. Dieser Dialog und, wenn nötig, Disput, dient letztendlich der Vertrauensbildung mehr als der Versuch, schwierige Themen zu umgehen.

IV.

Wir wollen die stärkere Integration Russlands in die euro-atlantischen Strukturen. Dies entspricht unserem Verständnis von gemeinsamer Sicherheit.

Die Fortentwicklung des Verhältnisses zu Russland und die Rolle Russlands in europäischen Sicherheitsfragen hängt indes ganz entscheidend davon ab, ob Russland seine europäische Verantwortung akzeptiert.

Russland ist aufgrund seiner Geschichte, seiner Kultur und natürlich seiner Geografie immer zuallererst eine europäische Macht.

Der Weg in die Gemeinschaft demokratischer Völker kann wohl dann am besten gelingen, wenn Russland sich als europäische Macht versteht und eng mit seinen europäischen Nachbarn die gesamteuropäische, demokratische Friedensordnung im 21. Jahrhundert gestalten will.

Die europäisch-amerikanische Partnerschaft bleibt davon unberührt, sie ist und bleibt unverändert Garant europäischer Sicherheit.

In diesem Verständnis sollten wir die Chance nutzen, Russland, wie es Außenminister Fischer ausgedrückt hat, ”zu einem organischen Teil und partnerschaftlichen Mitgestalter des neuen demokratischen Europas” zu machen.



Quelle: Bundeswehr




 




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