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2000-04-09

Rede von Gregor Gysi am 09. April 2000 auf dem 6. Parteitag, 2. Tagung (7. - 9. April 2000, Münster)

Liebe Genossinnen und Genossen!

(Delegierte aus Hamburg lachen höhnisch, schwenken Fähnchen, zeigen Gregor Gysi einen Vogel.)

Liebe Hamburger Genossinnen und Genossen ich meine, ihr solltet euch nicht zwingend darauf verlassen, dass sich jeder Parteitag der PDS künftig eure Art von Terrorisierung bieten lässt. Ich finde, dass die Häufigkeit eures Lachens in krassem Widerspruch zum Grad eurer Humorlosigkeit steht.

Zu Beginn unseres Parteitages hat Lothar Bisky gesprochen. Er hat erklärt, dass er auf dem 7. Parteitag nicht wieder für den Vorsitz kandidiert. Er hat das unabhängig von der Frage der Statutenänderung entschieden, die gerade beschlossen wurde und die es ihm theoretisch ermöglicht hätte, wieder anzutreten. Diese Entscheidung ist mit so viel Respekt aufgenommen worden, dass sich bis heute früh überhaupt niemand dazu geäußert hat. Ich will es aber nach Gabi Zimmer tun. Ich will dir, lieber Lothar, auch aus meiner Sicht noch einmal ganz herzlich für die harte Arbeit und vor allem für deine Integrationsarbeit danken, die Du in den letzten acht Jahren geleistet hast.

Da ich dieses Amt selbst einmal innehatte, wenn auch für wesentlich kürzere Zeit, weiß ich, wie schwer dessen Ausübung ist. Weiß ich, wieviel Nerven und Kraft es kostet. Weiß ich, dass man selber ungerecht sein muss, dass man auch Ungerechtigkeiten empfindet, aber dass das Pensum der Arbeit über alles fast menschlich Erträgliche oft hinausgeht.

Ich möchte dir auch ganz persönlich danken, einfach deshalb, weil wir dem Beispiel anderer Parteien nicht gefolgt sind. Zwischen uns beiden gab es nie diese entsetzliche Männerkonkurrenz, die wir aus anderen Parteien kennen. Wir waren immer loyal zueinander. Wir sind höchst unterschiedlich, aber auf die Art und Weise haben wir uns auch gut ergänzt. Jeder wusste vom anderen, was er kann und was er nicht kann. Darauf haben wir uns verlassen. Und, lieber Lothar, ich möchte dir eines sagen: Ämter vergehen, wirkliche Freundschaften bleiben bestehen. Meine zu Dir bleibt auf jeden Fall bestehen!

Nun gibt es seit gestern wieder gewisse Spekulationen hinsichtlich meiner Person. Ich will diese Spekulation heute beenden. Ich habe nicht vor, hierzu ein wochen- und monatelanges Tauziehen oder ein Medienspektakel in der einen oder anderen Form stattfinden zu lassen: Ich habe mich entschieden, nach elf Jahren politischer Arbeit in der ersten Reihe der PDS und auch der Gesellschaft bei der nächsten Wahl zum Fraktionsvorstand der Bundestagsfraktion nicht wieder zum Fraktionsvorsitzenden oder zu einer anderen Funktion im Fraktionsvorstand der PDS zu kandidieren.

Seht ihr, das freut mich sehr. Weil ihr immer leugnet, Gemeinsamkeiten mit den rechten zu haben. Das stimmt gar nicht. Die freuen sich genauso wie ihr vier.

Das ist eine Lebensentscheidung, die ich vor längerer Zeit getroffen habe. Es gibt viele Zeugen, dass das keinen Zusammenhang mit Entscheidungen auf diesem Parteitag hat. Ich habe den Parteivorsitzenden informiert, den Ehrenvorsitzenden, den Bundesgeschäftsführer, die Landesvorsitzenden, auch den Vorstand der Bundestagsfraktion und stand nun vor der Frage, ob ich die Entscheidung bis zum Herbst hinauszögere und bis dahin ein Spiel der Medien mit mir erlaube und ich es mit den Medien führe. Das fand ich irgendwie albern und unwürdig und habe gesagt: Wenn es entschieden ist, dann sollte man es auch bekanntgeben. Ich muss davon ausgehen, dass es vorher keinen Parteitag mehr geben wird. Und ich fand: In Anbetracht meiner Stellung in der PDS und dem, was sie für mich und ich für sie getan habe seit 1989, ist es meine Pflicht und Schuldigkeit, das einem Parteitag als erstes mitzuteilen und nicht auf einer Pressekonferenz.

Ich hatte diese Überlegung schon einmal im Jahre 1997 und damals nicht die Absicht, 1998 zur Bundestagswahl noch einmal anzutreten. Ich bin daraufhin von vielen verantwortlichen Genossinnen und Genossen dringend gebeten worden, diese Entscheidung nicht zu treffen, sondern anzutreten. Es gab zwei entscheidende Begründungen: Die eine lautete, das könnte davon mit abhängen, ob es der PDS gelänge, in den Bundestag einzuziehen oder nicht. Ich habe das als eine gewisse Überbewertung meiner Person angesehen. Auf jeden Fall sind wir eingezogen. Im Nachhinein kann man nur spekulieren, ob es denn auch anders 5,1 Prozent und vier Direktmandate geworden wären oder nicht. Ich beteilige mich an dieser Spekulation nicht. Knapp war es auf jeden Fall. Insofern war der Rat vielleicht nicht so falsch. Es kam aber noch etwas anderes hinzu. Damals versuchte der Immunitätsausschuss erneut mit allen Mitteln, mich aus dem Bundestag zu verdrängen. Ich habe durchaus registriert - weil mir immer eine gewisse Nähe zur SPD nachgesagt wird - dass gerade SPD-Leute versucht haben, mich aus dem Bundestag zu entfernen. Natürlich weiß ich, dass es auch viele sozialdemokratische Bundestagsabgeordnete gab, die davon nicht begeistert waren. Aber ich habe immer gesagt: Ihr habt die Jäger doch in den Ausschuss gewählt, also seid ihr auch mitverantwortlich und könnt euch aus dieser Verantwortung nicht stehlen. Es wäre also der Eindruck entstanden, dass ich auf deren Druck nicht wieder antrete. Dieses Bild wollte ich nun auch nicht vermitteln. Im Augenblick bin ich in der Situation, nicht unter einem solch großen Druck zu stehen. Dadurch wirkt meine Entscheidung freier, und sie ist es auch. Deshalb ist dieser Zeitpunkt wesentlich günstiger.

Vor allem steht die PDS heute ganz anders da, sowohl in den Umfragen als auch von ihren Einflussmöglichkeiten her. Sie befindet sich auf wesentlich stabilerer Grundlage. Wir werden jetzt seit Monaten in den Umfragen um 7 Prozent gehandelt. Das heißt, es ist eine andere Situation für einen politischen Generationswechsel, was ich gar nicht so sehr altersmäßig meine, sondern mehr im Zusammenhang mit der Dauer der Ausübung bestimmter Funktionen.

Ich will noch einmal etwas zu dem friedenspolitischen Beschluss von gestern sagen. Damit hier keine Missverständnisse aufkommen. Mit meiner Entscheidung hat der nichts zu tun.

Erstens: Ihr hattet über zwei friedenspolitische Anträge zu entscheiden - nicht etwa über einen friedens- und einen kriegspolitischen Antrag. Ganz egal also, welcher der beiden Anträge angenommen worden wäre: Es wäre auf jeden Fall ein friedenspolitischer Antrag angenommen worden, und daraus kann man in politischer Beziehung nicht solche Konsequenzen ziehen - zumindest nicht als Friedenspolitiker.

Zweitens: Was wollten wir denn mit der Erneuerung 1989/90? Wir wollten in erster Linie, dass Parteitage frei und nicht gebunden sind an Anträge von Vorständen, sondern dass sie auch anders entscheiden können als Vorstände und Fraktionen sich das vorstellen. In gewisser Hinsicht ist es eine Bestätigung meines Wirkens seit dem Dezember 1989, dass ein Parteitag jetzt soweit ist, gegen mich zu entscheiden. Das ist im Grunde genommen in Ordnung. Darum hatten wir im Dezember 1989 gekämpft. Ich will aber nun auch nicht verhehlen, weshalb ich ihn für falsch halte. Das muss erlaubt sein und ist auch Bestandteil der Demokratie.

Wenn der nächste Beschluss eines Sicherheitsratsbeschlusses kommt. Mal angenommen, ich würde dazu im Bundestag sprechen und würde sieben gute bis sehr gute Gründe finden, weshalb wir diesen ablehnen. Das wäre ja sowieso so - in aller Regel zumindest. Nun hat Joseph Fischer zumindest immer die Chance zu sagen: Das sind doch alles nur Vorwände. Denn auch wenn es diese sieben Gründe nicht gäbe, müssten Sie ja dagegen sein. Sie haben ja gar keinen Spielraum. Sie können hier begründen, was Sie wollen. Das macht mich also nicht besonders glaubwürdig, wenn alle wissen, dass die Antwort ohnehin vorgegeben ist und die Prüfung nur formal erfolgt.

Das Zweite, worin ich ein Problem sehe, ist: Wenn per Parteitagsbeschluss zwar gesagt wird, ihr sollt einzeln prüfen, aber die Antwort vorgegeben wird, bringt das ein gewisses Msstrauen gegenüber Parteivorstand und Bundestagsfraktion zum Ausdruck, dass sie bei der Prüfung zu einem falschen Ergebnis kommen könnten, wenn man ihnen das Ergebnis nicht vorgebe. Dieses Mißtrauen halte ich sowohl gegenüber dem Parteivorstand als auch gegenüber der Bundestagsfraktion und damit gegenüber den Gremien, die diese Leute aufstellen und wählen, für nicht gerechtfertigt. Insofern ist es ein partielles Misstrauensvotum. Das muss man sehen.

Der dritte Punkt ist, dass wir uns im Verhältnis zu anderen linken Parteien in Europa damit relativ isolieren. Deshalb bin ich auch davon überzeugt, daß der Tag kommt, an dem wir das noch korrigieren.

Der vierte Punkt ist: Der gestrige Beschluss bringt ein bisschen zum Ausdruck, dass auch wir ein instrumentelles Verhältnis zur UNO und zu ihrer Charta haben. Genau das wollte ich vermeiden - in einer Zeit, in der besonders die USA, aber auch andere Großmächte wie Deutschland versuchen, die UNO und die Charta ständig zu demontieren.

Schließlich hat mich die Gemengelage der Motivation der verschiedenen Delegierten gestört. Es ging ja nicht allen tatsächlich nur um dieses Thema: Wer den Aufruf zur Verhinderung eines Richtungswechsels gelesen hat, der wird gesehen haben, dass das Verhältnis zur DDR, zur Sozialdemokratie, zum Sozialismusbegriff, das alles mit hineingespielt hat. Diese Gemengelage bei einer Motivation auf Parteitagen ist immer sehr kompliziert, wobei ich hier ganz offen sage - da ich das letzte Mal auf einen Parteitag spreche, nehme ich mir auch das Recht heraus: Ich habe bei den Organisatoren dieses Aufrufs den Eindruck, es geht ihnen nicht darum, einen Richtungswechsel zu verhindern, sondern ihn endlich in der PDS zu erreichen. Ich bitte Euch, das nicht zuzulassen.

Als ich mich vor fast elf Jahren auf dem Außerordentlichen Parteitag im Dezember 1989 entschied, in die Politik zu gehen und Vorsitzender dieser Partei zu werden, befand sie sich in einem desolaten Zustand, in Auflösungserscheinungen. Und viele, die heute hier sind, haben damals auch ganz ernsthaft vorgeschlagen, die Partei aufzulösen. Es war gar nicht so leicht, sie mit den Mitgliedern zu erhalten, weil die Situation so aggressiv von außen war und weil eine tiefe Ratlosigkeit ganz viele von uns gepackt hatte. Ihr wisst, ich war gegen Auflösung. Und ich denke, die Entwicklung der PDS seit diesem Zeitpunkt hat bestätigt, dass es richtig war, ohne Leugnung der Geschichte aus dieser Geschichte heraus den Versuch einer wirklich demokratisch-sozialistischen Partei - zunächst in der DDR und dann in Deutschland - zu unternehmen.

Aber, liebe Genossinnen und Genossen, dazu gehört natürlich auch: Wir müssen für immer begreifen, dass das Scheitern des sogenannten real existierenden Sozialismus in der DDR nicht auf subjektive Fehler von Generalsekretären und Politbüromitgliedern und schon gar nicht in erster Linie auf sie zurückzuführen wäre. Das wäre viel zu einfach. Was wir wirklich aufklären müssen: Was waren die strukturellen Mängel, die verhindert haben, dass dieser Sozialismus das hätte leisten können, was er hätte leisten müssen - nämlich eine ökonomische, eine ökologische, eine demokratische und eine emanzipatorische Überlegenheit über den Kapitalismus. Das hat er nicht geleistet, und das war das Problem. Deshalb warne ich in unserem eigenen Interesse z.B. bei diesem "Aufruf gegen einen Richtungswechsel", dass wir das alles wieder relativieren und auf irgendwelche subjektiven Mängel und Fehler reduzieren. Damit reduzieren wir uns selbst, weil wir uns die Sicht auf die Wahrheit versperren. Damit können wir keine Zukunftsfragen aufwerfen und lösen.

Wenn wir die Defizite klar benannt haben, kann man sich auch damit auseinandersetzen, welche kulturellen und sozialen Leistungen es dennoch gegeben hat, welche wichtigen Erfahrungen die Menschen aus der DDR deshalb in die Bundesrepublik Deutschland eingebracht haben und weshalb ihnen eigentlich diese Erfahrungen nicht gegönnt werden und warum man auf diese Erfahrungen keinen Wert legt, obwohl sie so wichtig wären für die Weiterentwicklung der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland. Die Antworten auf die Fragen nach den strukturellen Defiziten zu finden, ist schwer. Aber diese Schwierigkeit rechtfertigt auch in der Programmdebatte nicht, dass wir aus Bequemlichkeitsgründen auf alte Antworten zurückweichen, nur, weil uns neue nicht einfallen. So, liebe Genossinnen und Genossen, geht es nicht. Davor müssen wir uns hüten.

In der Programmdebatte spielen immer wieder zwei Fragen eine entscheidende Rolle: Das eine ist die Machtfrage, das andere die Eigentumsfrage. Ich möchte zwei Anmerkungen dazu machen. Bei der Machtfrage kann es uns unmöglich wie früher nur darum gehen, wie man einen Wechsel des Inhabers von Macht organisiert, in der Hoffnung, wenn ein anderer die Macht ausübt, würde es allein damit automatisch gerechter werden. Das ist durch die Geschichte widerlegt. Das heißt für eine demokratisch-sozialistische Partei, dass wir eine andere Verteilung von Macht wollen, und zwar so viel wie möglich zurück an die Individuen und zentral nur das entscheiden, was zentral entschieden werden muss. Das wäre eine inhaltliche Veränderung der Machtfrage und nicht einfach der Wechsel des Inhabers.

Noch eine Bemerkung zu der immer wieder diskutierten Eigentumsfrage - sozusagen dem Heiligtum der Linken wie auch der Rechten. Es genügt auch hier nicht, über einen Inhaberwechsel nachzudenken. Es steht nirgendwo geschrieben, dass allein z.B. Verstaatlichung sichert, dass Eigentum besonders sozial und ökologisch eingesetzt wird. Es ist höchst unangenehm, dass der Vorstand von Daimler-Benz ganz alleine über 15 Millionen völlig willkürlich entscheiden kann und über noch mehr. Genauso unangenehm ist aber, wenn Günter Mittag ganz alleine über 15 Millionen entscheidet. Der Einfluss des Einzelnen ist in beiden Fällen gleich Null. Also müssen wir auch über etwas anderes in diesem Zusammenhang nachdenken, auch über verschiedene Eigentumsformen. Aber das Wichtige in Zukunft wird sein, sich auch mit den neuen Strukturen zu beschäftigen. Wir haben doch nicht mehr den Villa-Hügel-Kapitalismus. Es ist nicht mehr so, dass oben in der Villa der Eigentümer sitzt, und unten sitzen die Arbeiterinnen und Arbeiter, und nun muss man mal sehen, ob die miteinander auskommen. Wem gehört denn heute die Deutsche oder die Dresdner Bank? Die Eigentümerstruktur haben sie sehr geschickt verteilt und verändert. Die Kernfrage ist, ob wir eine Antwort auf die Frage finden, wie wir sichern können, dass Eigentum - ganz egal, ob es Staatseigentum, Privateigentum, genossenschaftliches oder kommunales Eigentum ist - in einen richtigen Verhältnis steht. Also, wie sichern wir, dass Eigentum wirklich sozial und ökologisch eingesetzt wird? Wie vergesellschaften wir die Art der Verfügung über Eigentum? Nicht einfach: Wie wechseln wir den Inhaber? Das löst die Probleme der Zukunft nicht mehr.

In diesem Zusammenhang steht auch immer die Frage Verhältnisses zur SPD. Nachdem ich diesen kurzen Aufruf vorhin zitiert habe, möchte ich gerne vor zweierlei warnen: Wir dürfen die SPD zum einen nie wieder in unserer Geschichte - so kritisch wir uns auch mit ihr auseinandersetzen müssen - zum Feindbild unserer Partei erklären. Wir haben zum anderen nicht den geringsten Grund, Widersprüche zu leugnen oder uns anzubiedern. Ich glaube, für meine Person in Anspruch nehmen zu können, dass ich mich auch mit der Sozialdemokratischen Partei ausreichend im Deutschen Bundestag auseinandergesetzt habe. Das kann man sicherlich alles noch vertiefen. Aber hätten wir eine Sozialdemokratie, die mit ihren Mitteln versuchte, den Kapitalismus so sozial wie möglich zu gestalten, und der Unterschied bestünde nur darin, dass wir darüber hinausgehen und eine sozialistische Gesellschaft wollen, dann wäre dieser erste Teil zwischen unseren beiden Parteien kein Dissens, weil wir auch versuchen, den Kapitalismus wenigstens so sozial wie möglich zu machen, solange wir ihn haben. Der Dissens wäre nur, dass wir darüber hinausgehen wollen und die SPD nicht. Nur: Heute haben wir es leider mit einer Sozialdemokratie zu tun, die daran arbeitet, den Kapitalismus unsozial zu gestalten. Und das muss man deutlich beim Namen nennen. Damit werden auch die Übereinstimmungen zwischen uns geringer. Aber soweit die SPD Vorschläge macht, ihn sozialer zu gestalten, müssen wir uns doch von ihr nicht entfernen. Natürlich wollen wir auch, dass alles durchgesetzt wird, was an Sozialleistungen heute und hier möglich ist. Und wenn das mit der SPD möglich ist oder mit wem auch immer, dann werden wir uns daran beteiligen, denn, liebe Leute: Die Menschen leben heute, jetzt und hier! Sie können nicht einfach 100 Jahre warten!

Das heißt, wir müssen in unsere Programmatik auch klare Reformalternativen aufnehmen. Reformalternativen, die Schritte eines Weges zeigen hin zu einer anderen Gesellschaft. Keine Gesellschaft ist nur durch eine einzige Seite gekennzeichnet.

Und weil das hier kritisiert worden ist, wenn auch sehr verkürzt, will ich es noch einmal an einem Beispiel erklären: Ich habe einmal gesagt, dass die Bypass-Operation eines 70-Jährigen, die in Deutschland noch von der Krankenkasse bezahlt wird, marktwirtschaftlich nicht zu erklären ist. Sie rechnet sich nicht. Deshalb haben zum Beispiel die Briten sie auch abgeschafft. Sie sagen, das muss der Betroffene, selbst wenn er sein Leben lang in die gesetzliche Krankenkasse eingezahlt hat, selber bezahlen. Es gibt lauter solche Momente. Ihr könnt doch nicht so tun, als ob die Gewerkschaften, als ob die Sozialdemokratie, als ob die vielen Bürgerinnen- und Bürger-Initiativen in der alten Bundesrepublik Deutschland nichts erreicht hätten und nichts anderen Interessen abgetrotzt hätten. Es gibt folglich auch nichtkapitalistische Momente in dieser Gesellschaft, die es zu verteidigen gilt.

Aber die Schwierigkeit bei der Herstellung zunächst der staatlichen deutschen Einheit für die PDS bestand doch nicht nur aus unserer Geschichte. Sie bestand auch in der Fremdheit der PDS. Wir dürfen nie übersehen, dass die DDR für die meisten Bürgerinnen und Bürger der alten Bundesrepublik viel mehr Ausland war, als für die Bürgerinnen und Bürger der alten DDR die Bundesrepublik jemals Ausland war. Und das, obwohl die Regierung der einen gesagt hat, sie sollen das als Ausland sehen, und die andere Regierung immer sagte, sie sollen dies als Inland sehen. Die Entwicklung im Bewusstsein und im Fühlen war völlig umgekehrt. Die Folge davon war, dass die PDS erst einmal - von allem anderen abgesehen - den Menschen in den alten Bundesländern einfach fremd war. Sie haben sie eher als eine ausländische denn als eine inländische Partei angesehen. Und Fremdheit zu überwinden, ist eine kulturelle , eine ungeheuer schwierige Frage.

Und wir hatten es mit einem zweiten Problem zu tun: Die westdeutsche Gesellschaft war durch und durch und ist es zu einem großen Teil auch noch heute geradezu militant antikommunistisch geprägt. Sie haben diesen Antikommunismus nach 1945 einfach nahtlos übernommen. Das war übrigens eine der Ursachen, warum man auch die Eliten der NS-Zeit zu einem großen Teil übernahm. Das, nicht etwa weil sie aus den Fehlern nach 1945 gelernt hätten, war auch die Ursache, weshalb sie so rigoros mit den Eliten der DDR umgegangen sind. Das steckt in Wirklichkeit dahinter.

Dieser militante Antikommunismus ist natürlich auch ein militanter Antisozialismus. Das war viel stärker in der westdeutschen als in der ostdeutschen Gesellschaft ausgeprägt - obwohl die ostdeutsche mehr unter einer kommunistischen Partei gelitten hatte als die westdeutsche, wenn man das bei dieser Gelegenheit mal sagen darf. Wir müssen immer sehen, dass das die deutsche Gesellschaft von allen übrigen europäischen Gesellschaften unterscheidet. Das hat auch mit der anderen Geschichte Deutschlands zu tun. Wir haben eben nicht schon vor 200 Jahren eine Nation von unten gegründet, sondern sie ist von Bismarck viel später von oben gegründet worden, mit der Folge, dass Deutschland meinte, in der Geschichte zu spät zu kommen. Dies hat Deutschland besonders aggressiv gemacht. Dann hatten wir den Faschismus, als Hitler auf seine Art definierte, was deutsch ist. Und schon bei der Gründung der Nation durch Bismarck wurde die Linke ausgeklammert. Er hat zeitgleich das Sozialisten-Gesetz erlassen. Und ein Teil der Linken hat das auch immer akzeptiert, hat sich als außerhalb der Nation stehend empfunden und dies in gewisser Hinsicht sogar kultiviert.

Es gab eine ganz andere Geschichte der Linken in Frankreich, in Italien, Portugal, Spanien usw. Dadurch gibt es dort eine andere Gefühlslage. Und deshalb sitzen der Antikommunismus und der Antisozialismus dort längst nicht so tief. Deshalb wurden dort Linke wie Konservative immer als Bestandteil der Gesellschaft empfunden. In Deutschland war das mit den Linken anders. Der Fehler der Linken bestand darin, dass sie das im Grunde genommen irgendwie akzeptiert haben anstatt dagegen zu kämpfen, nicht als Teil der Gesellschaft behandelt zu werden. Die Schwierigkeit ist offenkundig. Dahinter stecken eine Fülle kultureller und anderer Fragen, auf die ich hier gar nicht eingehen will. Ich will nur sagen, was eigentlich unsere Aufgabe war nach Herstellung der deutschen Einheit, weil man sich ja nicht übernehmen darf, auch nicht mit einer persönlichen Aufgabe: Es war der Abbau dieser Vorbehalte, der Abbau dieser Fremdheit. Einfach ein Stück europäische Normalität in Deutschland Einzug halten zu lassen nach dem Motto: Ja, auch die Linken sind Bestandteil dieser Gesellschaft, und es ist sinnvoll, dass sie da dass sie wirksam sind in den verschiedensten gesellschaftlichen Gremien.

Die Abwehrhaltung dagegen, liebe Genossinnen und Genossen, war groß. Und weil ich das Bild der Konservativen und übrigens auch der Sozialdemokraten von einem sozialistischen Linken, weil ich ihrem Feindbild nicht entsprochen habe, haben sie so aggressiv auf mich reagiert und acht Jahre lang gekämpft, dass ich aus diesem Bundestag verschwinde. Weil sie natürlich gemerkt haben: Da findet eine Veränderung statt. Die Leute verbinden mit uns nicht unbedingt Ängste. Während die Hamburger Delegierten solchen Wert darauf legen, dass die Leute vor ihnen Angst haben, will ich sie gewinnen! Das ist der Unterschied.

Deshalb sage ich euch: Da haben wir in den letzten zehn Jahren tatsächlich einiges gekonnt. Nur ein Beispiel: Wir machen hier unseren Parteitag in Münster, in einer Stadt, in der zu über 50 Prozent CDU gewählt wird. Kann sich jemand vorstellen, wie dieser Parteitag abgelaufen wäre, wenn wir ihn hier im Dezember 1990, kurz nach der Einheit, durchgeführt hätten? Könnt Ihr euch vorstellen, was da draußen los wäre, wie die Bürgerinnen und Bürger uns verjagt hätten, weil sie der Meinung gewesen wären, wir hätten aber auch gar nichts in ihrer Stadt zu suchen. Sie akzeptieren es heute immerhin. Das ist nicht nichts. Das ist zehnjährige harte Arbeit, dass es als normal empfinden, dass wir hier sind.

Ich glaube, dazu gehört auch, dass man Brücken in die Gesellschaft baut. Dazu gehören Gespräche, Foren. Man muss sich selber für die Gesellschaft öffnen, wenn man will, dass sich die Gesellschaft auch für einen öffnet. Auch hier hat die Partei in den letzten Jahren eine Menge gekonnt. Nun waren wir zudem in der besonderen Situation, dass wir zunächst in gravierendem Maße auch die Interessen der Ostdeutschen vertreten mussten, weil die sonst völlig in der politischen Wahrnehmung untergegangen wären und weil sie - bis heute - benachteiligt sind hinsichtlich ihrer Chancen. So entstand kulturell das Problem, dass wir ein irgendwie gemeinsames Schicksal hatten, nämlich in dem Maße, wie die Ostdeutschen als Teil der Gesellschaft begriffen wurden, wurde auch die PDS irgendwann und irgendwie als Teil der Gesellschaft begriffen. Das ging zum Teil einher. Das ist ein interessanter, seltener historischer Vorgang, einer, den man zur Kenntnis nehmen muss, um zu sagen: Das ist ein Ausgangspunkt, da muss man weitermachen. Ich finde es richtig, dass wir dies geleistet haben und dass wir solche Brücken bauen - zu Gewerkschaften, zu Kirchen, zu Bürgerinnen- und Bürger-Initiativen, auch zu anderen Parteien und Gremien. Deshalb dürfen wir in unserer eigenen Partei nicht zulassen, dass solche Brücken denunziert werden.

Um es auf den Punkt zu bringen: Wenn wir als "Forum Ost" Norbert Walter, den Chef der Deutschen Bank, einladen, und er kommt und streitet mit uns, wie der Aufbau Ost erfolgen könnte oder müsste und wie welches Geld wann für welche Zwecke zur Verfügung gestellt wird oder nicht, wenn ich beim "Tagesspiegel" ein Streitgespräch mit Klaus Landowsky führe, einem früheren Kalten Krieger der CDU aus Berlin-West, dann ist doch das Besondere daran nicht, dass wir uns mit denen unterhalten. Das Besondere ist, dass sie nach zehn Jahren der Auffassung sind, sie können dieser Form der Auseinandersetzung und des Dialogs nicht mehr ausweichen. Das ist Ausdruck des Grades der Akzeptanz, den die PDS in dieser Gesellschaft inzwischen als demokratisch-sozialistische Partei gefunden hat. Wenn ihr Hamburger Genossen dann schreit, da könnte man auch Pinochet einladen, dann zeigt das, dass Ihr überhaupt keine Ahnung von solchen Leuten habt. Norbert Walter macht viel mehr in Indien als ihr alle zusammen. Der ist letztlich auch nur Angestellter, wenn auch ein sehr gut bezahlter. Und natürlich hat er eine ganz bestimmte Interessensituation. Aber wenn wir nicht mehr gesprächs- und nicht mehr dialogfähig sind, dann sind wir auch nicht gesellschaftsfähig! Das ist das Entscheidende, liebe Genossinnen und Genossen!

Ich sage euch, das wird alles noch viel schwieriger. Ein Beispiel: Es gibt tatsächlich eine Gemeinsamkeit zwischen Konservativen und Linken in diesem Land, die es in dieser Form noch nie in der Geschichte gab. Und zwar besteht sie darin, dass beide, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven, daran interessiert sein müssen, die innere Einheit Deutschlands so schnell wie möglich herzustellen. Die einen aus nationalen Gründen. Die Linken aus ganz anderen. Wir brauchen die innere Einheit, damit die eigentlichen Widersprüche der Gesellschaft deutlich werden und nicht verdeckt werden durch die Ost-West-Nebenwidersprüche, die die Sicht auf den wirklichen Unterschied zwischen oben und unten, zwischen Reich und Arm eher versperren. Deshalb hätte ich gar keine Hemmungen, selbst wenn ich weiß, dass ihre Motive ganz andere sind, daran mit ihnen gemeinsam, wenn es irgendwie geht, auf irgendeinem politischen Feld, zu wirken. Wo kommt denn schon wieder die Angst her, liebe Genossinnen und Genossen, dass uns irgend jemand falsch beeinflussen könnte? Jahrzehnte hatten die Konservativen Angst vor dem Einfluss der Linken. Seien wir doch auch mal mit mehr Selbstvertrauen ausgestattet! Wir können uns in jede Form von Zusammenarbeit, Diskussion und Auseinandersetzung begeben, denn wir wollen die gerechtere Gesellschaft. Wir müssen nicht immer fürchten, dass die anderen uns kaputt machen. Lasst uns doch einmal davon ausgehen, dass wir sie beeinflussen, dass wir ein bisschen die Gesellschaft verändern!

Wir müssen natürlich auch sehen, dass es international sehr viel komplizierter wird. Wir haben im Augenblick eine unipolare Welt. Die USA entscheiden fast allein oder wollen fast allein entscheiden, was auf dieser Welt geschieht. Nun bildet sich die Europäische Union als eine Art Konkurrenzpol heraus. Wir stehen also vor der spannenden Frage als demokratische Sozialistinnen und Sozialisten: Was machen wir nun? Schwächen wir die EU so weit wir können, denn hier entsteht ja ein kapitalistisches Zentrum? Oder sagen wir, das ist uns viel zu gefährlich mit einer unipolaren Welt, und deshalb unterstützen wir die Herausbildung der Europäischen Union als weiteren Pol in dieser Welt unter Inkaufnahme der Tatsache, dass es sich um ein kapitalistisches Zentrum handelt? Wir werden um die Frage nicht herumkommen. Und dass ich aus vielen Gründen - gerade nach den Besuchen in den Ländern, wo ich in letzter Zeit war, Chile, Vietnam, China usw. - dafür bin, dass wir eine multipolare Welt bekommen und keine eindimensionale Weltordnung nach den Wünschen und Vorstellungen der Vereinigten Staaten von Amerika, werde ich wohl oder übel daran mitwirken müssen, eine Europäische Union als Gegen- und Konkurrenzpol zu den USA mit aufzubauen, aber gleichzeitig dafür wirken, soviel wie möglich Demokratie, ökologischen Umbau und soziale Gerechtigkeit dabei zu verwirklichen und alles zu kritisieren, was dem entgegensteht. Das ist doch ganz selbstverständlich, dass das dazugehört.

Neue Strukturen haben auch die Finanzwelt verändert: Viele kleine und mittelständische Unternehmen in Deutschland sind heute nicht weniger abhängig von den Banken als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, zum Teil sogar noch mehr. Wir sind deren natürliche Verbündete und dürfen diesbezüglich nicht die geringsten Befürchtungen bei einer Zusammenarbeit und Interessenvertretung haben. Das Problem ist, dass sie das noch nicht alle wissen. Das können wir ihnen ja deutlich machen.

Ich will noch eine Bemerkung zur Kultur in unserer Partei machen. Dazu will ich eine Kleinigkeit beschreiben und euch auch sagen, warum sie mich stört: Ich komme hier zu Beginn des Parteitages herein, setze mich dort neben Lothar. Es kommen die Fotoreporter an und fotografieren uns beide - was sicherlich nicht in erster Linie mit unserem Aussehen zusammenhängt. Da stehen auf einmal hinter uns zwei Genossen und halten ein Plakat hoch, damit es auf jedem Foto drauf ist, mit der Aufschrift "Soldaten sind Mörder". Nun kann das ja einer gut finden. Die beiden wissen aber, dass Lothar und ich es nicht gut finden - aus welchen Gründen auch immer. Die Frage ist: Darf ich jemanden zwingen, dass er so fotografiert wird, wie ich mir das vorstelle und wie es seinem Willen nicht entspricht? Ich sage euch: Ich habe noch nie jemanden gezwungen, sich vor einem Plakat fotografieren zu lassen, das er ablehnt. Ich möchte auch selber von niemanden gezwungen werden, mich vor einem Plakat fotografieren zu lassen, das ich nicht will. Ich will, dass das respektiert wird! Das ist ein Persönlichkeitsrecht!

Ganz abgesehen davon, dass ich das Essay von Tucholsky toll finde, und es ist auch völlig richtig, dass das Bundesverfassungsgericht gesagt hat, dass der Spruch straffrei bleibt. Aber warum ich es dennoch falsch finde, will ich sagen: In dieser Bundeswehr dienen viele junge Männer, die auch Mitglieder der PDS sind. Viele haben Eltern, die in der PDS sind. Wir haben überhaupt keinen Grund, sie zu beleidigen. Wir können auch sie für eine wirkliche Friedenspolitik gewinnen. Und das müssen wir versuchen. Nicht abstoßen, wegdrängen und beleidigen - gewinnen müssen wir sie. Das ist unsere Aufgabe!

Ganz abgesehen davon, dass ich es auch nicht schön finde, wenn wir hier, auf unsere Einladung, den stellvertretenden Vorsitzenden des Bundeswehrverbandes als Gast begrüßen, und es buhen welche. Wisst ihr überhaupt, was wir nur mit dem Bundeswehrverband gemacht haben, der so eine Art Gewerkschaft der Bundeswehr ist. Das waren die Leute, die dafür gekämpft haben, dass das Rentenstrafrecht bei Berufssoldaten der NVA wegfällt. Das waren die Leute, die dafür gekämpft haben, dass sie gleich behandelt werden. Sie haben sogar Verteidigerkosten für angeklagte Grenzsoldaten bezahlt. Und die müssen hier ausgebuht werden?

Und wenn dann in der Zeitung steht, dass ich bei einem Gespräch mit dem Vorsitzenden des Bundeswehrverbandes - natürlich spreche ich mit ihm - eine Übereinstimmung dergestalt habe, dass wir beide die Abschaffung der Wehrpflicht wollen. Was wollt ihr denn noch mehr von dem Vorsitzenden des Bundeswehrverbandes, als dass er mit der PDS bei der Forderung übereinstimmt, die Wehrpflicht abzuschaffen! Da regt Ihr euch über das Gespräch auf, anstatt euch zu bedanken für diese Art von Dialog und gegenseitiger Einflusspolitik.

Deshalb auch noch eine Bitte zur Sprache, liebe Genossinnen und Genossen: Ich weiß, dass wir mit bestimmten Vokabeln aufgewachsen sind. Und ich weiß, dass sich nicht Wenige in den vergangenen elf Jahren daran gestört haben, mit welchen Vokabeln ich operiere, weil sie ihnen fremd waren. Ich habe nur eine Bitte: Es ist eine dogmatische linke Methode, zu versuchen, den Leuten sozusagen die eigene Sprache aufzuzwingen und nur dann Überzeugungen zu akzeptieren, wenn sie in den eigenen Vokabeln geäußert werden. Warum nehmen wir denn nicht die Sprache der Leute an? Was, glaubt ihr denn, ist die Frage von Armut und Reichtum anderes als die Klassenfrage. Aber wenn ich von Reichtum und Armut spreche, dann wissen die Leute, was ich meine. Dann hören sie zu. Im anderen Falle halte ich ihnen einen ideologischen Vortrag, bei dem sie weghören. Wieso bin ich denn verpflichtet dafür zu sorgen, dass sie weghören!

Warum können wir uns nicht mit ihnen in ihrer Sprache unterhalten! Das macht 30 bis 50 Prozent der Wirkung aus. Hier sollten wir noch sehr viel flexibler werden. Das beziehe ich auch auf den gelegentlich professoralen Stil unserer Programmthesen usw. Auch da würde ich gerne mal einen Übersetzer hinzuziehen, der es so sagt, dass es auch jemand verstehen kann. Das ist schwer. Das gebe ich zu. Aber möglich scheint es mir auch zu sein.

Die PDS ist insofern erfolgreich, als sie heute deutlich in den neuen Bundesländern verankert ist und auch in den alten Bundesländern wachsend akzeptiert wird. Liebe Genossinnen und Genossen, das wird sich nicht so schnell in Wahlergebnissen zeigen. Aber das Wichtigste ist, dass die meisten Menschen in den alten Bundesländern inzwischen akzeptieren, dass es uns gibt, und immer mehr sagen, das ist auch ganz gut, dass es sie gibt. Selbst wenn sie uns noch nicht wählen. Das ist doch nicht nichts. Was meint ihr: Wenn wir im Jahre 1990 eine Volksabstimmung über uns durchgeführt hätten, was aus uns geworden wäre! Das hat sich geändert. Jetzt sage ich: Denunziert Akzeptanz nicht, sondern nutzt sie und lasst uns etwas daraus machen. Das ist das Entscheidende!

Natürlich müssen wir uns mit der konkreten Politik auseinandersetzen, und das muss auch in unsere Programmatik Einzug finden - natürlich in ein Parteiprogramm nicht so sehr wie in Wahlprogramme. Aber die Leute müssen nachvollziehen können, zu welchen Schritten und Reformen wir kommen wollen. Das geht auch nur, wenn wir mit dem, was da ist, beginnen, das heißt, wenn wir uns an den Realitäten messen lassen. An dieser Stelle müssen wir die Auseinandersetzung führen. Deshalb brauchen wir so etwas Ähnliches wie die Einheit von Ökonomie, Ökologie, Gleichstellung und sozialer Gerechtigkeit auch in all unseren Programmen. Warum reicht denn der Slogan der sozialen Gerechtigkeit oft nicht aus? Die Leute glauben uns schon, dass wir gerechter verteilen würden. Sie haben nur Zweifel, ob - wenn wir die Verantwortung trügen - noch etwas zum Verteilen da wäre. Also müssen wir ihnen genau diese Sorge nehmen und ihnen auch eine unseren Vorstellungen entsprechende Wirtschaftspolitik vorlegen, bei der klar ist: Natürlich wollen wir Wertschöpfung, um sozialer verteilen zu können. Das müssen wir deutlich machen, und das Ganze im Rahmen eines ökologischen Umbaus. Das muss alles irgendwie übereinstimmen und zusammengehen. Dann wird auch unser Kampf um soziale Gerechtigkeit noch glaubwürdiger.

Zu den aktuellen Fragen, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen. Ich kann derzeit nur drei Punkte nennen: Es ist doch klar, liebe Genossinnen und Genossen. Der Kampf gegen Rassismus bleibt ein ganz wichtiges Moment. Wenn ich sehe, wie Rüttgers hier versucht, mittels rassistischer Momente einen Wahlkampf zu führen, dann ist doch klar, wie hochaktuell das ist! Wenn ich sehe, welche Erfolge Haider in Österreich damit hat! Da ist es die Aufgabe der Linken, das ganz klar zu machen, den Menschen aber auch zu erläutern, auf sie zuzugehen - auch dort, wo es schwer ist - und ihnen zu sagen: Nicht die Ausländerinnen und Ausländer sind euer Problem, sondern die ungerechte Verteilung in dieser Gesellschaft, der Unterschied zwischen oben und unten! Schaut nicht nach unten, schaut nicht zur Seite, schaut endlich nach oben! Das heißt, dass wir so einen Slogan wie "Kinder statt Inder" natürlich als zutiefst inhuman ablehnen. Das wird mit der PDS nie und niemals machbar sein! Das ändert allerdings auch nichts daran, gleichzeitig zu kritisieren, dass offensichtlich die Bildungspolitik verheerend sein muss, wenn man keine Experten mehr hat. Und es ändert auch nichts daran, dass wir die SPD an dieser Stelle kritisieren, weil sie Experten in der Welt sucht und sich der Armut verschließt. Das ist mit uns nicht machbar und auch nicht hinnehmbar!

Natürlich müssen wir auch an die gegenwärtige Generation von Rentnerinnen und Rentnern, an die Arbeitslosen von heute denken. Da hat die Regierung im letzten Jahr und die Mehrheit im Bundestag von SPD und Grünen drastische Kürzungen beschlossen. 10 Milliarden hätte es sie gekostet, es nur so zu belassen, wie es unter der Kohl-Regierung war. Da haben sie gesagt, dass die einfach nicht da seien. Es bricht mir fast das Herz, sagte Eichel.. Aber sie sind nicht da. Wir können nichts machen. Im Februar kommt derselbe Bundesfinanzminister dann in den Bundestag und schlägt eine Unternehmenssteuerreform einschließlich einer Einkommenssteuerreform vor und sagt, dass er damit alle Steuerpflichtigen bis zum Jahr 2005 um 70 Milliarden DM entlaste. Plötzlich hat er 70 Milliarden DM zu verschenken! Dann hätte er doch bloß um 60 Milliarden DM zu reduzieren brauchen. Dann hätte er die 10 Milliarden DM gehabt, um Rentnerinnen und Rentner und Arbeitslose wenigstens nicht schlechter zu stellen, wie sie es beschlossen haben!

Unsere Vorschläge zur Steuerreform, aber auch zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit im Zusammenhang mit Arbeitszeit, mit einem öffentlich geförderten Beschäftigungssektor, im Zusammenhang mit der Förderung kleiner und mittelständischer Unternehmen, mit regionaler Ausschreibung und vielem anderen. All das muss auch hinein, sowohl ins Parteiprogramm als auch in detaillierte Wahlprogramme. Ich weiß ja auch, dass das nicht alle lesen. Aber es reicht schon, wenn wir es lesen. So können wir es wenigstens als Information an Infoständen transportieren.

In diesem Sinne müssen wir lernen, Programme so konkret wie möglich zu machen, damit die Leute einen Aha-Effekt haben und sagen, so könnte es tatsächlich gehen. Wenn wir ihnen nur abstrakte Sachen hineinschreiben, werden sie sagen: Alles schöne Träume, aber ich will keine Träume wählen. Es ist zwar wichtig zu träumen, aber das reicht mir nicht. Wir müssen das Träumen und das Reale miteinander verbinden, und zwar so glaubwürdig wie möglich!

Auf diese Art und Weise verändert man eine Gesellschaft. Ihr dürft nicht vergessen, bei all den Punkten, wo es Momente gibt, die nicht kapitaldominiert sind, wenn die Leute diese als normal empfinden, denken sie doch in diesem Zusammenhang nicht kapitaldominiert, sondern sie denken dann nach anderen Kriterien. Das auszuweiten, ist die selbstverständliche Aufgabe einer demokratisch-sozialistischen Partei. Diese Momente müssen in einer Gesellschaft gefunden und verstärkt werden.

Ich sage es mit einer Bitte ganz deutlich am Schluss meiner letzten Rede auf einem Parteitag: Lassen wir uns die Partei nicht kaputt machen - nicht von außen, aber auch nicht von innen! Diese Partei hat eine Zukunft. Wir sind noch nicht über den Berg. Aber wir sind ein gutes Stück dabei schon gegangen. Jetzt müssen wir ein bisschen darauf achten, aber gleichzeitig auch risikofreudig sein und uns in jeder Hinsicht nach vorne bewegen. Wir müssen diese Gesellschaft verändern wollen und deshalb auch zu dieser Gesellschaft gehören. Anders können wir sie nicht verändern.

Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, euch zu sagen, dass diese vergangenen elf Jahre für mich eine ausgesprochen schwere Zeit waren. Dass ich auch eine ganze Menge durchgemacht habe. Dass ich die ganze Zeit in der Öffentlichkeit stand und es nicht leicht ist, immerzu öffentliche Person zu sein und alles öffentlich registriert zu sehen, was man macht und was nicht. Ich bin dabei sehr viel angegriffen und angefeindet worden. Das war nicht ganz leicht. Aber ich habe in dieser Zeit auch eine Menge gelernt. Es gab auch vieles, was mir Spaß gemacht hat. Ich habe Erfahrungen gesammelt wie vielleicht in keiner anderen Zeit. Und ich habe in dieser langen Zeit viele Freundinnen und Freunde gefunden - gerade und in erster Linie in dieser Partei. Diese Freundschaften möchte ich allesamt nicht missen. In dieser Zeit habt Ihr euch in den schwierigsten Situationen mir gegenüber immer sehr solidarisch verhalten. Dafür möchte ich mich heute herzlich bedanken. Und ich möchte euch allen einfach Gesundheit, Wohlergehen und persönliches Glück wünschen und sagen: Lasst unser Motto nach diesem Parteitag lauten: PDS - jetzt erst recht!



Quelle: PDS Online, 09.04.2000


 




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