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1995-07-19

Informationsgesellschaft - Medien und Informationstechnik

Eckwerte-Papier

(Bonn, 19. Juli 1995)

Prof. Dr. Peter Glotz Doris Barnett Arne Boernsen Edelgard Bulmahn Hans Martin Bury Wolf-Michael Catenhusen Freimut Duve Anke Fuchs Eike Maria Hovermann Otto Schily Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk Ludwig Stiegler Joerg Tauss Wolfgang Thierse Ute Vogt (Mitglieder der SPD-Bundestagsfraktion) Die dritte industrielle Revolution, die, so Jacques Delors, die Menschheit zur Informationsgesellschaft verwandeln wird, erscheint zunaechst einmal als Aufbruch in einen technologischen Irrgarten. Ein entfesselter technischer Fortschritt, angetrieben von weltumspannender Wirtschaftskonkurrenz und permanenter Zukunftsangst jener, die zurueckbleiben oder sich zurueckgeblieben fuehlen, bringt unablaessig neue Datenuebermittlungsmedien, neue Datenverarbeitungsgeraete, neue Datentraeger und neue Softwareprogramme hervor. Die Komplexitaet und Geschwindigkeit der Entwicklung ist atemberaubend und stellt die wirtschaftliche und soziale Herausforderung fuer die industrialisierte Welt an der Schwelle zum 21. Jahrhundert dar. Gleichzeitig hat ueber 50 % der Weltbevoelkerung noch nie ein Telefon in Haenden gehalten, 80 % noch nie einen Taschenrechner bedient, ganz zu schweigen von einem Laptop. Wer also heute von der globalen Informationsgesellschaft spricht, hat (zumindest fuer die naechsten Dekaden) die alten Industriegesellschaften im Auge, die sich gerade zu Informationsgesellschaften wandeln, also eine technisch und finanziell vergleichsweise gut ausgestattete "Minderheit" der Menschheit. Die Deutschen gehoeren zu dieser Minderheit. Wir muessen uns klar machen: Die Kommunikation ist einerseits das Nervensystem eines gesellschaftlichen "Organismus". Wenn es nicht mehr funktioniert, kollabiert dieser Organismus. Die Informationstechnik koennte andererseits der groesste Wachstumsmarkt der naechsten Jahrzehnte werden; Marktforscher schaetzen fuer Europa eine Steigerung des Umsatzes mit verschiedenen Formen der Multimediaanwendungen von 1,5 Mrd. Dollar im Jahr 1994 auf 40 Mrd. im Jahr 2000. Solche Schaetzungen kann man anzweifeln. Unabhaengig davon gilt: Wenn neue, hochqualifizierte Arbeitsplaetze entstehen sollen, haben wir nicht die Wahl, auf diesen Markt zu verzichten, wohl aber DIE OPTION ZU SEINER AKTIVEN UND SOZIALEN GESTALTUNG. Wenn - unter dem populaeren Stichwort Datenautobahn - die Neuerungen beschworen werden, die eine moderne Telekommunikationsinfrastruktur mit sich bringen, wird vor allem ueber einige wenige, rasch profitable Multimediaanwendungen gesprochen: Ueber die Vervielfachung der Fernsehkanaele, Near-Video-on-demand, Video-on-demand, Computerspiele usf., also Unterhaltungsangebote. Es geht aber um viel mehr. Es geht um die internationale Vernetzung von Betrieben, Schulen und Ausbildungsstaetten, von Hochschulen und Bibliotheken, von Arztpraxen und Krankenhaeusern, von dezentralen Arbeitsplaetzen aller Art mit dem Ziel, eine neue Form der Kommunikation, der Datenbewaeltigung und der Effizienzsteigerung moeglich zu machen. Es geht um eine Neubestimmung der Rolle des kommunizierenden Menschen als gleichberechtigtem Teilhaber in inem neuorganisierten gesellschaftlichen Kommunikationsprozess, um die "AEnderung des Schaltplanes" (Vilem Flusser). Der Zapper im Mediamix, der in einer digitalen Welt mit Hilfe der Instrumente Telefon, Personalcomputer und Fernseher auf einem hochmodernen "Netz" Botschaften und Meinungen austauscht, lehrt und lernt, sich unterhaelt, anbietet, kauft, bezahlt, arbeitet und Geschaefte macht, lebt anders, kann jedenfalls anders leben als die "Couch Potatoe", die sich nur von Sendezentralen bestrahlen laesst. Die Anwendung der Interaktivitaet auf das Erziehungswesen (Telelearning), die Arbeitswelt (Telecommuting/ Telearbeit), die Medizin, Urlaub und die taegliche Lebensbewaeltigung, die "Reproduktion" der Arbeitskraft durch elektronische Dienstleistungen (Teleshopping, Telebanking usf.) sowie die Einfuehrung elektronischen Geldes und die Moeglichkeit unbegrenzten Austausches von Informationen und Meinungen (Internet und andere Datennetze) veraendert ganze Gesellschaften grundlegend. Diese neuen Technologien koennen - durch Zeitgewinn - den Lebenstag des Menschen verlaengern; sie koennen aber auch zu "Zeitenteignung", Ausbeutung und Selbstausbeutung der Arbeitskraft missbraucht werden. Deshalb koennen die neuen multimedialen Produkte und Dienste nicht einfach dem Selbstlauf des Marktes ueberlassen werden; es bedarf an den richtigen Entscheidungspunkten ueberlegter Regulierungen und Deregulierungen. Welche Anwendungen sich im uebrigen durchsetzen werden und welche nicht, entscheiden die betroffenen Menschen und nicht die Industrie oder die Politik. Die Politik hat allerdings die Aufgabe, nationale wie internationale Rahmenbedingungen durchzusetzen, mit deren Hilfe nachteilige Entwicklungen korrigiert werden koennen. Auf dem zweitaegigen G7-Gipfel im Februar 1995 in Bruessel, erzielten die Wirtschafts- Wissenschafts- und Postminister prinzipielle Einigkeit ueber sechs Voraussetzungen, auf denen die globale Informationsinfrastruktur aufbauen soll. Stichworte waren: Interoperabilitaet, Privatsphaere und Vertrauen in die Informationsgesellschaft, Schutz geistigen Eigentums, universeller Zugang zu Netzen, Zugang zu Forschung und Entwicklung und Zugang zu den Maerkten. Das sind wichtige Themen, aber sie beziehen sich letztlich alle auf die Maerkte, deren Verteilung und den Eigentumsschutz. Die Beteiligung und die Interessenlage der kuenftigen Anwender aber spielte keine Rolle. Der kommunizierende Mensch als Knotenpunkt in einem Netz von Informationen, als Speicher fuer durchgelaufene Informationen und Produzent neuer Informationen bleibt bisher ausserhalb der Betrachtung der Politik. Das muss sich aendern; in Deutschland wie in ganz Europa. Deshalb kommt es darauf an, neben der technischen und wirtschaftlichen, auch eine gesellschafts- kultur- und rechtspolitische Diskussion zu beginnen. Die Auswirkungen von Multimedia-Anwendungen fuer Familie, Nachbarschaft, individuelle Freiheits- und Bindungsfaehigkeit des Menschen muessen Gegenstand dieses Diskurses sein. Aus dieser Debatte muessen sich die normativen und gesetzlichen Rahmenbedingungen fuer die Nutzung von Information und Kommunikation ergeben. Gleichzeitig muss sich die Politik um den "Schaltplan" der nationalen Informationsinfrastruktur kuemmern. Eckwerte dazu sind: - Informationsgrundversorgung - Gemeinwohlorientierung und Persoenlichkeitschutz - Bildung und Ausbildung - Neue Formen der politischen Kommunikation - Veraenderung der Arbeitswelt - Telekommunikationsnetz - Kommunikationskultur Informationsgrundversorgung Der soziale Gestaltungsbedarf wird am deutlichsten bei der Frage nach der informationellen Grundversorgung der Bevoelkerung, die das Bundesverfassungsgericht in mehreren Fernsehurteilen definiert hat. Dieser Begriff darf nicht auf die "klassische" Massenkommunikation (Presse, Hoerfunk, Fernsehen) beschraenkt werden. Er bezieht sich auch auf die neuen Moeglichkeiten der Individualkommunikation. Wie kann sichergestellt werden, dass bei den neuen Informations- und Kommunikationsdiensten die grundlegenden Informationen, die Voraussetzung fuer eine Teilhabe am oeffentlichen und politischen Leben sind, unabhaengig vom Einkommen, Wohnort und ethnischer Zugehoerigkeit erschwinglich bleiben oder werden? Welches sind ueberhaupt grundlegende Informationen, fuer deren Verteilung die oeffentliche Hand die Verantwortung uebernehmen sollte, und wer darf dies festlegen? Den "gleichberechtigten Zugang" zu den neuen Medien zu sichern, wird nicht genuegen. Der Zugang muss fuer den "Normalverbraucher" auch erschwinglich sein. In den USA werden zur Zeit einkommensabhaengige Subventionen sowie Modelle, alle Informationsdienste in oeffentlichen Bibliotheken und Schulen kostenlos anzubieten, diskutiert. Die Forderungen nach der Durchsetzung und Finanzierung eines "Grundrechts auf Telefon- und Datenanschluss" muessen eroertert werden. Je mehr sich die Medienmaerkte oeffnen und gleichzeitig verflechten und je haerter der Wettbewerb auf ihnen wird, desto mehr waechst auch die Gefahr der Konzentration und umso groesser werden die potentiellen Machtzusammenballungen, die im Informationsbereich immer zugleich Meinungsmacht bedeuten. Der offene und gleichberechtigte Netzzugang fuer die Unternehmen ist von daher auch fuer die Endverbraucher, die an einer Verhinderung von Monopolbildungen und einem breiten und erschwinglichen Informationsangebot interessiert sind, von Bedeutung. Auch koennte man daran denken, Unternehmen ab eines bestimmten Marktanteils zur Einrichtung (kleiner, effizienter) Verwaltungs- oder Fernsehraete zu verpflichten. Die Durchsetzung einer medienrechtlichen Publizitaetspflicht, die die Broadcaster und ihre Eigner zwingt, Eigentums- und Treuhandverhaeltnisse, Programmbeschaffungs- oder Lizenzvertraege offen zu legen, erscheint unumgaenglich. In der foederativen Bundesrepublik liefe das auf eine Laenderanstalt zur bundesweiten Lizensierung heraus, eine kleine bewegliche, die Vertraulichkeit der offengelegten Besitzverhaeltnisse wahrende Kammer mit Befugnissen, die denen des Kartellrechts angenaehert sind. Die Bundeslaender diskutieren eine derartige Loesung derzeit im Zusammenhang mit der Neufassung des Rundfunkstaatsvertrages. Ein entscheidendes Element der Informationsinfrastruktur sind die gemeinnuetzigen Broadcaster, also die oeffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. Das Bundesverfassungsgericht hat ihnen eine Bestands- und Entwicklungsgarantie gegeben, weil nur sie die kommunikative Grundversorgung der Bevoelkerung sicherstellen koennen. Als publizistisches Gegengewicht gegen Einseitigkeiten im internationalisierten, privatisierten und kommerziellen Medienmarkt sind sie unentbehrlich. Deswegen duerfen sie von relevanten neuen Maerkten (z. B. Pay TV) nicht ein fuer allemal ausgeschlossen werden. Waehrend in der Bundesrepublik von wirtschaftsliberalen Kraeften die Schwaechung oder Zerschlagung der dualen Rundfunkordnung betrieben wird, wird in den USA unter der UEberschrift "Universal Service" ueber eine neuartige duale Informationsordnung debattiert. Sowohl im Repraesentantenhaus als auch im Senat sind derzeit Gesetze anhaengig, in denen das Recht auf eine Grundversorgung mit neuen Telekommunikationsdiensten geregelt wird, analog der Basistelefonversorgung im Telecommunication Act von 1934, der durch die neuen Gesetze abgeloest werden soll. Gemeinwohlorientierung und Persoenlichkeitsschutz Als sich Anfang der siebziger Jahre in den USA das Forschungsprojekt "Advanced Research Project Agency" entwickelte, ahnte niemand, dass aus der damals unter dem Namen "Arpanet" bekannten Vernetzung einiger Dutzend Universitaets-Computer und militaerischer Institute das weltumspannende Daten- und Kommunikationssystem "Internet" werden sollte; und das ganz ohne staatliche Regulierungen. Heute sind mehr als 25 Millionen Menschen Nutzer des Internet, und taeglich kommen zigtausende hinzu. Das Internet ist ein positives Beispiel fuer eine Aneignung neuer technischer Kommunikationsmoeglichkeiten "von unten", durch eine unorganisierte, aber international verbreitete Gruppe von technologisch aufgeschlossenen Nutzern. Dass dabei die urspruengliche oeffentliche Zwecksetzung des Netzes (Forschungsnetz, militaerische Nutzungen) ueberrollt wurde, zeigt deutlich, dass die Steuerungsmoeglichkeiten gegenueber den Anwendungen gering sind. Neben der kostenguenstigen UEbertragung von Texten, Daten und Grafiken sind fuer private Nutzer vor allem die sogenannten Foren, in die man als anonymer Teilnehmer "einloggen" kann, von grosser Faszination. In Form von Konferenzleitungen, die eine fast beliebige Zahl von Einzelschaltungen zulassen, herrscht ein globaler Gedankenaustausch, der jaeh auch ein von Misstrauen und Hass gepraegtes Bild unserer Welt widerspiegeln kann. In den Internet-Foren "Jewish Politics" (JPOL) und "Palestine Net" (PNET), zu denen man von fast allen grossen Netzwerken wie Compuserve und BTX Zugang kommen kann, wuetet ein DIGITALER KRIEG. "Yitzhak Rabin ist ein Gewalttaeter und ein Kriegsverbrecher" schreibt ein Teilnehmer auf den Bildschirm. Ein anderer erhaelt virtuellen Applaus mit dem Vermerk: "Der Staat Israel steht nicht im Einklang mit dem Talmud". Rechtsradikale, Anti-Araber, Holocaust-Leugner und Sexisten sind regelmaessige Protagonisten der Netzwerk-Foren. Zwar sind sie in der Netzgemeinschaft verpoent, ihr Zugang bleibt aber (nach den bisherigen Regeln des Internet) unzensiert. Freiheit des Netzzugangs, Freiheit der Meinungsaeusserung versus Gemeinwohlorientierung und Persoenlichkeitsschutz muessen sorgfaeltig gegeneinander abgewogen werden. Dabei sollten weder der rasche Kontroll-Impuls noch ein pathetischer "Freiheitsbegriff" massgebend sein. Pay-per-View, Teleshopping, Telebanking und vergleichbare Dienste bieten Erleichterungen im Lebensvollzug der Menschen und Chancen fuer wirtschaftliches Wachstum. Elektronische Abrechnungsverfahren, Kontroll- und Leitsysteme koennen aber auch DATENSCHATTEN erzeugen, die zu Einschraenkungen der Privatheit fuehren koennten. Der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Telekommunikation der Kommission der europaeischen Datenschutzbeauftragten, Hansjuergen Garstka, warnt in diesem Zusammenhang beim Aufbau internationaler Kommunikationsnetze vor einer "Verantwortungsverdunstung". Diese Probleme sind ohne Maschinenstuermerei loesbar; man muss sie aber auch loesen wollen. Dazu sind bestimmte Regulierungen (z. B. bei Verschluesselungsverfahren, beim Jugendschutz, beim Verbraucherschutz usf.) unverzichtbar. Eine notwendige Voraussetzung sowohl fuer kommerzielle Nutzbarkeit als auch fuer den Schutz von Anbieter- und Nutzerinteressen ist ein wirksamer technischer Daten- und Urheberrechtsschutz. Eine beliebige Kopierbarkeit digitalisierter Informationen (ob Videofilme, Musik oder Informationstextangebote) wuerde die Entstehung von neuen Maerkten verhindern. Ebenso muss fuer Angebote wie Teleshopping oder den Datenaustausch zwischen Unternehmen ein elektronischer Herkunftsnachweis moeglich sein. Parallel zur Debatte ueber akustische Ueberwachunngsmoeglichkeiten des Mobilfunknetzes, stellt sich die Frage, ob bzw. in welchen Grenzen dem Staat die Ueberwachung von Kommunikationsablaeufen ermoeglicht werden soll. Solche Ueberwachungsmassnahmen eroeffnen unueberschaubare Moeglichkeiten zur multimedialen Steuerung der Gesellschaft. Bildung und Ausbildung Informationstechnische Grundbildung wird kuenftig in allen Bildungsbereichen und auf allen Stufen zum Kerncurriculum zaehlen muessen. Dies ist eine Voraussetzung fuer die Beherrschung dieser Kulturtechnik und Schluesselqualifikation im Beruf. Es geht jedoch nicht allein um die notwendigen technischen Fertigkeiten, sondern um den selbstverantwortlichen Umgang mit allen neuen Medien und um die Kenntnis der positiven wie negativen Auswirkungen auf das soziale Zusammenleben und die Arbeitswelt. Telekommunikation und -kooperation werden die traditionellen Unterrichtsmittel ergaenzen, vor allem in der wissenschaftlichen Ausbildung. Hierbei muss sichergestellt bleiben, dass die Schuelerinnen und Schueler, Auszubildenden, Studierenden und Teilnehmer an allgemeinen und beruflichen Weiterbildungsmassnahmen durch die neuen Medien nicht isoliert und mit ihnen nicht allein gelassen werden. Auch kuenftig kommt es entscheidend auf die Persoenlichkeit und die fachliche und didaktische Kompetenz der Lehrenden sowie eine soziale Lernumwelt an. Neue Medien werden auch in der Lehreraus- und - fortbildung, bei der Ausbildung der Berufsausbilder und in der Hochschuldidaktik eine zunehmende Rolle spielen muessen. Die Sachmittelausstattung in allen Bildungsbereichen wird sich auf die informationstechnische Infrastruktur verlagern, teilweise auch zu Lasten der Bauinvestitionen. Wenn man die Begeisterung der jungen Generation und die hohen Qualifikationen beruecksichtigt, die sie vielfach im Umgang mit dem Computer ausserhalb des Unterrichts entwickelt, koennen hier neue Motivationspotentiale des Lernens fuer alle Altersstufen entwickelt werden. Neue Formen der politischen Kommunikation Die Gestaltung der interaktiven Mediensysteme ist keine Aufgabe, die der Industrie allein ueberlassen werden kann und auch keine, die sie allein zu loesen vermag. So setzen heute viele Telekommunikations- und Medienstrategen der Unternehmen auf Unterhaltung, obwohl es mehr als unklar ist, ob die Menschen von den "Informations-Highways" in erster Linie Filme, Gameshows und Videospiele erwarten. Es gibt auch Umfragen (z. B. in der amerikanischen Zeitschrift MacWorld), die oben auf der Wunschliste der Nutzer elektronisches Waehlen, die Beteiligung an lokalpolitischen Diskussionen und den Zugang zu Wissensressourcen sehen. Dies zeigt zumindestens, dass es neben dem Kommunikationsbeduerfnis "Unterhaltung" auch ein - wachsendes - Interesse an der interaktiven Nutzung der "neuen" Medien gibt. Waehrend kommerzielle Anwendungen wie Video-on-demand keiner staatlichen Foerderung beduerfen, sind Anstossfinanzierungen und Pilotprojekte in den Bereichen Buergerinformation, Gesundheit, Bildung usf. dringend erforderlich. In mehr als 40 nordamerikanischen Staedten werden dem Buerger online vielfaeltige Informationsquellen zur Verfuegung gestellt, die zugleich eine staerkere Dienstleistungsorientierung der Stadtverwaltungen einlaeuteten. Zum Standardrepertoire gehoeren u.a. Verwaltungsinformationen, Protokolle von Rats- und Ausschusssitzungen, Mitteilungen ueber Planungsvorhaben, Angaben ueber politische Mandatstraeger, Verkehrs- und Umweltinformationen und der Zugang zu den Katalogen der Bibliotheken. Es zeigt sich, dass sich eine gut informierte Bevoelkerung eher fuer oeffentliche Angelegenheiten engagiert, und dass eine umfassendere Versorgung mit lokalen Informationen die Einwohnerinnen und Einwohner zu mehr Mitsprache bei kommunalen Angelegenheiten motiviert. Kuenftige Projekte muessen diesen kommunalen Anwendungsbereich einbeziehen. So koennte beispielsweise auch der Zugang zu Formularen oder Vorschriften ueber Computerabrufdienste von zuhause aus erledigt und damit fuer die Buerger vereinfacht werden, bei gleichzeitiger Entlastung der Verwaltung. Waehrend hierzulande das Schweigen der Aemter und Ministerien herrscht, fuehrt die Clinton/Gore-Administration Workshops und Anhoerungen durch und macht die Protokolle der Beratungsgremien ueber das Internet verfuegbar. Ohne die derzeitige Situation in den USA zu idealisieren, muss man feststellen, dass - angestossen durch die Regierungsinitiative zum Aufbau einer National Information Infrastructure (NII) - dort eine spannende und breite oeffentliche Auseinandersetzung ueber die Gestaltung und Nutzung, die Regulierung und Ethik der neuen Informationssysteme gefuehrt wird, ueber die in der Bundesrepublik kaum etwas bekannt ist. Die NII-Initiative wird von aktiven und einflussreichen Buergerinitiativen, freien Verbaenden und Stiftungen kritisch-konstruktiv begleitet. So beispielsweise von den US-amerikanischen Computer Professionals for Social Responsibility (CPSR), die in ihrem Positionspapier eine klare staatliche Verantwortung und Zustaendigkeit fuer den gleichen und allgemeinen Zugang zu den Netzen durch eine Kombination von Gesetzgebung, Regulierung, Besteuerung und direkten Subventionen fordern. Es ist eine entscheidende Zukunftsherausforderung fuer Sozialdemokraten, vergleichbare Diskussionsprozesse in der Bundesrepublik anzustossen und zu organisieren. Die Veraenderung der Arbeitswelt (Telecommuting/Telearbeit) Fest steht: Die Multimediatechnologien koennen und werden den Arbeitsmarkt nachhaltig beeinflussen. Bei Kaufhaeusern, Banken, Versicherungen, Reisebueros, den frueheren Postverwaltungen, in der Telekommunikations-, Medien- und Computerindustrie sind erhebliche Strukturveraenderungen zu erwarten. Da die internationalen "Datenautobahnen" allen Anbietern den Weg zu den Kunden ebnen und fuer eine nahezu perfekte Transparenz und Vergleichbarkeit von Produkten und Preisen sorgen, droht den Kauf- und Geldhaeusern ein harter Konkurrenzkampf untereinander und gegen neu auf den Markt draengende Wettbewerber aus anderen Branchen. Die absehbaren Konsequenzen: Der Konzentrationsprozess - verbunden mit einem massiven Verlust an Arbeitsplaetzen - wird beschleunigt. Andererseits werden voellig neue Dienstleistungsangebote und Berufsbilder entstehen, etwa auf den Gebieten der Fernberatung, Telekooperation und der Telearbeit. Bildung und Qualifikation, Innovation und Technologie, Unternehmenskultur und Managementkonzepte sind nur einige der Schluesselthemen, von denen unsere wirtschaftliche und soziale Zukunft abhaengt (Ulrich Klotz). Es liegt u. a. am politischen und gewerkschaftlichen Engagement, ob Telearbeit auch weiterhin mit sozialer Isolation, Karriereknick und einer Aushoehlung von Arbeits- und Sozialrechten in Verbindung gebracht werden muss oder ob zunehmend hochqualifizierte und mit hoher Eigenstaendigkeit verbundene Telearbeitsplaetze entstehen. Beide Prozesse werden ablaufen; es muss darum gehen, den ersten zu hemmen und sozial zu begleiten, den zweiten aber zu foerdern und voranzutreiben. An - hoechst widerspruechlichen - Thesen ueber die Wirkungen der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien auf dem Arbeitsmarkt ist kein Mangel. Nach einer Studie von Arthur D. Little wird es in Deutschland bis zum Jahr 2000 rd. 1 Mio. neue Arbeitsplaetze in der Multimediawirtschaft geben. Die Bundesregierung spricht von 5 bis 10 Mio. Arbeitsplaetzen im gleichen Zeitraum fuer Europa. Vergleicht man die Zahlen mit allgemeinen mittelfristigen Wirtschaftsprognosen - das Ifo-Institut fuer Wirtschaftsforschung erwartet bis zum Jahr 2000 1,7 Mio. neuer Arbeitsplaetze fuer die gesamte deutsche Wirtschaft - entstuenden gut die Haelfte dieser neuen Stellen in dem, was man ungenau den "Medienbereich" nennt. Die Politik muss sich klar machen: Diese Zahlen weisen erhebliche Unsicherheiten auf und werden oft nur zur Durchsetzung wirtschaftlicher und politischer Interessen missbraucht. Deshalb sind differenzierte Konzepte, realistische Perspektiven und belastbare Analysen gefragt. Die Politik darf sich nicht - wie bei den ersten Diskussionen um die Mikroelektronik - auf die primitive Alternative Jobkiller/Wachstumsparadies festlegen lassen. Sie muss sich vor Allmachtsfantasien ("Wir halten die technische Entwicklung an") genauso hueten wie vor technokratischer Euphorie. Klar ist: Niemand kann die Arbeitsmarktbilanz der digitalen Revolution heute auch nur einigermassen exakt vorhersagen. Von den Arbeitsplaetzen, die es vor 200 Jahren gab, sind inzwischen 90% verschwunden. Niemand haette damals vorhersagen koennen, wie die in der Landwirtschaft und im Handwerk beschaeftigte Bevoelkerung einige Jahrzehnte spaeter beschaeftigt werden wuerde. Weder zielloses Nach-Vorne-Stuermen noch hilflose Verhinderungsstrategien fuehren weiter. Notwendig ist eine kritische, international orientierte und auf Dauer angelegte Debatte von Staat, Unternehmen und Gewerkschaften ueber Chancen und Risiken der Informationsgesellschaft.


Fortsetzung




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