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1995-08

Wir müssen für den Schutz der UN-Schutzzonen sein (Auszug)

Joschka Fischer

Die Konzeption der Vereinten Nationen in Bosnien ist, bis auf die humanitaere Hilfe und Teile des Embargos, definitiv mit der militaerischen Offensive der bosnischen Serben gegen die UN-Schutzzonen Srebrenica und Zepa in diesem Juli gescheitert. Diese bittere Erkenntnis zwingt deshalb jetzt alle, die sich bisher in ihrer Politik positiv auf den UN-Einsatz in Bosnien bezogen haben, zu einer grundsaetzlichen Ueberpruefung und Neupositionierung ihrer Politik. Unsere Partei Buendnis 90/Die Gruenen hat bei aller Kritik im Einzelfall immer den UN-Einsatz unterstuetzt, nachdruecklich und mit guten Gruenden gegen einen Abzug argumentiert und aus diesem Grund eine Fortsetzung des UN-Einsatzes verlangt. Deshalb muessen auch wir uns heute fragen:

Wie soll es weitergehen in Bosnien, wenn der bisherige UN-Einsatz gescheitert ist? Heisst das den Abzug der Blauhelme? Bedeutet das eine Beendigung des Waffenembargos und Lieferung von schweren Waffen an die bosnische Regierungsarmee? Oder heisst das im Gegenteil jetzt seine Fortsetzung als militaerische Intervention der Vereinten Nationen zum Schutz der Schutzzonen ohne Wenn und Aber? Oder geht es am Ende gar so weiter wie gehabt?

Das Schlimme und fuer die Zukunft Hochgefaehrliche an der gegenwaertigen Situation liegt darin, dass aus heutiger Sicht alle drei Varianten eine Ausdehnung des Krieges, weitere Blutbaeder und weitere zahllose Opfer bedeuten werden. Opfer zuerst und vor allem an Menschen, dann aber auch an jenen elementaren und zugleich so ueberaus wichtigen Grundsaetzen eines gewaltfreien Zusammenlebens von Menschen, Staaten und Kulturen, die in der Metzelei in Bosnien ernsthaft verlorenzugehen drohen. Eine Opfer und Gewalt vermeidende politische Alternative in der gegenwaertigen Lage in Bosnien ist nicht in Sicht, und diese bittere Tatsache muss gerade eine gewaltfreie Partei herausfordern.

Niemals wurde etwa von den wichtigsten Maechten offen und vor allem ehrlich definiert, was jenseits der humanitaeren Ziele die tatsaechlichen politischen Ziele sind, auf die sich der UN-Einsatz einzustellen hat. Die Intervention der UN im ehemaligen Jugoslawien war deshalb von Beginn an in sich widerspruechlich und hoch gefaehrlich. Humanitaer war und ist der UN-Einsatz auf dem Balkan unverzichtbar und ein grosser Erfolg, der zahllosen Menschen das Leben gerettet und das Weiterleben ermoeglicht hat, politisch-militaerisch droht er aber zu einem grauenhaften Debakel zu werden. Die Blauhelme sollten einen "Frieden bewahren", den es in Bosnien niemals gab, sondern sie gerieten dort als "Friedensbewahrer" in einen "heissen" Krieg und zwischen die Fronten. Sie sollten neutral sein gegenueber den Kriegsparteien und mussten demnach den Aggressor und seine Opfer gleichermassen "neutral" behandeln, das heisst, sie wurden Partei durch Unterlassung und instrumentalisiert von allen Kriegsparteien.

Europa ist fuenf Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges und 50 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht wiederzuerkennen. Der Krieg ist mit all seiner Grausamkeit und Barbarei zurueckgekehrt und tobt auf dem Balkan. Mit Krieg, mit einer brutal ruecksichtslosen Skrupellosigkeit und dem Tod und Elend Hunderttausender unschuldiger Menschen scheinen im Europa des Sommers 1995 erfolgreich wieder Grenzen gezogen und mit voelkischer Politik erneut politische Fakten geschaffen werden zu koennen.

Wenn sich diese Politik des Krieges und des Mordens in Bosnien erfolgreich durchsetzen wird, dann wird dies weit ueber den Balkan hinaus fuer Europa anhaltend schlimme Konsequenzen haben. Gerade eine auf Gewaltfreiheit und Achtung der Gewalt beruhende Politik ist davon ganz besonders betroffen, denn wenn der Krieg wieder zu einem erfolgreichen und durchsetzungsfaehigen Mittel der europaeischen Politik wird, dann kann man eine gewaltfreie Zukunft der europaeischen Nationen schlicht vergessen. In Bosnien geht es deshalb auch um 50 Jahre Integrationsfortschritt und Frieden in Europa.

Die Vereinten Nationen taumeln in Bosnien auf eine strategische, mit hoher Wahrscheinlichkeit sogar auf eine historische Niederlage zu. Fuer die UN und den Westen heisst heute die fatale Alternative: Weichen oder widerstehen? Beides wird einen sehr hohen Preis verlangen, und diese Erkenntnis zwingt uns deshalb heute dazu, uns ueber die Ursachen des Scheiterns der bisherigen friedensbewahrenden Politik der Vereinten Nationen schonungslos Rechenschaft abzulegen. Denn nichts waere schlimmer, als durch weitere Illusionen, Irrtuemer oder gar doppeltes Spiel weitere Katastrophen und zahllose unschuldige Opfer mitverantworten zu muessen.

Dies gilt auch fuer die Diskussion in unserer Partei Buendnis 90/Die Gruenen. Auch wir werden uns angesichts des bosnischen Dramas sehr genau und mit grosser Ehrlichkeit zu ueberlegen haben, was die Konsequenzen unserer Position sind und wie weit wir sie tatsaechlich durchhalten koennen. Die Mehrheit in Partei und Fraktion hat sich bisher nachdruecklich fuer das UN-Embargo, fuer humanitaere Hilfe und fuer die Aufrechterhaltung des Blauhelmeinsatzes ausgesprochen. Wir waren gegen eine Beteiligung Deutschlands mit Kampfverbaenden in Bosnien, weil wir, bedingt durch das Wueten der deutschen Wehrmacht im ehemaligen Jugoslawien waehrend des Zweiten Weltkriegs, dadurch eine Verschaerfung des Konflikts und nicht seine Daempfung befuerchten. Aber auch uns wird angesichts des Scheiterns der bisherigen Friedensmission der UN-Blauhelme in Bosnien ein erneutes und sehr grundsaetzliches Nachdenken nicht erspart bleiben.

Unsere Partei Buendnis 90/Die Gruenen ist eine Reformpartei, die ihren gesellschaftsverSndernden, und das heisst unter dem Gesichtspunkt des friedlichen, gewaltfreien Zusammenlebens, der Wahrung der Menschenrechte, des Schutzes von Minderheiten und der sozialen Gerechtigkeit auch gesellschaftsverbessernden Anspruch nicht aufgegeben hat. Ein Durchlavieren, eine Haltung des "Wir sind entsetzt, ansonsten schauen wir aber lieber nicht hin" kommt angesichts der bosnischen Katastrophe fuer unsere Partei nicht in Frage. Entweder sind wir fuer den militaerischen Schutz der Schutzzonen, wissend auch um die ganze Unzulaennglichkeit der westlichen Bosnienpolitik und ihrer Risiken - und ich bin der Ueberzeugung, wir muessen angesichts der Lage der dort eingeschlossenen Zivilbevoelkerung fuer den militaerischen Schutz der UN-Schutzzonen sein -, dann muessen wir dies als Partei auch sagen, ausdiskutieren und beschliessen. Oder wir lehnen diesen militaerischen Schutz ab, und dann sollten wir uns, aber ohne uns darum herumzuwinden, fuer den Abzug der UN-Blauhelme aussprechen.

Die Folgen dieses Schrittes sind ebenfalls bekannt. Allerdings wird die Welt (und damit auch wir) in diesem Fall den bosnischen Regierungstruppen die notwendigen Waffen fuer ihre Selbstverteidigung nicht laenger vorenthalten duerfen.

Ich bin, nach Abwaegung aller hier vorgetragenen Argumente der Meinung, dass ein Abzug ein Anheizen des Krieges bedeuten wird und es demnach zu einer militaerischen Garantie der UN-Schutzzonen nur schlimmere Alternativen gibt. Freilich, ein solcher Schritt bringt weder die politische Loesung noch gar eine substantielle Besserung der Verhaeltnisse in Bosnien, wohl aber den moeglichen Schutz und das Ueberleben der betroffenen Zivilbevoelkerung in den Schutzzonen. Und dies ist angesichts der Barbarei nicht wenig.

Ein Frieden aber - oder auch nur ein tragfaehiger Waffenstillstand - ist nicht zu sehen. Zudem koennte ein Abzug der UN-Einheiten aus Bosnien durch eine entsprechende Zwei-Drittel-Entscheidung des amerikanischen Kongresses fuer die Aufhebung des Waffenembargos oder durch eine Nichtverlaengerung des UN-Mandates durch eine der beteiligten Kriegsparteien im November durchaus schnell Realitaet werden.

Beides, die Erklaerung fuer einen militaerischen Schutz der Schutzzonen als auch die Alternative des Abzuges, wird unseren innerparteilichen Grundwertekonflikt zwischen dem Schutz des Lebens und der Freiheit von Menschen einerseits und der Gewaltfreiheit andererseits nicht unberuehrt lassen. Und unsere prinzipienorientierte Aussenpolitik, die die Gewaltfreiheit in den internationalen Beziehungen zu ihrem zentralen Grundsatz erklaert hat, wird sich dieser fuer uns ganz neuen Herausforderung durch "ethnische Kriege" stellen und praktische Antworten darauf geben muessen.

Quelle: DIE WELT, 03.08.1995


 




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