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1993-01-13

Gregor Gysi zur Haftentlassung von Erich Honecker

   Zur Aufhebung  der Haftbefehle  gegen Erich Honecker erklaert
   der Vorsitzende  der PDS  und Vorsitzende  der Abgeordneten-
   gruppe der PDS/LL im Bundestag, Dr. Gregor Gysi:

Von Anfang  an bin ich dafuer eingetreten, die Auseinandersetzungen
mit Erich  Honecker auf  politischer und moralischer Ebene zu fueh-
ren. Ich  habe mich  stets dagegen  gewandt, Politik zu kriminali-
sieren und  die notwendige historische Aufarbeitung dadurch auszu-
schliessen, dass  sie an  die Justiz  uebergeben wird.  Das Verfahren
gegen Erich  Honecker war  zu keinem Zeitpunkt rechtsstaatlich und
verletzte von  Anfang an  die Prinzipien  der  Humanitaet.  Es  ist
erstaunlich, mit  welcher Zaehigkeit  die zustaendigen  Strafkammern
des Landgerichts  Berlin dennoch  an einem  Verfahren festhielten,
von dem sie wussten, dass es mit einem lebenden Erich Honecker nicht
zu Ende gefuehrt werden kann. Der Drang nach Vergeltung war aber so
gross, dass  bisher aufgestellte  Rechtsprinzipien in  der Bundesre-
publik Deutschland  ignoriert wurden.  Zu dieser  Feststellung kam
auch das Landesverfassungsgericht Berlin.

Noch vor  Beginn des  Verfahrens habe  ich einmal erklaert, dass ein
solcher Prozess  zu einer  grossen Blamage  fuer Erich  Honecker, die
deutsche Justiz und die Bundesrepublik als Ganzes wird. Einen Teil
dieser Prognose  muss ich zuruecknehmen, da es Erich Honecker gelun-
gen ist,  so aufzutreten,  dass der Prozess ihn eher aufwertete. Die
anderen beiden  Prognosen trafen  jedoch zu.  Ich hoffe,  dass  die
Gerichte nunmehr  zu  der  Einsicht  gelangen,  dass  es  ueberhaupt
rechtsstaatlich unvertretbar  ist, hoheitliches Handeln von Buerge-
rinnen und  Buergern der DDR, das mit den Gesetzen der DDR in Ueber-
einstimmung stand,  wie auch  immer diese  Gesetze historisch  und
moralisch bewertet  werden, strafrechtlich  zu verfolgen und damit
eines der  wichtigsten Menschenrechte  zu ignorieren,  naemlich das
Verbot der  rueckwirkenden Anwendung  von Strafgesetzen.  Das  aber
bedeutet, dass  auch die unglueckseligen, sogenannten Mauerschuetzen-
prozesse eingestellt werden muessen. In den Faellen, in denen Buerge-
rinnen und Buerger der DDR nach DDR-Strafrecht tatsaechlich Vergehen
oder Verbrechen  begingen, muessen sie auch zur Verantwortung gezo-
gen werden.  In den  Faellen jedoch,  in denen  es lediglich  darum
geht, politische  Vergeltung dafuer  zu ueben,  dass in der DDR ein -
wenn auch gescheiterter Versuch - fuer eine Alternative zur Gesell-
schaft in  der Bundesrepublik Deutschland gestartet wurde, ist die
nachtraegliche  Kriminalisierung   entsprechender  Verhaltensweisen
Siegerjustiz.

Letztlich bleibt  durch das  Verfahren auf  Dauer ein Schatten auf
der  Bundesregierung.   Das  Landesverfassungsgericht  von  Berlin
stellte fest,  dass das  Verfahren gegen  Erich Honecker seine Men-
schenwuerde verletzt  hat. Die Bundesregierung war aber an der Ver-
letzung dieser Menschenwuerde beteiligt, weil sie seine Rueckkehr in
die Bundesrepublik  Deutschland in dem Wissen erzwang, dass es sich
um einen schwerkranken und alten Menschen handelt.
Quelle: cl.gruppen.pds, PDS-Info Nr. 663, vom 13.1.1993




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