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Beiträge zur Politik |
Michael ZanderSozialpolitik als Gesellschaftsveränderung (2004)Umstrukturierung der Verhältnisse, subjektive Handlungsfähigkeit und der Widerstand gegen den NeoliberalismusEs bedarf wohl keiner besonderen Begründung, davon auszugehen, dass der durch staatliche Akteure betriebene Sozialabbau zu den gegenwärtig wichtigsten politischen Themen gehört. Dabei umfasst der Begriff des Sozialabbaus v.a. die Absenkung von Leistungen und die Teilprivatisierung bzw. Kommerzialisierung der sozialen Sicherungssysteme und Öffentlichen Dienste. Mit dem folgenden Text beabsichtige ich nicht, eine differenzierte und klar theoriegeleitete Analyse der herrschenden Sozialpolitik zu geben. Vielmehr geht es mir darum, Sachverhalte und Argumentationslinien zu skizzieren, die m.E. für eine solche Analyse grundlegend wären. Berücksichtigt werden soll dabei zum einen das, was man als die „eigentliche Sachebene“ der Auseinandersetzung bezeichnen könnte, zum anderen aber auch die strategische und propagandistische Seite der neoliberalen Politik. Weil die staatlichen Kürzungsmaßnahmen zum Sozialabbau durch ihre alltägliche und isolierte Thematisierung in der Tagespresse leicht an Kontur verlieren, sollen sie zunächst noch einmal stichpunktartig genannt werden:
“Sozialabbau“ als Teil der Polarisierung von Reichtum und ArmutEine wesentliche Ursache für die Krise der sozialen Sicherungen und Güter ist die Erosion der Einnahmebasis, die ihrerseits zurückgeht auf steigende Massenerwerbslosigkeit und die immer geringere Beteiligung der Geldvermögens- und Kapitalbesitzer am Steueraufkommen. Die seit den 1970ern beinahe vervierfachte Erwerbslosigkeit führt einerseits zu einem Ausfall von Steuern und Sozialbeiträgen als Teil des Lohns, andererseits zur verstärkten Notwendigkeit von Unterstützungsleistungen. Die Gewinn- und Vermögenssteuern wurden trotz steigenden Bruttoinlandsprodukts drastisch gesenkt, sowohl absolut als auch im Verhältnis zu den Lohnsteuern. Diese haben nach Bontrup (2003, 14) „am Gesamtsteueraufkommen einen Anteil von 35% erreicht ..., während der Anteil der Gewinn- und Vermögenssteuer lediglich bei 15% liegt. 1960 war die Relation noch umgekehrt.“ Damit hat sich auch die persönliche Belastung der Lohnabhängigen mit Steuern und Sozialabgaben erhöht. „Die prozentuale Belastung der Bruttolöhne... ist zwischen 1960 und 2001 von 6,3% auf 18,5%, mit Sozialbeiträgen von 9,4% auf 16% gestiegen. Dagegen ist eine deutlich sinkende durchschnittliche Belastung der Gewinn- und Vermögenseinkommen ... zu beobachten: Sie ging von 20% in 1960 auf 8% in 2001 zurück, bei nahezu glechbleibender Belastung mit Sozialbeiträgen. ... Die Belastung der unteren Schichten ist auf mehr als das Doppelte gestiegen, die der oberen hat sich fast halbiert. Die jüngsten Steuerreformen der Bundesregierung werden diesen Trend fortsetzen und verschärfen“ (Huffschmid u.a., 36; vgl. ebd., 37ff). Auf der einen Seite nimmt die Verarmung öffentlicher (und privater) Haushalte zu, auf der anderen konzentriert sich der Reichtum zugunsten der besitzenden Klassen. „Allein das Geldvermögen wie Spareinlagen, Bausparguthaben, Aktien, Staatsschuldpapiere, Immobilienfonds, Lebensversicherungen etc. ist von 1991 in Höhe von 2 Billionen Euro bis 2001 auf rund 3,6 Billionen Euro angewachsen“ (Bontrup a.a.O.). i
Angebliche Gefährdung des Standorts, prognostizierte Veränderung der gesellschaftlichen AltersstrukturGegen Forderungen, diese Polarisierung von Armut und Reichtum zu beenden und eine Umverteilung von „Oben“ nach „Unten“ in Gang zu setzen, bringen die Neoliberalen Einwände vor, die heute zu den angeblichen Selbstverständlichkeiten der offiziellen politischen Rhetorik gehören. „Zu hohe“ Steuern und Löhne, heißt es, würden den „Standort“ gefährden, weil sie eine „Kapitalflucht“ ins Ausland auslösten. Dagegen spricht insbesondere zweierlei: Erstens spielen Steuer- und Lohnkostenvorteile für das Kapital bei Investitionsentscheidungen häufig eine eher untergeordnete Rolle gegenüber anderen Zielen, z.B. der Besetzung neuer Märkte (vgl. Krätke 2000); übrigens sind die sog. „Lohnkosten“ vom Kapitalstandpunkt nur dann realistisch zu beurteilen, wenn man sie ins Verhältnis zur Arbeitsproduktivität setzt. Zweitens ist die ruinöse Steuer- bzw. Standortkonkurrenz in den Fällen, wo sie wirklich stattfindet, bekanntlich kein „Sachzwang“, sondern Ergebnis staatlicher Deregulierungspolitik. Notwendig ist also eine Politik der Reregulierung, wobei diese Einsicht keineswegs neu ist. Bereits in den 1980ern unternahmen die Staaten der Zweiten und Dritten Welt, vermittelt durch die UNO-Institutionen, den Versuch, eine „Neue Weltwirtschaftsordnung“ zu forcieren, was allerdings am Widerstand der dominierenden kapitalistischen Länder (u.a. auch der BRD) scheiterte (vgl. Wagner 1995). Neben der angeblichen Bedrohung des „Standorts“ durch Löhne und Steuern führen die Neoliberalen die prognostizierte Veränderung der gesellschaftlichen Altersstruktur als Begründung für die Kürzung von Sozialleistungen an. Dieser Prognose zufolge stehen bis 2050 eine immer größere Zahl von Rentnern und „Hochbetagten“ eine geringer werdende Gruppe von Beitragszahlenden gegenüber. Daher müsse das System der Altersvorsorge und Gesundheitssicherung verändert, d.h. (teil-) privatisiert werden. Auch diese Behauptung ist unhaltbar. Die potenziellen gesellschaftlichen Verteilungsspielräume hängen primär nicht von der Art der Finanzierung ab, sondern von der Größe des Sozialprodukts, das die jeweils Alten an die Jungen vererben und das mit der Produktivität weiter zunehmen wird. Abgesehen davon ist die Prognose selber mit großen Unsicherheiten behaftet. „Man stelle sich vor, 1950 wäre die Einwohnerzahl der Bundesrepublik für das Jahr 2000 prognostiziert worden. Seinerzeit wusste noch niemand von der Antibabypille, dem Zuzug von Ausländern, der Wiedervereinigung ..., dem Trend zur Kleinfamilie. All diese Strukturbrüche wären zwangsläufig übersehen worden. Und ähnlich problematisch ist die der öffentlichen Diskussion zugrundeliegende Vorausschätzung für das Jahr 2050“ (Bosbach 2004). Das politische Schlagwort von der „Überalterung“ der Gesellschaft dient nicht nur der Rechtfertigung, die bisherige Form der sozialen Sicherungssysteme auszuhebeln, es stigmatisiert zugleich Bürgerinnen und Bürger ab einem bestimmten Alter zu einer „Problemgruppe“. Es nährt die Ängste vor dem (eigenen) Älterwerden und die Vorstellung, anderen „zur Last zu fallen“. ii Den impliziten Sozialdarwinismus, der diese Debatte durchzieht und der üblicherweise mit dem Euphemismus der „Generationengerechtigkeit“ maskiert wird, hat ein Vorsitzender der „Jungen Union“ im vergangenen Jahr offen ausgesprochen, als er forderte, Menschen, die über 85 Jahre alt sind, vom Bezug bestimmter Leistungen der Krankenkasse (Zahnersatz, künstliche Hüftgelenke) auszuschließen.
“Individualisierung“ als StrategieIn der Auseinandersetzung um die Sozialversicherungen tritt ein charakteristischer Zug neoliberaler Politik deutlich hervor, nämlich die schrittweise Auflösung von Solidargemeinschaften der subalternen Klassen und Gruppen. Weit davon entfernt, allgemein individuellen Bedürfnissen Rechnung zu tragen, greift diese Art der politischen „Individualisierung“ die Grundlage an, auf der Lohnabhängige in einer Gesellschaft, in der Macht extrem ungleich verteilt ist, kollektiv ihre individuellen Interessen einigermaßen behaupten können. Paritätisch finanziert aus einem Anteil des Bruttolohns der „Arbeitnehmer“ und einem Beitrag der „Arbeitgeber“ dienen Kranken-, Erwerbslosen- und Rentenversicherung dazu, gegen typische Risiken und Notlagen von Lohnabhängigkeit und Armut zu schützen und Lebensqualität kollektiv abzusichern. Die neoliberalen Eingriffe des Staates, d.h. die Rentenkürzungen, der Zwang zu privaten Zusatzversicherungen und Zuzahlungen, die Diskussionen um höhere Beitragssätze für „Risikogruppen“ im Gesundheitsbereich usw. untergraben jene „Kultur der Solidarität“, auf der die Funktion der Sozialversicherung und deren breite Akzeptanz in der Bevölkerung beruhen (vgl. Hinrichs 1997). iii Aber nicht nur die Sozialversicherungen, die ein Rückhalt insbesondere für die Lohnabhängigen sind, werden zum Gegenstand der neoliberalen Vereinzelungsstrategie, sondern auch die unmittelbare Lohnabhängigkeit selbst. Die „Individualisierung der Beschäftigungsverhältnisse“ auf betrieblicher Ebene charakterisiert Bourdieu (1998, 112f) so: „individuelle Zielvorgaben, individuelle Bewertungsverfahren, individuelle Lohnerhöhungen oder Leistungszuschläge, individuelle Beförderungen; Strategien der ‚Delegation von Verantwortung‘, die die Selbstausbeutung der Angestellten gewährleisten sollen, Beschäftigte, die zwar wie einfache Lohnempfänger in einem streng hierarchischen Abhängigkeitsverhältnis stehen, gleichzeitig aber für ihre Verkaufszahlen ... verantwortlich gemacht werden werden ... – alles rationale Unterwerfungstechniken, die ... um eine Schwächung oder Beseitigung des kollektiven Zusammenhalts und kollektiver Solidaritäten wetteifern. ... Nie zuvor hat der unternehmerische Diskurs so oft von Vertrauen, Zusammenarbeit, Verlässlichkeit, von Unternehmenskultur gesprochen, wie in einer Zeit, in der das kurzfristige Einvernehmen einer jeden Arbeitskraft durch die Austilgung aller Sicherheiten erreicht wird (drei Viertel der Neuanstellungen sind zeitlich begrenzt, der Anteil unsicherer Beschäftigungen steigt unaufhörlich, der einzelnen Entlassung stehen immer weniger Hindernisse im Wege).“ Politisch-staatliche Akteure beteiligen sich wie selbstverständlich, sei es durch Streichung des Arbeitslosengeldes, durch Aushöhlung des Kündigungsschutzes oder durch verbale Angriffe gegen die Interessenvertretungen der Lohnabhängigen.
Feindbilder der NeoliberalenSetzt man die Dogmen der neoliberalen Strategie unhinterfragt voraus, ist es naheliegend, all diejenigen zum Problem zu erklären, die dieser Strategie angeblich oder wirklich im Wege stehen. Entsprechende Feindbilder werden von Politikern, „Arbeitgeber“-Lobbyisten und Journalisten in Umlauf gebracht und bekräftigt. Dazu gehören sicher die Gewerkschaften, die als „unflexibel“ und als „Bremser“ des „Reformprozesses“ dargestellt werden; Sozialhilfebeziehende oder Erwerbslose, denen - gegen alle Tatsachen – Betrug, mangelnde Anpassungsbereitschaft und persönliches Versagen vorgeworfen werden. Menschen, die in die BRD (oder andere europäische Staaten) immigrieren, inbesondere, wenn sie sich um Asyl bewerben, galten während der 1990er Jahre ebenfalls als sozialpolitisches Problem, als Belastung der öffentlichen Haushalte und als „Überzählige“ in einem „vollen Boot“ etc. (nicht zufällig zielte ein großer Teil des bourdieuschen „Gegenfeuers“ auf den staatlichen Rassismus). Mittlerweile scheint sich jedoch der Akzent der Diskriminierung verschoben zu haben, und zwar erstens in Richtung einer beschränkten Migration in neoliberalem Interesse, zweitens dahingehend, Migrierende im Rahmen des „Kriegs gegen den Terror“ verstärkt als sicherheitspolitisches Risiko zu brandmarken. Einerseits stehen Migrierende damit nicht mehr im Zentrum sozialpolitischer ideologischer Angriffe, andererseits aber drohen ihre Anliegen marginalisiert zu werden, indem sich die sozialpolitische Auseinandersetzung vorwiegend um die Rechte nur derjenigen dreht, die bereits den vollen Bürgerstatus innehaben. Als weiteres Feindbild fungieren die Angestellten des Öffentlichen Dienstes. Sie gelten, ungeachtet der realen Einkommens- und Ausstattungsunterschiede innerhalb des Öffentlichen Dienstes, pauschal als faul, „überbezahlt“ und „überzählig“. (Eine solche Verunglimpfung ist besonders grotesk aus dem Munde von Politikern, die eigentlich selber Angestellte der Öffentlichkeit sind, wenngleich sie sich als deren Herren aufführen.) Für die Privatisierungspolitik der Neoliberalen hatte der Angriff auf den Öffentlichen Dienst in den 1990er Jahren eine Schlüsselfunktion: Bourdieu hat darauf hingewiesen, dass die neoliberale Offensive begleitet wurde von „einer Reihe theoretischer Fälschungen und trügerischer Gleichsetzungen ...: Man macht aus dem Wirtschaftsliberalismus die notwendige und hinreichende Bedingung für politische Freiheit und setzt dadurch Staatsinterventionismus mit ‚Totalitarismus‘ gleich; man identifiziert das Sowjetsystem und den Sozialismus miteinander und behauptete damit, dass der Kampf gegen die für unausweichlich gehaltenen Ungleichheiten unwirksam sei ... und dass dabei die Freiheit auf jeden Fall Schaden nehmen müsse; man assoziiert Effizienz und Modernität mit dem Privatunternehmen, Archaismus und Ineffizienz mit dem öffentlichen Dienst und will dadurch das vermeintlich egalitärere und effizientere Kundenverhältnis an die Stelle des Verbraucherverhältnisses setzen“ (Bourdieu 1997, 209). iv Nicht selten werden derartige Feindbilder auch von Angehörigen der subalternen Klassen übernommen. Dies kann Teil einer Bewältigungsweise sein, die Klaus Holzkamp als „restriktive Handlungsfähigkeit“ charakterisiert hat: Um das eigene Arrangement mit den herrschenden Klassen nicht zu gefährden, müssen andere Menschen (z.B. Minderheiten, s. Holzkamp 1994) für die gesellschaftliche Krise verantwortlich gemacht werden. Insofern dies „wider besseres Wissen“ geshieht, sind zur Absicherung restriktiver Handlungsfähigkeit psychodynamische Prozesse der Verdrängung bzw. Realitätsabwehr nötig. Die Empörung über die aktuellen neoliberalen Zumutungen wird nicht zu einer Empörung darüber, dass man selbst „zu wenig“ hat, sondern dass andere vermeintlich „zu viel“ haben. So entwirft man z.B. das groteske Zerrbild vom Sozialleistungen beziehenden „Schmarotzer“, der vom Staat all das bekommt, was man selbst gern hätte: Konsumgüter, eine schöne Wohnung, viel Freizeit. Auch, wenn man über diese Dinge teilweise verfügt, kann das angeblich mühelos erschlichene Glück des „Sozialhilfeempfängers“ oder gar des „Wirtschaftsflüchtlings“ noch symbolisch für das stehen, was einem fehlt. Denkbar wäre auch ein anderer Grund für die Übernahme neoliberaler Ideologie: Diese kann nämlich Gelegenheit geben, das eigene, lange unterdrückte und verleugnete Unbehagen an der fordistischen Lebensweise zu artikulieren, allerdings in einer entstellten, zensierenden Form. Das fordistische Regime stellte ja in der Tat an die Menschen schwer erträgliche Zumutungen, die nichts mit den sozialen Sicherungen als solcher zu tun haben, sondern mit deren spezifischer Ausprägung. In Stichpunkten: Es herrschten eine fatale Engführung des Lebens („birth, school, work, death“) vor, die Verpflichtung auf das „Normalarbeitsverhältnis“ für Männer, auf reproduktive Tätigkeiten innerhalb der Familie für Frauen, die Stigmatisierung und Marginalisierung abweichender Lebensweisen, Konsum als Kompensationsangebot für enttäuschte Hoffnungen usw. Nachträglich wird das Unbehagen, das innerhalb des fordistischen Arrangements nicht zur Geltung kommen durfte, nun also ausgesprochen, aber, wie gesagt, eben nicht in einer Sprache des Widerstands, sondern in der einer neuen Form der Herrschaft. Zieht man die Möglichkeit derartiger Bewältigungsweisen in Betracht, dann folgt daraus, dass für eine Überwindung neoliberaler Stereotypen sachliche Aufklärung zwar unbedingt nötig ist, aber nicht ausreicht. Berücksichtigt werden muss, z.B. in Diskussionen, nicht nur die jeweils geäußerte Auffassung, sondern auch das, was die Betreffenden verschweigen oder verteidigen, ohne sich dessen notwendigerweise bewusst zu sein. v
Weder Avantgarde- noch Identitätspolitik: Verschiedene Unterdrückung, gemeinsamer WiderstandMit der „globalisierungskritischen“ Bewegung ist eine transnationale anti-neoliberale Gegenmacht auf den Plan getreten, entstanden durch eine ungeheure politische Arbeit auf der ganzen Welt. Zu nennen sind der zapatistische Aufstand in Mexiko, das von den Aufständischen ausgerichtete „intergalaktische Treffen gegen den Neoliberalismus“, die Demonstrationen und Straßenkämpfe von Seattle gegen die WTO und die Gründung des Weltsozialforums sind herausragende Stationen einer ganzen Reihe von Aktionen, Verständigungsprozessen und Emanzipationsbestrebungen. Diese sind, ob den Akteuren bewusst oder nicht, die Voraussetzung für die aktuellen Auseinandersetzungen auch auf lokaler Ebene. Einige der Methoden, Schwierigkeiten und Ziele solcher lokalen Kämpfe lassen sich am Beispiel Berlins erläutern. Dazu ist es nötig, sich zunächst die politische Lage in der Stadt zu vergegenwärtigen. In den vergangenen Legislaturperioden bis 2001 haben CDU und SPD neben Sozial- und Bildungskürzungen die Privatisierung öffentlicher Betriebe durchgesetzt, was zu massiven Preiserhöhungen für die Verbraucher, zu Arbeitsplatzverlusten und Einnahmeausfällen für die Stadt führte. vi Hinzu kam der berüchtigte Berliner Filz, für den der „Bankenskandal“ nur ein besonders krasses Beispiel ist: Unter Mitwirkung bzw. Duldung des Senats hatte die halbstaatliche Berliner Bankgesellschaft Immobilienfonds mit abenteuerlich langen Laufzeiten eingerichtet, deren Renditen der Senat garantiert, sofern diese sich nicht unmittelbar realisieren lassen. 2001 war der „rot-rote“ SPD-PDS-Senat angetreten, um diesen Sumpf trockenzulegen und weitere Kürzungen im Bildungs- und Sozialbereich zu verhindern. Zweifel waren schon damals angebracht, war doch die SPD bisher eher Teil des Problems als der Lösung. Zur Enttäuschung ihrer Wählerinnen und Wähler setzten die beiden Parteien die bisherige Politik fort. Ein sog. „Risikoabschirmungsgesetz“ belastet den Berliner Haushalt in zweistelliger Milliardenhöhe, allein in 2003 wurden dafür 300 Mio. Euro ausgegeben. Zugleich beschloss der Senat den Ausstieg aus dem Tarifvertrag des Öffentlichen Dienstes und massive Kürzungen im Bildungs- und Sozialbereich, so z.B. an den Hochschulen, bei den Verkehrsbetrieben (Streichung des Sozial- und Seniorentickets, Kürzung der Mittel für den behindertengerechten Umbau) und beim Behindertenfahrdienst usw. Das Versagen der PDS als Senatspartei besteht nicht darin, dass sie zugunsten der Berliner SPD oder der Bundespolitik Abstriche an ihrer Programmatik macht, sondern darin, dass sie kein Projekt verwirklicht, das diese Abstriche rechtfertigen könnte oder das gar ansatzweise sozialistischen Charakter hätte. Im Gegenteil: Die PDS setzt die neoliberale Politik nur fort und vertritt damit lediglich die Interessen ihres eigenen Apparats an kurzfristigem Machterhalt. Damit beschädigt sie – wieder einmal – das Ansehen des Sozialismus erheblich. „Und ein ‚umgedrehter‘ ... politischer Aktivist richtet mehr Schaden an als zehn Gegner“ (Bourdieu 1998, 17). vii Vor diesem Hintergrund entwickelte sich – als Teil bundesweiter Proteste - eine Berliner Bewegung gegen Sozialabbau, deren bisher aktivster und mobilster Teil die Studierenden sind. Anders als 1997, waren die Hochschulstreiks des Wintersemesters 03/ 04 von erfrischender Militanz und zielten von Beginn an darauf, „den Protest in eine breitere soziale Bewegung einzubetten“ (Grottian 2004). Die Kürzungsmaßnahmen im Hochschulbereich wurden unmittelbar als Teil einer gesamtgesellschaftlichen Politik begriffen, gegen die praktische Solidarität mit anderen gesellschaftlichen Gruppen notwendig ist. „Protestierende, öffentliche Vorlesungen abhaltende und Kreuzungen blockierende Studierende waren bald im Berliner Stadtbild und in den Medien omnipräsent“ (Achtelik 2004). Viele Studierende „wagten sich weit aus dem universitären Elfenbeinturm hinaus, knüpften Kontakte zu ebenfalls von Kürzungen betroffenen Kindertagesstätten, SchülerInnen, dem Berliner Sozialforum und Gewerkschaften. Ein ... Bündnis gegen Bildungs- und Sozialabbau gründete sich, und bei den Bestzungen der Senatorenbüros erfuhren die Aktiven, dass reden nichts hilft, PolitikerInnen nicht ihre Interessen vertreten und Versprechungen nicht geglaubt werden darf. Überraschend war die Vehemenz und Militanz einiger Studierender, die sich nicht mehr um Absperrgitter kümmerten und auch keine Angst vor Pfefferspray und Polizisten in Vollkörperpanzerung zeigten“ (ebd.). Unter der Parole „Alle für Alle“ mischte man sich in Angelegenheiten, die einen nach Auffassung der Herrschenden nichts angehen. (Mit der Variante Alles für Alle wurde, ohne Sektierertum, die Forderung nach radikaler Veränderung der Besitzverhältnisse artikuliert.) Als Beispiel kann man die Umsonstfahr-Aktionen nennen, mit der Geringverdienende, Studierende und andere Interessierte gegen die Streichung des Sozialtickets protestierten und dabei auf viel Sympathie in der Bevölkerung stießen. Die Proteste erzwangen die Rücknahme einiger Kürzungen, Zugeständnisse des Senats dürften allerdings als taktischer Versuch zu werten sein, die Bewegung zu spalten. Mit der Vernetzung gelang es in Ansätzen, das zu überwinden, was man mit Bourdieu die strukturellen Zwänge des sozialen Raumes zu überwinden: Menschen unterstützten einander, die ansonsten manches trennt, konkrete soziale Lage, Zukunftserwartungen, Ansichten oder auch die Art, sich auszudrücken. Dies erfordert geduldige und respektvolle Vermittlungs- und Verständigungsprozesse und den Verzicht auf bloß instrumentelle Verhaltensweisen wie Avantgarde- oder auch Identitätspolitik. Die neue Art der Zusammenarbeit stellt zweifellos eine Errungenschaft dar, die allerdings nicht gegen Rückschläge gesichert ist, wie etwa die Kooperation mit dem Bundes-DGB zu den auf dem Europäischen Sozialforum in Paris verabredeten Protesttagen zeigte (vgl. Gauthier 2003, Allex 2004).
LiteraturAchtelik, Kirsten (2004): Die Uni, die Stadt und Rotrot. In: analyse & kritik 483, 10 Allex, Anne (2004): Weder bündnisfähig noch gegen Sozialkahlschlag. DGB dominiert den Aktionstag gegen Sozialabbau. In: analyse & kritik 483, 8 Baller, Ralph (2001): Älterwerden. Subjektwissenshaftliche Annäherung an ein allgemeines Problem. In: Forum Kritische Psychologie 43, 77-105 Bischoff, Joachim, u.a., Hg. (2003): Klassen und soziale Bewegungen. Strukturen im modernen Kapitalismus. Hamburg Bontrup, Heinz-J. (2003): Unterminierung des Sozialstaats durch neoliberale Wirtschaftspolitik. In: Z, 55, 8-19 Bosbach, Gerd (2004): „Demographische Langzeitprognosen: Horrorszenario auf wackligen Füßen?“ (Interview). In: junge Welt, 5.3. Bourdieu, Pierre (1997): Die Abdankung des Staates. In: Ders. u.a., 207-15 ders. (1998): Gegenfeuer. Konstanz ders. u.a. (1997): Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft. Konstanz Brecht, Bertolt (1982a): Vorwort [zu Leben des Galilei]. GW 17, Frankfurt/M., 1103-06 ders. (1982b): Über die beste Art, Menschen von ihren Klassenvorurteilen zu befreien. GW 20, Frankfurt/M., 64f Gauthier, Elisabeth (2003): Akteure der sozialen Transformation: Altermondialisten, Gewerkschaften und Parteien. In: Bischoff u.a., Hg., 226-248 Grottian, Peter (2004): Mut zum Ungehorsam! In: junge Welt, 21.4.(uni-spezial) Grüner, Guido (2004): Klassenkampf von oben. Verarmte Erwerbslose in bankrotten Kommunen. In: junge Welt v. 9.3.04 Hinrichs, Karl (1997): Social Insurances and the Culture of Solidarity: Moral Infrastructure of Interpersonal Redistributions – with Special Reference to the German Health Care System. ZeS-Arbeitspapier 3/97; s. http://www.zes.uni-bremen.de/ Holzkamp, Klaus (1994): Antirassistische Erziehung als Änderung rassistischer "Einstellungen"? - Funktionskritik und subjektwissenschaftliche Alternative, in: S. Jäger [Hrsg.]: Aus der Werkstatt: Antirassistische Praxen. Konzepte - Erfahrungen - Forschung, Duisburg, 8 - 29 Huffschmid, Jörg, Dieter Eißel, Hannes Koch & Margit Walter (2004): Öffentliche Finanzen: gerecht gestalten! Hamburg Krätke, Michael R. (2000): Steuergerechtigkeit in der Europäischen Union. In: Kritische Interventionen 4, 34-82 Kuczynski, Jürgen (1997): Was wird aus unserer Welt? Betrachtungen eines Wirtschaftswissenschaftlers. Berlin Urban, Hans-Jürgen (2003): Die neue Sozialpolitik. Zum Zusammenhang von europäischer Integration und nationalstaatlichem Sozialabbau. In: Z, 55, 20-31 Wagner, Hans (1995): Menschliche Selbstveränderung in der globalen Revolution. Versuch einer Ortsbestimmung der Gegenwart nach der Implosion des Staatssozialismus. In: Hanna Behrend, Hg., Emanzipation = menschliche Selbstveränderung? Berlin, 137-227
Anmerkungen:i Er resümiert: „Zukünftig ist es nicht mehr akzeptabel, dass drei Prozent der deutschen Bevölkerung über rund 80% des Produktivvermögens (Fabrikanlagen, Maschinen etc.) verfügen. 365.000 Einkommensmillionäre ... besitzen inzwischen mehr als ein Viertel des bundesdeutschen Geldvermögens; sieben Millionen Menschen in Deutschland müssen hingegen mit weniger als 460 Euro im Monat auskommen. Und die Gewinne der Unternehmen, seit 1976 um 90% gestiegen, schlagen sich nicht in der immer wieder fälschlicherweise behaupteten Schaffung neuer Arbeitsplätze nieder“ (ebd., 18f). ii Zur psychodynamischen Seite solcher Ängste s. Baller (2001). iii Den widersprüchlichen Charakter der Sozialversicherungen, die die Lohnabhängigen einerseits an die herrschenden Verhältnisse binden, ihnen aber andererseits einen Rückhalt bei der Vertretung ihrer Interessen geben, hat bereits August Bebel erkannt (vgl. Kuczynski 1997, 25f). iv „Der Anstrengung folgt die Erschöpfung, der vielleicht übertriebenen Hoffnung die vielleicht übertriebene Hoffnungslosigkeit. Die nicht in... Teilnahmslosigkeit zurückfallen, fallen in Schlimmeres; die die Aktivität für ihre Ideale nicht eingebüßt haben, verwenden sie nun gegen dieselben! Kein Reaktionär ist unerbittlicher als der gescheiterte Neuerer... In diesen Zeiten wird der Begriff des Neuen selber verfälscht. Das Alte und Uralte... proklamiert sich als neu, oder es wird als neu verkündet, wenn es auf eine neue Art durchgesetzt wird. Das wirklich Neue wird da abgesetzt, als das Gestrige erklärt, zu einer flüchtigen Mode heruntergemacht, deren Zeit vorbei sei. Das Neue ist z.B. die Art, wie Kriege geführt werden, und alt soll sein eine Art der Wirtschaft, angedeutet, noch niemals ausgeführt, welche Kriege überflüssig machen will. Auf eine neue Art wird die Gesellschaftsordnung der Klassen befestigt, und alt soll sein, die Klassen beseitigen zu wollen“ (Brecht 1982a, 1104f). Obwohl aus dem Jahr 1939, scheint das Zitat Brechts genau das herrschende Denken der 1990er Jahre zu beschreiben. v „Wenn wir Vorurteile bekämpfen, müssen wir im Aug behalten, dass sie kaum jemals einzeln auftreten. Sie hängen immer mit andern zusammen, darunter solchen, die unter Umständen zäher und für ihre Inhaber lebenswichtiger sind als die gerade von uns bekämpften. Wir merken oft, dass unser Mann ein Vorurteil nicht aufgibt, obwohl er unseren Argumenten keine Argumente mehr entgegenhalten kann, nicht einmal das ...: er brauche die betreffende Ansicht, um so existieren zu können, wie er existiert. ... [E]ine andere Art kann er sich natürlich nicht vorstellen. Wenn wir mit ihm sprechen, müssen wir das immer im Aug behalten, dass wir außer der Art, wie er existiert, noch eine andere Art ... für ihn bereithalten, sonst muss er befürchten, uns läge mehr an unseren Argumenten als an seiner Existenz“ (Brecht 1982b). vi Die Privatisierung öffentlicher Betriebe, der BEWAG (Stromversorgung), GASAG und der Wasserbetriebe (Teilprivatisierung) hat der Stadt seit 1997 Einnahmeverluste in Milliardenhöhe und die Beseitigung von rund 16.000 Erwerbsarbeitsplätzen eingebracht. Der Senat hat die Betriebe zu für das Kapital paradiesische Konditionen regelrecht verscherbelt. Die BEWAG z.B. wurde für insgesamt 1,17 Mrd. Euro verkauft, einer der Konzerne veräußerte seinen Anteil für 1,81 Mrd. Euro weiter. Bei den Wasserbetrieben wird der private Anteilseigner überproportional am Gewinn beteiligt. vii Zur Apologie ihres Verhaltens benutzen PDS-Politiker und –Politikerinnen die übliche Rhetorik. Werden sie kritisiert, dann handelt es sich um „Missverständnisse“, um „Ängste“, die man verstehen könne; die eigene Position sei vielleicht „nicht richtig kommuniziert“ worden, für Probleme seien im übrigen der Vorgängersenat, die Bundesregierung, der Koalitionspartner oder andere Akteure verantwortlich, nur nicht man selber. Eine Variante der „Kommunikation“ fügte der „Finanzexperte“ und MdA der PDS Carl Wechselberg hinzu, als er behauptete, mit dem Berliner Doppelhaushalt 04/05 seien „wir“ mit dem „Sparen im Wesentlichen durch“ (zit. n. Berliner Zeitung, 18.3.04). Angesichts der vom Finanzsenator in seiner Rede zum Doppelhaushalt angekündigten Kürzungen bis 2007 (vgl. ...) ist dies entweder Ausdruck von Inkompetenz oder eine Lüge. Oder Wechselberg geht davon aus, dass der Senat (vorzeitig) abgewählt wird. ![]() ![]() |
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GLASNOST, Berlin 1992 - 2019 |
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