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Beiträge zur Politik  









Gutbürgerlich bis ultrarechts: Gründungs- und Existenzmythen der FU Berlin

von Michael Zander (1999)

Zu Jubiläen gehört der Honig ums Maul. Besonders dick wird aufgetragen, wenn der Jubilar selbst das Wort ergreift, um seine Verdienste und seine Bereitschaft zur Unterwerfung unter das Kapital zu rühmen. Mit einem im Dezember 1998 im Nicolai-Verlag erschienenen Buch - "Freie Universität Berlin" - beglückwünscht sich die Obrigkeit zum 50jährigen Bestehen ihrer Akademie; Uwe Schlicht, Redakteur beim Tagesspiegel, übernahm den Großteil der Schreibarbeit. Insbesondere drei Themen des Geschichtsbildes der FU hochgradig sind gesättigt von Ideologie - die Wissenschaftstheorie, die Einschätzung der herrschenden Politik und die Haltung zum deutschen Faschismus (mit der man die Haltung zur Sowjetunion unbedingt in Zusammenhang sehen muss).


Bürgerliche Politik gegen marxistische Wissenschaft

Die Wissenschaftstheorie, der die FU-Obrigkeit anhängt, zeigt sich in Schlichts Darstellung der Kampagnen gegen marxistische Wissenschaftler nach 1968. "Der Staat reagierte auf die linke Unterwanderung der Universität mit einem Zickzackkurs zwischen Entschlossenheit und Hilflosigkeit" (S.55). Nachdem der Senat zunächst eine gerichtliche Klage gegen "marxistische" Lehrveranstaltungen in der Germanistik verloren hatte, habe er, so Schlicht, das "nächste Mal... Härte" gezeigt, als "er sich weigerte, den Marxisten Hans-Heinz Holz auf einen Lehrstuhl zu berufen. (...) Auch der belgische Trotzkistenführer Ernest Mandel wurde von Senator Stein nicht an die FU berufen: Der Senator warf der Universität vor, ihn nie zuvor durch einen Berufungsvorschlag so herausgefordert zu haben." - 'Unterwanderung' bezeichnet das heimliche Eindringen von Leuten in ein Gebiet, in dem sie angeblich nichts zu suchen haben. Die der gesamten Linken unterstellte Heimlichkeit wird von Schlicht an anderer Stelle selbst bestritten. Bemerkenswert ist, dass Schlicht die verlorene Klage des Senats nicht als Versuch ungeheuerlicher Einmischung des Staates in wissenschaftliche Angelegenheiten wertet, sondern als "Hilflosigkeit". Dass Mandel ein international anerkannter Wirtschaftswissenschaftler war und Holz ein nicht weniger berühmter Philosoph ist, wird verschwiegen. "Der Marxismus als Wissenschaft war nicht in dem KPD-Urteil von 1956 verboten worden. Aber die Frage, ob der Marxismus von unabhängigen Wissenschaftlern gelehrt werden müsse oder ob auch überzeugte Marxisten die marxistische Theorie... zum Gegenstand der Wissenschaft machen dürfen, wurde nicht beantwortet." Falsch. Die Frage wurde beantwortet, allerdings unterschiedlich, und nicht immer so, wie es Herrn Schlicht gefallen würde. Außerdem ist die Frage selbst recht merkwürdig. Wenn marxistische Theorie Teil der kontroversen wissenschaftlichen Auseinandersetzung ist, dann muss sie auch von denen vertreten werden können, die von ihr überzeugt sind. Andernfalls dürften auch bürgerliche Wissenschaftler nicht Theorien vertreten, die sie für richtig halten und die für die Rechtfertigung der herrschenden Verhältnisse erstaunlich gut geeignet sind. Dass das "überzeugte" Vertreten marxistischer Theorie überhaupt unter Verdacht gestellt wird, zeigt, dass der Marxismus nicht als vollwertiger Kontrahent innerhalb der Wissenschaft anerkannt ist. Bezeichnend ist auch, dass Herr Schlicht überhaupt den Gedanken andeutet, Marxismus sei vielleicht gerichtlich verbietbar.

An der FU, so Schlicht weiter, wurde an Versuche gedacht, die "im akademischen Bürgerkrieg verfeindeten Wissenschaftler zu trennen", besonders im Fall der "Politologen und Germanisten - wo die Marxisten besonders radikal auftraten..." Damit wird der Streit gegensätzlicher wissenschaftlicher Argumente, die immer politische Implikationen enthalten, umgedeutet in einen - scheinbar irrationalen und bloß privaten - "Krieg" verfeindeter Wissenschaftler.


Beispiel Psychologie

"Bei den Psychologen kam es zur Spaltung des Instituts... Prof. Klaus Holzkamp, der mit dem Projekt des sozialistischen Schülerladens... für Schlagzeilen gesorgt hatte, schlüpfte unter das schützende Dach des Fachbereichs Philosophie und Sozialwissenschaften - dieser Fachbereich entwickelte sich zur Trutzburg der Linken. Prof. Adolf Jäger führte seine empirisch orientierten Psychologen in den Fachbereich Erziehungswissenschaften. Seit dem Jahr 1971 bekämpften sich beide Institute erbittert; erst 1993 gelang die Zusammenführung." Zunächst beachte man die Sprache. Holzkamp, allein, "schlüpft" wie ein Krimineller unter das "schützende Dach" einer "Trutzburg". Jäger dagegen "führt" seine Kollegen; nebenbei wird andeutungsweise Holzkamps Arbeiten der Empiriebezug abgesprochen.

Die Wahrheit ist, dass Jäger und Co. sich vom Psychologischen Institut (PI) abspalteten. Ihnen, denen das PI in Lehre und Forschung "zu links" war, wurde vom Senat ein eigenes (rechtes) Institut geschenkt. Das PI wurde schließlich durch eine jahrelange feindselige Senatspolitik zur Abwicklung gezwungen. Man drohte, das PI werde nie mehr eine Stelle erhalten - womit man die bisherige Politik der "Aushungerung" nur fortsetzte und verschärfte (Katsch und Kaindl 1993; Fried u.a. 1995). Die besonderen demokratischen Errungenschaften des Instituts fielen der Abwicklung zum Opfer.

Übrigens war es nicht Holzkamp, der 1970 für "Schlagzeilen" über einen studentischen Schülerladen sorgte, sondern ein Bündnis zwischen der rechtsextremen professoralen "Notgemeinschaft", der Berliner CDU und Teilen der Springer-Presse. Die Hauptschlagworte der Denunziationskampagne lauteten "politische Beeinflussung" (Diskussionen mit den Kreuzberger Schülern über die Armut in ihren Familien oder auch über den Vietnam-Krieg) und Anleitung zu "Schweinereien" (Sexualaufklärung, Thematisierung der verdinglichenden Vorstellungen über Sexualität). In einem Interview sprach Senator Stein damals den eigentlichen Grund der Kontroverse an: "Herr Prof. Holzkamp geht von einer ganz anderen wissenschaftstheoretischen Auffassung aus als wir. Er denkt... beinahe altmarxistisch. Diese Schüler in Kreuzberg hält er für benachteiligte Kinder. Wenn wir behaupten, 'alle Kinder haben gleiche Chancen', so dürfte er antworten: 'Dass ich nicht lache.'" (zit. n. Haug 1971, S.411) Genau!


Marxistische gegen bürgerliche Wissenschaftstheorie

Sozialwissenschaftliche Konzeptionen enthalten unweigerlich (implizite) Stellungnahmen zu der von Gegensätzen geprägten gesellschaftlichen Wirklichkeit (s. Fried u.a. 1998). Folglich darf Parteilichkeit der Wissenschaft nicht aufoktroyiert werden, sondern sie ergibt sich vielmehr aus der Eigenart ihres Gegenstandes. Die bürgerliche Psychologie, so Holzkamp (1977, S.317) erforsche "nicht die Lebenstätigkeit und Subjektivität von konkreten Menschen unter historisch bestimmten, formations- und klassenspezifischen Lebensbedingungen in der bürgerlichen Gesellschaft, sondern Verhalten und Erleben von abstrakten Individuen, die einer als naturhaft-ahistorisch missdeuteten Umwelt gegenüberstehen." Kritische Psychologie hingegen ist dadurch gekennzeichnet, dass sie, soweit sie ihrem Anspruch gerecht wird, diese ideologische Verkürzung kenntlich macht und überwindet. Dazu gehört eine Absage an den Positivismus (s. Brentano 1967), der die Frage nach dem Wesen des Gegenstandes - z.B. "Intelligenz" - als unwissenschaftlich abtut und nur die Resultate der Anwendung eines bestimmten Methodenkanons - Tests etc. - anerkennt. Die Kritische Psychologie vermeidet die sonst übliche Willkürlichkeit der Begriffsbildung dadurch, dass sie psychologische Grundbegriffe (z.B. Motivation oder Lernen) aus der Analyse der menschlichen Natur- bzw. Sozialgeschichte gewinnt. Das Wesen individueller Entwicklungsprozesse "kann nur aufgrund der... historisch abgeleiteten Kategorien zur Erfassung des Verhältnisses zwischen 'artspezifischen' Entwicklungsmöglichkeiten und ihrer gesellschaftlich bestimmten Realisierung... erfasst werden" (Holzkamp a.a.O., 334; s. 1983; 1993).

Bei genauerer Betrachtung zeigt sich also, dass die Gegensätze in der Psychologie und den anderen Sozialwissenschaften nicht nur politischer, sondern zutiefst wissenschaftlicher Art sind. Einen Herrn Schlicht ficht das natürlich nicht an. Siegesgewiss schreit er: "Dass der Versuch, die Struktur der FU im Wintersemester 1988/89 zu ändern, im Studentenstreik weitgehend scheiterte und dabei als Sumpfblüte... noch einmal der Zwist zwischen den... verfeindeten psychologischen Instituten hochkam, war nur noch eine Fußnote aus vergangenen Zeiten" (FUB, S.72). Überhaupt, sagt Schlicht, ist heute alles besser. Nicht nur, dass aufgrund extremer Studienbedingungen z.B. die Noten der Studierenden nicht mehr so "erschreckend gut" (74) sind; der ganze "akademische Bürgerkrieg" sei beigelegt. Die FU im allgemeinen und der (reaktionäre) Akademische Senat im besonderen sei "eine Verantwortungsgemeinschaft..., die in völlig neuen Kategorien denkt, nicht mehr in Begriffen konservativ, progressiv oder liberal, nicht mehr im Politikverständnis der Fraktionsuniversität von gestern, sondern in dem neuen Bewusstsein: 'Wir sind alle Mitglieder einer Universität'" (78). Wilhelm Zwo läßt grüßen: Man kennt keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche - Entschuldigung - FUler.


Deutschland als "Opfer" des Nazifaschismus, die FU als Vorposten gegen den Kommunismus

Das "neue" Bewusstsein prägt auch die Haltung zum Nazifaschismus. Diese äußert sich in der Feindseligkeit gegen den Berliner Universität, gegen die die FU 1948 gegründet worden war. Herr Schlicht verliert kein Wort darüber, dass die FU damals zahlreiche Naziprofessoren einstellte (vgl. Lönnendonker 1988, S.355), die an der Berliner Universität abgelehnt worden waren. Gleichzeitig kritisiert er die Zulassungspolitik der späteren Humboldt Universität wie folgt: "In der unmittelbaren Nachkriegszeit war es... noch [!] hinzunehmen [!], dass ehemalige Mitglieder der NSDAP, aktive Reserveoffiziere und Offiziere nicht zum Studium zugelassen werden durften. Und man konnte nach den Erfahrungen einer sich selbst rekrutierenden Bildungselite im Kaiserreich und in der Weimarer Republik auch Verständnis [!] dafür haben, dass nach 1945 die Jugend aus allen Schichten des Volkes die Chance zum Hochschulstudium bekommen sollte..." (10).

In einer Broschüre, die die FU zu Beginn der 50-Jahr-Feiern herausgab, setzt Prof. Kotowski noch eins drauf. "Die Berliner Bevölkerung hatte im Sommer 1945 den Einmarsch der Truppen der Westmächte [!] begrüßt [!], weil sie auf ein Ende der Willkürherrschaft [!] hoffte." Die SU, deren Truppen nicht "begrüßt" wurden, hatte 20.000.000 Kriegstote und ein zerstörtes Land zu beklagen.

Das selbstgefällige und verfälschende Geschichtsbild der FU entsteht in vier Schritten. 1. Totgeschwiegen wird, dass die SU einerseits ein Opfer des deutschen Imperialismus und andererseits ein politisch und militärisch wichtiges Mitglied der Anti-Hitler-Koalition war und als solches wesentlich zur Zerschlagung des Nationalsozialismus beigetragen hat. 2. Der konkrete deutsche Faschismus mit seiner Geschichte, seinen Unterstützern (auch aus den "besseren Kreisen"), seinen beispiellosen Untaten und seiner Ideologie wird abstrakt zu einer beliebigen "Willkürherrschaft" umdefiniert, von der man vorgeblich nicht weiß woher und wohin. 3. Es wird unterstellt, die Bevölkerung habe den Sturz der "Willkürherrschaft" begrüßt. Dass sie z.T. selbst diese Herrschaft unterstützte und von ihr profitierte, wird dabei verschwiegen. Mittels dieses Tricks erscheint "die" Bevölkerung als (unschuldiges) von den "Westmächten" befreites Opfer. Damit ist "Westdeutschland" und seine FU glücklich auf die Seite der "Westmächte", der Demokraten usw. gebracht. "Westdeutschland" wird vom Besiegten zum "verdienstvollen Bollwerk" gegen die SU. 4. Als Identifikationsfiguren werden bestimmte Leute in den Vordergrund gerückt und z.B. als "NS- und SED-Widerstandskämpfer" bezeichnet. Damit wird zweierlei erreicht: Erstens können personelle, aber auch strukturelle und ideologische Kontinuitäten zwischen Faschismus und BRD "elegant" umgangen werden. Zweitens werden NS- und SED-Regime bzw. der Widerstand dagegen auf eine Stufe gestellt. Das NS-Regime hat einen rücksichtslosen Angriffskrieg gegen die Völker Europas geführt und millionenfachen "industrialisierten" Völkermord begangen. Es hat außerdem den inländischen und ausländischen Widerstandskampf mit einer Grausamkeit unterdrückt, für die es keinen Vergleich gibt.

Was die FU propagiert, das ist eine Geschichtsideologie des Kalten Krieges. Mit ihr hatte die 68er Bewegung gründlich aufgeräumt. Seitdem war sie weitgehend der sog. "Neuen Rechten" vorbehalten gewesen. Spätestens 1990 aber begann der Aufstieg Deutschland zu einer kapitalistischen Großmacht. Heute scheint das ultrarechte Geschichtsbild herrschende Lehre geworden zu sein. Die Klagen des FU-Mythos über repressive Maßnahmen der sowjetischen Behörden sind vor diesem Hintergrund nichts als heuchlerisch!

Wie schreibt FU-Präsident und Herausgeber Gerlach so schön über das jetzt erschienene Buch: "Dieser Band beansprucht... keine... wissenschaftliche Objektivität - er ist eher eine Sammlung von Skizzen... einer Institution, die... einen ganz ungewöhnlichen Charakter hat."



© Michael Zander, Berlin 1999



Literatur


BRENTANO, Margherita v. (1967): Die unbescheidene Philosophie. Der Streit um die Theorie der Sozialwissenschaften. In: Das Argument 43

dies. (1971): Wissenschaftspluralismus. Zur Funktion, Genese und Kritik eines Kampfbegriffs. In: Das Argument 66

FRIED, Barbara u.a. (1995): Psychologie an der FU Berlin: Modell für die Einsparung bzw. Entsorgung kritischer Wissenschaft? In: Forum Kritische Psychologie, 156-172

dies. u.a., Hg. (1998): Erkenntnis und Parteilichkeit. Kritische Psychologie als marxistische Subjektwissenschaft. Berlin, Hamburg

HAUG, Wolfgang Fritz (1971): Der sexuell-politische Skandal als Instrument antidemokratischer Kampagnen. In: Autorenkollektiv, Schülerladen Rote Freiheit, Frankfurt a.M., S.389-464

HOLZKAMP, Klaus (1977): Kann es im Rahmen der marxistischen Theorie eine Kritische Psychologie geben? In: Das Argument 103, S.316-336

ders. (1983): Grundlegung der Psychologie. Frankfurt a.M.

ders. (1993): Lernen. Subjektwissenschaftliche Grundlegung. Frankfurt a.M.

KATSCH, Nadja und Christina Kaindl (1993): Widerstand zwecklos? Zur Eliminierung kritischer Wissenschaft an der FU Berlin. In: Forum Wissenschaft 3/93, S.34-36

LÖNNENDONKER, Sigward (1988): Freie Universität Berlin. Gründung einer politischen Universität. Berlin

PRÄSIDENT DER FUB, Hg. (1998): Freie Universität Berlin










 

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