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Beiträge zur Theorie  









Werner Seppmann

Zivilisierung und Unterdrückung

Über die Zukunftsfähigkeit einer kapitalistischen "Moderne"

    "Alle Errungenschaften der Moderne tragen so lange einen ambivalenten Charakter, wie sie Bestandteile einer Gesellschaft der Klassenherrschaft sind". (Heinz Jung)


I. Im Entwurf zu einem neuen Parteiprogramm der PDS1 haben sich Sichtweisen durchsetzen können, die in entscheidenden Punkten vom 1993 verabschiedeten Parteiprogramm abweichen: Der Kapitalismus soll neu bewertet, ein prinzipiell positiver Charakter der bürgerlichen Gesellschaft anerkannt und vom "Klassenkampfdenken" Abschied genommen werden. An entscheidender Stelle konstatiert der "Programm-Entwurf", dass die gegenwärtige Gesellschaft "allein mit dem Begriff Kapitalismus nicht wirklichkeitsgerecht erfasst werden kann." Sie wäre stattdessen in einem umfassenderen Sinne als eine "Moderne" zu klassifizieren, die zwar noch kapitalistische Grundzüge besäße und von vielen Widersprüchen geprägt sei, jedoch auch die Mechanismen ihrer Überwindung hervorgebracht habe. Den Initiatoren einer Programm-Revision ist es damit gelungen Positionen festschreiben, die von ihnen und ihren konzeptionellen Vordenkern schon seit mehr als einem Jahrzehnt vertreten werden: "Die bürgerliche Gesellschaft, in den Betrachtungen des kanonisierten Marxismus-Leninismus in einer allgemeinen Krise gewähnt, präsentiert zum Ende des 20. Jahrhunderts strukturelle Ansätze für die Evolution des 21. Jahrhunderts [...] Sie verfügt über Modernequalitäten, die auch für zukünftige Entwicklungen offen sind." (D. Klein 1991a, S. 16) Immer wieder haben die "Modernisierer" ihre Sichtweise von einer geläuterten und auch in ihrem gegenwärtigen Zustand zukunftsweisenden "Moderne" apodiktisch präsentiert. Gleichzeitig haben sie die Anerkennung eines "erfolgreichen, überlegenen Kapitalismus", in dem sich "die grundlegenden Errungenschaften der Moderne" bündeln würden (M. Brie, zit. nach Junge Welt vom 28. 2. 2000), zu einem Prüfstein für die "Politikfähigkeit" (A. Brie) der PDS erklärt.

Referenzstatus hat ein "Moderne-Begriff", der in der kritischen Gesellschaftstheorie als "Sozialmythos" (P. Wehling 1992) beschrieben worden ist, weil mit seiner Hilfe die sozialen Organisationsprinzipien des Kapitalismus als überhistorischer Vergesellschaftungsmodus und das kapitalismuskonforme Denken als von globaler und "zivilisationsgeschichtlicher" Allgemeingültigkeit festgeschrieben werden: "Die Durchsetzung der Moderne erscheint damit an der Entwicklung und Entfaltung der kapitalistischen Produktionsweise und Gesellschaft gebunden und der Sozialismus kann als illegitimer Ableger der Moderne oder gar als Rückfall in die Prämoderne denunziert werden." (H. Jung 1992, S. 201)2

Mit Formulierungshilfen dieser "sozialwissenschaftlichen Diskussion" (Programm-Entwurf) werden als "Zivilisationsgewinne moderner bürgerlicher Gesellschaften" (D. Klein 2000) solche politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen "Basisinstitutionen" wie Markt, Konkurrenz, Internationalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft, Individualisierung, sozialstaatlicher Kompromiss, geistige und kulturelle Vielfalt indiziert (vgl.: D. Reissig 1992, S. 26). Mit der flankierenden Unterstützung eines systemtheoretischen Begriffsschemas3 werden wesentliche Zusammenhänge des sozialen Geschehens gedanklich so präpariert, dass es möglich wird, die sozio-kulturellen Krisenentwicklungen als "Abweichungen" von den eigentlichen, zivilisationsgeschichtlich vorwärtsweisenden Potentialen einer "marktwirtschaftlichen Moderne" (D. Klein) zu klassifizieren.4 Diese "Modernequalitäten" (D. Klein) – die tatsächlich existieren, jedoch höchst widersprüchlich ausgeprägt sind – sollen sauber von der Tatsache ihrer systematischen Verformung getrennt werden (vgl.: W. Seppmann 2000).

Zwar sollen "an die Stelle der Dominanz der Kapitalverwertung über Richtung, Gestalt und Tempo des Wandels der menschlichen Zivilisation die Dominanz sozialer, kultureller und ökologischer Zielsetzungen" (Gysi-Thesen) treten. Jedoch folgt daraus keine Infragestellung der Strukturprinzipien der kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Im Gegenteil: "Der moderne Sozialismus ... ist nicht ‚anti-kapitalistisch’ im Sinne der Ablehnung seiner Kapitalverwertungsökonomie, er will Kapitalverwertung durch gesellschaftliche Institutionen gestalten." (R. Land 1999, S. 811) Das Profitprinzip soll durch soziale Kontrolle "domestiziert", aber grundsätzlich nicht in Frage gestellt werden (vgl.: H. Heininger 2000). Dann stellt sich jedoch die entscheidende Frage, in welcher Weise und mit welchen Mitteln die "Evolutionspotentiale" durchgesetzt werden können? In diese geistigen Kosten stürzt sich der Moderne-Diskurs jedoch nicht. Nicht nur durch Formulierungen, wie jener die unterstellt, dass "aus der kapitalistischen Dynamik selbst ... unverzichtbare Zivilisationsgewinne erwachsen" (D. Klein 2000), resultiert der Eindruck, dass ganz im Sinne einer tradierten Geschichtsphilosophie (wenn auch nun mit umgekehrten Vorzeichen) die historische Entwicklung als gradlinige Progression begriffen wird.

II. Dass die bürgerliche Entwicklung die Möglichkeiten zur zivilisatorischen Weiterentwicklung geschaffen hat, ist keine "Entdeckung" auf die der "Modernisierungs"-Flügel in der PDS eine Originalitätsanspruch erheben kann. Im Prinzip haben es Marx und Engels nicht anders gesehen. Mehr als einmal haben sie die zivilisatorischen Leistungen der bürgerlichen Gesellschaft gerühmt und ihre fortschrittliche Rolle hervorgehoben (erinnert sei nur an die emphatischen Formulierungen im "Kommunistischen Manifest"). Jedoch gibt es einen entscheidenden Unterschied! Sie vermeiden den Eindruck, als ob aus diesen Möglichkeiten selbsttätig der historische Fortschritt sich entwickeln könnte. Sie haben die Entwicklungspotentiale nur als Chance begriffen, die gegen bornierte Klasseninteressen und eine regressive Eigendynamik der "Moderne" durchgesetzt werden müssen; ihnen war bewusst, dass die bürgerlichen Fortschrittsbedingungen eine sehr zweischneidige Sache sind: Auch die realen Entwicklungsmöglichkeiten bleiben durch ihre repressiven Entstehungsbedingungen, einer "Logik" der Klassengesellschaft geprägt.

Entfalten könnten sich die Fortschrittspotentiale erst nach Überwindung ihrer antagonistischen Überformung. Im "Elend der Philosophie" schreibt Marx dazu: "Da es vor allen Dingen darauf ankommt, nicht von den Früchten der Zivilisation, den erworbenen Produktivkräften ausgeschlossen zu sein, so wird es notwendig, die überkommenen Formen, in welche sie geschaffen worden, zu zerbrechen." (MEW, Bd. 4, S. 140f.) Die Frage der Überwindung der Verhältnisse, die einer Entfaltung der zivilisatorischen Errungenschaften im Wege stehen, hat für ihn Notwendigkeitscharakter. Nicht im Sinne eines sozialen oder technologischen Determinismus, sondern einer realen Dialektik von Fortschritt und Regression: "Neben den modernen Notständen drückt uns eine ganze Reihe vererbter Notstände, entspringend aus der Fortvegetation altertümlicher, überlebter Produktionsweisen, mit ihrem Gefolg von zeitwidrigen gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen. Wir leiden nicht nur von den Lebenden, sondern auch von den Toten. Le mort saisit le vif!5" (MEW, Bd. 23, S. 12f.) Marx war sich bewusst, dass durch die Verzögerung möglicher Entwicklungsschübe die Widerspruche zunehmen und immer größere Anstrengungen unternommen werden müssen, um den überholten sozio-kulturellen Reproduktionsmechanismus am Leben zu erhalten. Beides kann gravierende antizivilisatorische Konsequenzen haben. Es ist bestenfalls naiv im Windschatten systemtheoretischer Prämissen sich so zu verhalten, "als ob es nur weiterer ‚Modernisierung’ bedürfte, und alles wäre wachstumsökonomisch und wachstumspolitisch in Ordnung." (W.-D. Narr 1996, S. 254) In entscheidenden Bereichen muss stattdessen von der Dominanz regressiver Tendenzen, der Erosion zivilisatorischer Standards ausgegangen werden, weil die herrschenden Vergesellschaftungsmuster, die den aktuellen Problemen immer weniger angemessen sind, durch Inkaufnahme einer zunehmenden Widerspruchsentwicklung künstlich am Leben gehalten werden. Nur um den Preis intellektueller Selbstblockaden kann ignoriert werden, dass der Kapitalismus in Umbruch- und elementaren Krisensituationen zur Sicherung seiner Reproduktionsfähigkeit auch zivilisatorische Katastrophen in Kauf nimmt: Die bürgerliche Gesellschaft der Gegenwart ist immer noch die gleiche sozio-ökonomische Formation, die Auschwitz hervorgebracht hat! Auch deshalb steht "die Vorstellung einer gegenüber der sozialistischen Alternative sich hinziehenden Periode der Barbarei – einer auf den technischen und wissenschaftlichen Errungenschaften der Zivilisation beruhenden Barbarei – ... im Mittelpunkt der Marxschen Theorie." (H. Marcuse 1973, S. 39) Die im Modernisierungs-Diskurs bewunderte "Flexibilität" und "Selbststabilisierungsfähigkeiten" der kapitalistischen Gesellschaft umfassen auch das Instrumentarien der Selbstzerstörung. Die beiden globalen Kriege des 20. Jahrhunderts stehen in einem ebenso engen Verhältnis zu dieser Widerspruchsstruktur, wie aktuelle Tendenzen neofaschistischer Barbarei und sozio-kultureller Entzivilisierung.

Der Hinweis von Marx, dass die polaren Klassen in einer nicht gemeisterten historischen Umbruchsituation auch gemeinsam untergehen können und Rosa Luxemburgs Verständnis der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen im entwickelten Kapitalismus als Kampf um die Alternative "Sozialismus oder Barbarei" weisen in diese Richtung. Von einem solchen kritischen Gegenwartsbewusstseins scheint der Modernisierungs-Flügel in der PDS jedoch unberührt zu sein. Auch die humane und natürliche Ressourcen verschleißenden Zirkelbewegungen des konkurrenzgeprägten Innovationsstrebens und einer ausbeutungsgeprägten Produktivkraftentwicklung werden von ihm noch als "zwanghafter Vorgang einer nicht endenden Kette von Modernisierungen" mit Fortschrittsstatus interpretiert: "In moderne Gesellschaften sind ‚Evolutionsmaschinen’ eingebaut." (R. Land 1999, S. 813) Spätestens mit diesen Vorstellungen bleibt der Moderne-Diskurs hinter den Erfordernissen eines zeitgemäßen Sozialismusverständnisses zurück, das - wenn es mehr als ein funktionales Elemente bürgerlich-parlamentarischer Politikvermittlung sein will - unverwechselbare Emanzipationsperspektiven artikulieren und die virulenten Formen der Selbstunterdrückung und geistig-emotionaler Fremdbestimmung thematisieren muss.

Weil die Menschen durch die Lebenspraxis im Risikokapitalismus bis in die Tiefendimensionen ihrer Psychostruktur geprägt sind, müssen aktuelle Perspektiven der Gesellschaftsveränderung eine "kulturrevolutionäre" Radikalität aufweisen. Denn aufgrund "der tendenziell totalen Vermarktung aller Lebenstätigkeiten" und der kapitalkonformen Instrumentalisierung der Menschen, ist es evident, dass "eine Veränderung allein der ‚Produktionsverhältnisse‘ und der ‚Produktionsweise’" (A. Braun 1999, S. 118), genauso wenig ausreicht, wie eine Teilnahme an zivilgesellschaftlichen "Interaktionen" (R. Land). Nicht nur die Produktionsverhältnisse müssen transformiert werden, sondern auch die von diesen geprägten Formen der Technik und der Naturaneignung, der Lebensgestaltung und der psychischen Reaktionen. Der Sozialismus muss eine Kulturrevolution intendieren, die das selbstunterdrückende Erbe und die tiefsitzenden Deformationen der Menschen thematisiert. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um "die Wiedereinbeziehung der durch die Tradition der ausbeuterischen Zivilisation verkürzten, verstümmelten und verzerrten menschlichen Fähigkeiten, Bedürfnisse und Befriedigungen in die Zivilisation selbst ... [um] die unterdrückte Einbildungskraft und Sensibilität des Menschen zu aktivieren und sie als Fähigkeiten für den radikalen Neuaufbau der Realität zu nutzen." (H. Marcuse 1999, S. 74)

Eine zukunftsfähige Sozialismus-Theorie kann nicht unvermittelt an die tradierten sozio-ökonomischen Reproduktionsformen und kulturellen Zivilisationsmuster anschließen, denn die antagonistische Form der "Zivilisierung" ist permanent von einem Rückfall in die Barbarei bedroht: "Zivilisierung" ist nicht mit der unumkehrbaren Pazifizierung des menschlichen Sozialverhaltens gleichzusetzen; zu offensichtlich ist das Selbstzerstörungspotential der entwickelten "Industriegesellschaft", so dass die Konzepte "der Zivilisierung durch die längst überfällige Theorie der Entzivilisierung zu ergänzen" (S. Breuer 1993, S. 39) wären.

Die Entwicklung pazifizierter Verhaltensformen geht in der Leistungs- und Konkurrenzgesellschaft mit gesteigerten Formen der Selbstdisziplinierung und einer Tendenz zur Selbstunterdrückung (an die wiederum die autoritätszentrierte Instrumentalisierung anschließen kann) einher. Der "Zivilisationsprozess" ist jedenfalls nicht jenes herrschafts- und interessenfreie Kontinuum, als das er in einer evolutionstheoretischen Interpretationsperspektive (an der sich auch die PDS-"Modernisierer" orientieren) erscheint. Aus der repressiven Konstitution des Selbstzwangapparats resultiert eine latente Bedrohung der sozio-kulturellen Errungenschaften; die "sogenannte Zivilisierung" (MEW, Bd. 4, S. 466) ist mit einer Vielzahl direkter und vermittelter Destruktionsformen verknüpft.


III. Ein historisch neues Element im System der sozialen Kontrolle ist die aktive Beteiligung der Menschen an ihrer eigenen Unterdrückung. Die konsumgesellschaftlich definierten Freiheits- und Selbstverwirklichungsvorstellungen realisieren sich durch die "freiwillige" Unterwerfung der gesellschaftlichen Subjekte unter die bestehenden Leistungsnormen. Dem Genuss ist die repressive Arbeit vorgelagert. Weil er einen integralen Bestandteil der individuellen Lebensgeschichten darstellt, wird der soziale Formierungszwang von den Subjekten aber nicht wahrgenommen. Denn von der "gespeicherten Gewalt in den Kulissen des Alltags geht ein beständiger, gleichmäßiger Druck auf das Leben des Einzelnen aus, den er oft kaum noch spürt, weil er sich völlig an ihn gewöhnt hat, weil sein Verhalten und seine Triebgestaltung von der frühesten Jugend an auf diesen Aufbau der Gesellschaft abgestimmt worden sind." (N. Elias, Bd. II, S. 325f.)

In seiner verinnerlichten Form besitzt das gesellschaftliche Normengefüge auch einen unterdrückenden Charakter; im Selbstzwang manifestiert sich gesellschaftliche Herrschaft. Die Normierung der Triebe und die Formierung der Verhaltensstandards sind das Produkt einer konkreten Machtkonstellation; sie sind Ausdruck der Anpassung der Menschen an die kapitalistischen Formen der Rationalität und Arbeitsdisziplin: Die Individuen werden durch die konkurrenzgeprägte Lebenspraxis bis in die Tiefendimensionen ihrer Psychostruktur geprägt.

Gesteigerter Triebverzicht, sowie die erzwungene Erweiterung individueller Leidens- und Leistungsfähigkeit sind Bestandteile des "ambitionierten" Programms, das den Prozess der Konstituierung und Etablierung der kapitalistischen Produktionsweise begleitet hat. Die Übernahme dieser Ebene der "zivilisatorischen" Standards (die in jeder individuellen Sozialisation immer wieder nachvollzogen wird) ist als Prozess der Selbstunterdrückung organisiert und innerhalb bestimmter Konstellationen der Resonanzboden von Selbst- und Fremdhass, wie auch von Aggressionsneigungen gegen andere. Einseitig auf Selbstkontrolle und Techniken der Objektbehandlung konzentriert, bleiben im Rahmen der kapitalistisch orientierten Zivilisation die sozialen Fähigkeiten unterentwickelt. Deshalb können in ökonomischen und sozio-kulturellen Krisenzeiten "die zivilisatorischen Hüllen des 'Kulturmenschen' den Belastungen nicht standhalten. Die schon in Normalzeiten eingeübte Haltung der Konkurrenz - an Prinzipien einer individualistischen Leistungsethik orientiert - gerät zum gruppenegoistischen Kampf zur Behauptung der eigenen Privilegien." (A. Wacker 1979, S. 118)

Durchsetzungs- und Gewaltbereitschaft lassen sich jedoch nicht auf psycho-soziale "Ausnahmesituationen" reduzieren. Den Entwicklungsformen der bürgerlichen Gesellschaft selbst sind antizivilisatorische Momente inhärent: Durch den Marktmechanismus als gesellschaftliches "Basisprinzip" erzeugt sie mit den sozialen Vernetzungen gleichzeitig die Bedingungen für Atomisierung und Ausgrenzung. Sozial bestehen kann nur, wer sich gegen andere durchsetzt. Deshalb sind aggressive Verhaltensmuster eine zwangsläufige Begleiterscheinung der alles beherrschenden Dynamik des kapitalistischen Konkurrenzprinzips, dessen "Wesen, wie sehr es sich zu Zeiten [auch] versteckte, ist die Gewalt, die sich heute offenbart." (M. Horkheimer/Th. W. Adorno, 1969, S. 178)

Die alltägliche Gewalt in den Formen eines bedingungslosen Durchsetzungsbereitschaft ist die unvermeidliche Konsequenz der Universalität des Imperativs der Kapitalverwertung und der damit gesetzten Tendenz zur "Leistungssteigerung" und sozialen Positionsbehauptung. Durch die kapitalistische Lebenspraxis entwickelt sich ein Denken in den Kategorien von Über- und Unterordnung, Akzeptanz und Ausgrenzung, denn immer größere Anstrengungen müssen unternommen werden, um sozial "mithalten" zu können und um den erreichten Status zu sichern. Das Leistungsprinzip (als Kehrseite der Konkurrenzdynamik) bringt sich auch in den Lebensverhältnissen jenseits der Erwerbswelt immer stärker zur Geltung; es strahlt auch auf das "postmaterielle" Leben, den sozialen Habitus ebenso wie die Mentalitätsformen aus. Mit der Beschleunigung der ökonomischen Reproduktionsgeschwindigkeit verändern sich die alle Lebensbedingungen; tendenziell gleichen sich auch die alltäglichen Verhaltensweisen dem Zeitverständnis im Wirtschaftsleben an.6 Weil "die fieberhafte Betriebsamkeit in diesem Sektor der Gesellschaft ... sich auf alle übrigen ausgedehnt hat ... ist Krise und Anomie zum Dauerzustand und sozusagen normal geworden." (E. Durkheim 1973, S. 292)

Noch grundlegender für den zivilisationsgeschichtlichen Doppelcharakter der bürgerlichen Gesellschaft ist ihr ökonomisch vermittelter Selektionsmodus. Sozial integrierbar ist nur das ökonomisch verwertbare. Was keinen Marktwert besitzt wird tendenziell ausgegrenzt, seien es künstlerische Produkte oder nicht benötigte Arbeitskraft-Verkäuferinnen und –Verkäufer. Die ökonomische Ausgrenzung verdichtet sich durch die vorherrschenden Formen der Widerspruchsverarbeitung zu einer sozio-kulturellen: Wer arbeitslos und "desintegriert" ist, erlebt sich als "Versager" und zieht sich schuldbewusst vom sozialen Geschehen zurück. Damit zerstört die arbeitsplatzvernichtende Produktivkraftentwicklung das normative Fundament der "Leistungsgesellschaft": Weil der Ausschluss großer Bevölkerungsgruppen aus der Arbeitswelt auf der individuellen Ebene psychische Instabilitäten erzeugt und normativen Orientierungsverlust bewirkt, wird die Entstehung von Gefühlen der Bedrohung und Ratlosigkeit gefördert, die einen fruchtbaren Nährboden für Ressentiments und Hasssyndrome bilden. "Das heißt nach den europäischen Standards dieses Jahrhunderts, dass die politischen Formen dieser Zivilisation zerschlagen werden." (C. Koch 1995, S. 10)

IV. Die zivilisatorische Entwicklung beschränkt sich zwar nicht auf die menschliche Selbstunterdrückung, jedoch zählt es zu den Defiziten der Zivilisationstheorie von Norbert Elias, diese Seite nicht ausreichend reflektiert zu haben (N. Elias 1976; vgl. auch 1979 und 1987). Die Vernachlässigung der repressiven Dimension des Zivilisationsprozesses, die Verdrängung der bürgerlich-kapitalistischen Instrumentalisierung der Selbstzwangformen und Disziplinierungsmuster ist Ausdruck seiner theoretischen Grundorientierung: Im Kontext eines evolutionären Geschichtsverständnisses wird "gesellschaftliche Höherentwicklung" als Ergebnis sozialer Funktionsdifferenzierung und der Herausbildung eines staatlichen Machtmonopols verstanden; die Abhängigkeit von den klassischen Evolutionstheorien des 19. Jahrhunderst (Comte und Spencer) ist offensichtlich.

Während Elias der Illusion einer weitgehend automatischen Entwicklung der zivilisatorischen Standards verpflichtet ist, bleibt die Freudsche Psychoanalyse von einer tiefen Skepsis gegenüber den Widersprüchen der (bürgerlichen) Kulturentwicklung geprägt. Die psychische Selbstdeformation wird zur Kenntnis genommen und als selbstverständlicher Preis des sozio-kulturellen Fortschritts angesehen. "Im Vergleich zu Elias, haben für Freud die Errungenschaften der Zivilisation einen viel ambivalenteren Charakter. Das betrifft nicht nur die Tatsache, dass Triebversagen individuelles Leiden hervorbringt und zu der Frage nötigen, ob eine Kultur, in der die größere Stabilität mit der Vergrößerung des individuellen Unglücks erkauft ist, sich wirklich lohnt. Es betrifft darüber hinaus in einem ganz fundamentalen Sinn die Paradoxie einer Kultur, die auf dem gleichen Wege, auf dem sie begründet wird, ihre eigene Negation hervortreibt" (H. König 1993, S. 211). Der Zwangscharakter der zivilisatorischen Entwicklung mindere sich nicht durch die Verwandlung von äußeren in inneren Zwang. Die institutionell verankerte Repression bleibe Grundlage der Kultur und kann nicht überwunden werden: Deshalb muss "die Erziehung ... hemmen, verbieten, unterdrücken" (S. Freud, 1952ff., Bd. XV. S. 160), um die Disziplinierung zu gewährleisten. Bei der Entwicklung jeder individuellen Psyche seien deshalb die Unterdrückungserfahrungen der gesamten Zivilisationsgeschichte präsent: "Kultur ist durch Verzicht auf Triebbefriedigung gewonnen worden und fordert von jedem neu Ankommenden, dass er denselben Triebverzicht leiste." (S. Freud 1980, S. 42) Dadurch sei die Möglichkeit individueller und kollektiver Regressionen, d.h. zur Rückbildung der Selbststeuerungsfähigkeiten mitgesetzt (vgl.: ebd. S. 45f.).

Doch trotz seines entwickelten Problembewusstseins dringt auch der Begründer der Psychoanalyse nicht zu einer sozio-historischen Erklärung dieses Widerspruchprozesses vor. Beide Denker repräsentieren die entgegengesetzten Pole bürgerlichen Selbstbewusstseins. Elias´ Vermutung, dass die in der Marktgesellschaft zwangsläufig zunehmende Affektkontrolle eine Garantie für die prinzipielle Pazifizierung der sozialen Verkehrsformen sei, bleibt ebenso einseitig, wie Freuds Auffassung der zivilisationsgeschichtlichen Notwendigkeit der Unterdrückung und sein Hinweis auf die "primäre Feindseligkeit der Menschen gegeneinander" als Ursache für den drohenden Zerfall der "Kulturgesellschaft". Der unbedingte Optimismus auf der einen wie auch die kulturskeptische Sichtweise auf der anderen Seite entstehen durch die Abstraktion von der Tatsache der "Widersprüchlichkeit des Fortschritts ... [als] ein allgemeines Problem der Entwicklung der Klassengesellschaft". (G. Lukács 1984, S. 113) Durch den Verzicht auf soziologische Konkretisierung verabsolutieren beide Denker reale, gleichwohl aber fragmentarische Erfahrungselemente. Denn genau so wenig, wie eine gradlinige Fortschrittslogik existiert, produziert die Zivilisation ihrerseits mit Notwendigkeit ihre eigene Zerstörung.

Viel stärker, als es von Elias berücksichtigt wird, drückt das ökonomische Verwertungsinteresse der bürgerlichen Klasse den historischen Modifikation der Verhaltensformen und dem Mentalitätswandel seinen Stempel auf. Es entspricht jedoch dem gewöhnlichen Modus der bürgerlichen Legitimationsreden, das ökonomische Interesse hinter angeblichen Sachzwängen der "Natur", der "Technik" oder in diesem Falle den kulturellen "Notwendigkeiten" verschwinden zu lassen. Durch diese ideologische Disposition gelingt es dem bürgerlichen Bewusstsein den sozialen Antagonismus als seine eigene Existenzvoraussetzung zu verschleiern: Durch ein dichtes Netz ideologischer Selbsttäuschungen entwickelt sich die "tiefe Heuchelei der bürgerlichen Zivilisation und die von ihr nicht zu trennende Barbarei". (MEW Bd. 9, S. 225)

Jedoch auch Elias´ Beschäftigung mit dem Zusammenhang von "Zivilisation und Gewalt" und seiner Frage nach den Ursachen für den "Zusammenbruch der Zivilisation" in der Zeit der faschistischen Herrschaft (Vgl.: N. Elias 1990, S. 223ff.) bleibt in den entscheidenden Punkten defizitär. Für die Verbindung des Grauens mit der "Normalität" kann er keine schlüssige Erklärung anbieten, so dass letztlich - folgt man seinen Gedankengängen - das Auftreten von "Rohheit und Barbarei" auf der Grundlage von "Standards, die man als Kennzeichen höher entwickelter Gesellschaften der Gegenwart aufzufassen gewohnt ist" (Ebd., S. 394), als unerklärliche "Regelverstöße" erscheinen. Elias führt zwar eine Reihe der historischen Umstände und Entwicklungstendenzen an, die für das Verständnis der deutschen Katastrophe unverzichtbar sind, die alleine die barbarische Regression jedoch nicht erklären können. Schon Lukács hatte in seinen historisch-kritischen Analysen des deutschen Irrationalismus (vgl. u.a.: G. Lukács 1982 und 1984) deutlich gemacht, dass der faschistische Zivilisationsbruch nicht alleine aus den "Besonderheiten" der deutschen Geschichte zu verstehen und die faschistische Ideologie nicht gradlinig aus der Geistesgeschichte abzuleiten sei, obwohl alle ihre Elemente dort vorzufinden sind. Begreifbar wird der Faschismus nur als Ausdruck spezifischer Klasseninteressen, als Herrschaftssystem in einer sozialen Konfrontationsphase in Kombination mit "industriegesellschaftlichen" Selbstzerstörungspotentialen. Jedoch gerade diese, ab einem gewissen Punkt selbstzerstörerische Dynamik der klassenförmigen Strukturierung der zivilisatorischen Entwicklung, der durch den kapitalistischen Vergesellschaftungsmodus verursachte Umschlag von Rationalität in Irrationalität und von Zivilisation in Barbarei wird in der Elias´schen Beschäftigung mit der "deutschen Frage" ausgeklammert.

Im Gegensatz zu Elias hat Freud sich intensiv mit den ambivalenten Tendenzen der modernen "Kultur" auseinandergesetzt, jedoch nur, um ihren prinzipiell repressiven Charakter zu konstatieren und die damit verbundenen Gefahren eines antizivilisatorischen Rückschlags zu beschreiben. Da nach Freud die gesellschaftliche Regulationsinstanz "Gewissen ... in seinem Ursprunge ‚soziale Angst’ und nicht anderes" sei (S. Freud 1980, S. 40), blieben kulturelle Verfallstendenzen und soziale Unterdrückungszustände ständige Begleiterscheinungen der "Zivilisation". Weil Freud den Eindruck erweckt, dass die Selbstrepression ein unverzichtbar für die Kulturschöpfung sei, haftet auch den antizivilisatorischen Prozessen etwas zwangsläufiges an. Damit webt Freud mit an einem weltanschaulichen Schleier, der die realen Grundlagen der bürgerlichen Existenz verdeckt. Denn diese "Erklärung" der zivilisatorischen Widerspruchsentwicklung erfüllt objektiv die Funktion, die Ideologie einer Absurdität der menschlichen Existenz und der Vergeblichkeit allen Veränderungsbemühens zu bestätigen. Ihre Überzeugungskraft gewinnt diese Verallgemeinerung eines verdinglichten Gegenwartsbewusstseins durch die Ausblendung aller gegenläufigen Tendenzen; ideologische Hegemonie verfestigt sich durch die Tabuisierung perspektivischer Orientierungen, die das herrschende Vergesellschaftungsmodell in Frage stellen.

Es ist zwar nicht zu übersehen, dass die Gefahr eines zivilisatorischen Rückschlags in die sozio-kulturellen Reproduktionsmechanismen der westlichen Moderne eingebaut ist, jedoch tritt er nicht mit jener irreversiblen Konsequenz ein, die Freud oder eine geschichtsskeptisch konzipierte "Dialektik der Aufklärung" unterstellen: "Die Herrschaft über die Natur reproduziert sich innerhalb der Menschheit." (M. Horkheimer/Th. W. Adorno 1969, S. 99) Indem Horkheimer und Adorno jede Form menschlicher Auseinandersetzung mit der Natur unter generellen Repressionsverdacht stellen, konstruieren sie die abendländische Zivilisationsgeschichte als einen Prozess irreversibler Verfalls: "Der Fluch des unaufhaltsamen Fortschritts ist die unaufhaltsame Regression." (Ebd., S. 12f.)

Die Infragestellung (vgl.: L. Kofler 1971) einer solch negativen Geschichtsmataphysik hat nichts mit einer Verharmlosung antizivilisatorischer Tendenzen zu tun. Sie erinnert aber daran, dass nur unter ganz konkreten sozio-kulturellen Bedingungen der Umschlag in die Barbarei eine unumgängliche Begleiterscheinung des zivilisatorischen Prozesses ist. Denn zunächst repräsentiert die zivilisatorische Entwicklung - auch in ihrer kapitalistischen Form - sozialen und historischen Rationalitätsgewinn, sowie die Möglichkeit einer vernunftzentrierten Entwicklungsperspektive. Affektkontrolle und Selbstdisziplinierung verbessern die Ausgangsposition im kollektiven Prozess der Naturbearbeitung, schaffen die Voraussetzung sozialer und individueller Entwicklung jenseits der unmittelbaren und drängenden Bedürfnisbefriedigung. Die zivilisationsgeschichtliche Rationalisierung ermöglicht das Herauswachsen der Gesellschaft aus archaischen Abhängigkeiten sowie blinden Zufällen und enthält das Versprechen auf sozio-kulturelle Selbstbestimmung. Die "auf Vermehrung und Entwicklung der Produktivkräfte gegründete Produktion von Surpluswert, erheischt Produktion neuer Konsumtion; ... ebenso die Entdeckung, Schöpfung und Befriedigung neuer aus der Gesellschaft selbst hervorgehenden Bedürfnisse; die Kultur aller Eigenschaften des gesellschaftlichen Menschen und Produktion desselben als möglichst bedürfnisreichen, weil Eigenschafts- und Beziehungsreichen - seine Produktion als möglichst totales und universelles Gesellschaftsprodukt - (denn um nach vielen Seiten hin zu geniessen, muss er genussfähig, also zu einem hohen Grad kultiviert sein) - ist ebenso eine Bedingung der auf das Kapital gegründeten Produktion." (K. Marx 1953, S. 312f.)


V. Um die historisch produzierten Möglichkeiten einer allseitigen kulturellen Entwicklung und zivilisatorischen Pazifizierung zu entfalten, erweisen sich die herrschenden Vergesellschaftungsprinzipien jedoch immer deutlicher als Schranke. Sie repräsentieren nur noch ein negatives Sozialisationsprinzip, weil sie unterdrückende und zur Selbstunterdrückung führende Lebensverhältnisse künstlich am Leben erhalten. Hinter dem allgegenwärtigen Rationalismus und der Herrschaft des Kalküls verbirgt sich eine mächtige Tendenz zum Irrationalen. Denn die Rationalität ist nur auf das eigene Interesse, den augenblicklichen Erfolg und den unmittelbaren Verwertungszweck gerichtet. Doch erweist sich immer häufiger eine technisch sinnvolle Anordnung, ebenso wie so manche betriebswirtschaftlich sinnvolle Aktivität als schädlich für die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit: Praktizistische Rationalität schlägt um in soziale Unvernunft. Aufrechterhalten wird dieses selbstzerstörerische Organisationsprinzip durch die soziale Verallgemeinerung des ökonomischen Verwertungszwanges und seine Reproduktion durch das alles beherrschende Konkurrenzprinzip: "Konkurrenz wird zum zentralen Motor von Desintegration und damit der Auflösung des Sozialen." (W. Heitmeyer 1997, S. 11)

Die positiven Errungenschaften der fortgeschrittenen Naturbeherrschung drohen dann vom Grauenhaften verschüttet zu werden, wenn das komplizierte Beziehungsgeflecht von Triebmodulation, sozialen Kooperationsformen, Antriebskräften und Zielprojektionen zerstört wird, weil immer größere Kräfte zur Aufrechterhaltung eines überlebten Vergesellschaftungsmodells aktiviert werden müssen. Die entscheidenden Fragen der Zukunftsgestaltung und der zivilisatorischen Entwicklungsperspektiven sind auf dieser Problemebene angesiedelt: Wenn die den Menschen abgeforderte Triebunterdrückung das historisch notwendige Maß über einen längeren Zeitraum überschreitet, bricht der latente Widerspruch zwischen Lust- und Realitätsprinzip auf, Rationalität und Vernunft geraten in einen antagonistischen Gegensatz. Die künstliche Verlängerung überflüssiger Repressionsformen ergibt sich strukturell aus dem verwertungs- und konkurrenzgeprägten Innovationsstrebens kapitalistischen Wirtschaftens. Rein quantitativ betrachtet, steigt auch durch die konkurrenzbedingte Verschleißproduktion der Sozialprodukt – nicht aber der allgemeine "Wohlstand der Nationen". Ein immer größerer Teil des Sozialprodukts und das heißt konkret der menschlichen Lebensenergie muss aufgewandt werden, um den sozio-ökonomischen Reproduktionsprozess aufrecht zu erhalten. Auf der "lebensweltlichen" Ebene ist dieser objektive Unterwerfungsprozess über die manipulative Instrumentalisierung der Bedürfnisbefriedigung organisiert. Denn "die wirksamste und zäheste Form des Kampfes gegen die Befreiung besteht darin, den Menschen materielle und geistige Bedürfnisse einzuimpfen, welche die veralteten Formen des Kampfes ums Dasein verewigen." (H. Marcuse 1967, S. 24)

Das auf Selbstverwirklichung zielende Verlangen wird instrumentalisiert und in eine der Tauschwertperspektive adäquate Form gepresst: Das um die "rationale" Organisation seiner Lebensverhältnisse bemühte Individuum, stösst auf die Irrationalität des Prozesses der kapitalistischen Vergesellschaftung in seiner Gesamtheit; die Rationalität des Verhaltens hebt sich in der Irrationalität der herrschenden Vergesellschaftungsprinzipien auf. Unter diesen Bedingungen schlägt der Selbstzwang in Selbstdestruktivität um und verstärkt die nach außen gerichteten Aggressionsneigungen. "Die Destruktion wird damit dem Kapitalismus inhärent, und zwar auf ganzer Linie ... Das Negative steht nicht mehr außerhalb des Prozesses, ... [sondern] ist in den Prozess selbst eingetreten." (H. Lefebvre 1974, S. 109)

Wenn das Gleichgewicht zwischen den psychischen Zwangsformen und den realen historisch "produzierten" Emanzipationspotentialen verloren geht, gewinnen archaische Reaktionsformen einen immer größeren Einfluß. "Erlebnis-, Denk- oder Verhaltensweisen, die entwicklungsmäßig ein bestimmtes Niveau erreicht haben, auf dem sie gewöhnlich operieren, sinken ... auf eine niedrigere, individual- oder stammesgeschichtlich frühere Stufe zurück, um dort das Leben gewissermaßen auf primitiverer Ebene fortzuführen ..., bei dem grundsätzlich alle Rückentwicklungen über das Primitive oder Infantile in Richtung auf das Instinkthaft-Animalische bis hin zur Selbstauflösung möglich sind." (H. Heuermann 1994, S. 15f.) Es herrscht dann nicht nur in der Gestalt der verdinglichten Herrschaftsstrukturen "die Vergangenheit über die Gegenwart" (MEW B. 4, S. 476), sondern auch in den Formen irrational Mentalitäten und destruktiver Verhaltensweisen. (Vgl.: W. Seppmann 2001)

Es gibt keine stereotypen Muster für den Regressionsprozess: Sie differieren je nach Klassenlage und sozio-kultureller Konstellation; sie können die Gestalt selbstzerstörerischer Aktivitäten annehmen, z.B. als Bedürfnis nach "Extremsituationen" (die heute schon von der "Erlebnisindustrie" als standarisierte Produkte angeboten werden!) oder auch in den Formen einer kollektiven Todessehnsucht auftreten. Es wäre aufschlussreich, epochale Zivilisationsbrüche der kapitalistischen Gesellschaft, wie beispielsweise den Zusammenbruch der bürgerlichen Kultur am Vorabend des 1. Weltkrieges einmal marxistisch zu analysieren: Vorausgegangen war der Abschied der bürgerlichen Eliten von ihren illusorischen Fortschrittsvorstellungen; weil die Bewältigung der gesellschaftlichen Krisen systemimmanent nicht mehr gedacht werden konnte, wurde der Weltuntergang (zunächst intellektuell) billigend in Kauf genommen. Die "Alternative" zur sozialen Perspektivlosigkeit und zum individuellen Lebensüberdruss, zu Pessimismus und Dekadenz war eine "Handlungsbereitschaft", die anfänglich noch glaubte in den "Stahlgewittern" eines imperialistischen Krieges ihre Erfüllung finden zu können.

Zusammenfassend können wir festhalten, dass der Übergang von fremdzwang- zu selbststeuerungsdominierten Zivilisationsmustern nicht schon "die Zivilisierung der zivilisatorischen Mechanismen und Instanzen selbst" (W. Engler 1992, S. 34) bedeutet! Vielmehr werden durch die Selbstdisziplinierung erst die Voraussetzungen eines selbstbestimmten Verhältnisses des Menschen zu sich selbst und seinen Vergesellschaftungsformen geschaffen. Die Fortschrittspotentiale entfalten sich nicht selbsttätig. Zur Sicherung des erreichten Zivilisationsniveaus ist eine nicht-repressive Selbstreflexivität unverzichtbar. Eine Selbstreflexivität aber in einem anderen Sinne, als in der vom wissenschaftlichen Modebewusstsein unter dem Stichwort der "reflexiven Modernisierung" von Beck bis Luhmann favorisierten zynischen Bekenntnishaltung zu den gesellschaftlichen Widersprüchen. Positive Selbstreflexivität kann nur ein bewusstes Verhalten zu den Grundlagen des Zivilisationsprozesses bedeuten. Und auch das nicht nur im Modus der aufgeklärten Reflexion, sondern als tätiges Verhalten und bewusste Intervention. Die Realität sieht anders aus: Große Anstrengungen werden unternommen, um einen klaren Begriff von den herrschenden Existenzbedingungen sowie den realen Ursachen von Krise und Barbarei zu verhindern: Doch "wenn wir große Kraftaufwendungen in der Abwehr, in der Verdrängung machen müssen, fehlt uns diese Energie für die differenzierteren Aufgaben, die sich bei bewusster Orientierung in der Welt stellen." (A. Mitscherlich/ M. Mitscherlich 1987, S. 103)


© Werner Seppmann, 2001



Erstveröffentlichung: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr. 45, 2001, S. 26 – 39


Anmerkungen:

1 Auf Initiative des Parteivorstandes hat eine Programm-Kommission im Frühjahr 2000 den Entwurf für ein neues PDS-Programm vorgelegt. Diesem Entwurf einer Mehrheit in der Programm-Kommission, wurde von drei Mitgliedern (Michael Benjamin, Uwe-Jens Heuer und Winfried Wolf) eine kritische Stellungnahme entgegengesetzt, in der sie jene Punkte thematisierten, in denen kein Konsens erreicht werden konnte. Den vorstandskonformen Text der Kommissionsmehrheit habe ich im folgenden als "Programm-Entwurf" zitiert.

2 Ich habe an anderer Stelle mich ausführlich mit der widersprüchlichen Begründung dieses Moderne-Konzeptes und ihren weltanschaulichen Verstrickungen auseinandergesetzt: Vgl. W. Seppmann 2000

3 "Zur Dynamik der Entwicklung der kapitalistischen Moderne trägt erheblich deren Ausdifferenzierung in relativ autonome gesellschaftliche Teilsysteme - etwa Wirtschaft, Politik, Kultur und Recht - bei, die sich jeweils nach eigenen inneren Maßstäben entwickeln". (D. Klein 2000)

4 Zur Begründung dieses Konzeptes vergl.: M. Brie/D. Klein 1991a und 1991b

5 "Der Tote packt den Lebenden!"

6 Entgegen den Annahmen jener Theoriekonstruktionen, die Gesellschaft in disparate (bestenfalls lose zueinander vermittelte) Wirkungsbereiche auflösen, beeinflussen die sozio-ökonomischen Basis-Prozesse alle anderen sozialen Bereiche in elementarer Weise. Für eine realistische Gesellschaftstheorie bedeutet "Beeinflussung" natürlich nicht Determination: Jede soziale Subtotalität reproduziert ein eigengesetzliches Bedeutungsspektrum, besitzt eine Reihe unterschiedlicher Möglichkeiten, auf die objektiven Einflussfaktoren zu reagieren, gerade weil sie Momente eines "übergreifenden Ganzen" (Marx) und "Unterschiede innerhalb einer Einheit" (K. Marx 1953, S. 20) sind.


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W. Heitmeyer, Einleitung: Auf dem Weg in eine desintegrierte Gesellschaft, in: ders. (Hg.), Was treibt die Gesellschaft auseinander?, Frankfurt/M. 1997

H. Heininger, Ist die "Profitdominanz" innerhalb der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung zu überwinden, in: Z, Nr. 43, September 2000

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