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Beiträge zur Theorie  










Werner Seppmann

Was heißt heute "Herrschendes Denken"?


"Für die Analyse der vielfältigen Formen der Ideologie im Spätkapitalismus bietet Kofler das ganze dedektorische Vermögen des Marxismus auf ... [um] den Schein restlos verdinglichter Prozesse und ihrer anonymen Herrschaft" zu destruieren (E. Bloch). 


I. Die Situation könnte paradoxer kaum sein! Während die sozialen Widerspruchstendenzen sich verschärft haben, die Schere zwischen arm und reich, Gewinnern und Verlierern der sozialen Umwälzungen zunehmend größer wird, formiert sich nur verhaltener Widerstand; trotz verbreiteter Unsicherheit und Verschärfung der sozialen Gegensätze hat sich bisher nur eine punktuelle Auflehnungs- und Widerspruchsbereitschaft artikuliert. Obwohl die Menschen sich weder Illusionen über den krisenhaften Zustand der Gesellschaft noch über ihre ambivalenten Zukunftsaussichten machen, bleibt ihr Bewusstsein hinter den gesellschaftlichen Problemkonstellationen zurück. Diese Bestandsaufnahme gilt nicht nur für das Alltagsbewusstsein, sondern auch für das herrschende intellektuelle Selbstverständnis. Denn der Sprachlosigkeit des Alltagslebens entspricht das vernehmliche Schweigen in großen Teilen der Intelligenz über die Ursachen der sozio-kulturellen Krisentendenzen: Die sozio-kulturelle Widerspruchsentwicklung wird zwar zur Kenntnis genommen, aber als unvermeidlich angesehen.

Diese Tendenz zu angepassten Denken und Verhalten, in dem zur Verfügung stehenden Rahmen erklären zu wollen, kommt einer Quadratur des Kreises gleich. Ich möchte um Nachsicht bitten, wenn ich wichtige Theoreme nur skizzieren, so manchen Zusammenhang nur andeuten kann. Ich hoffe, dass dennoch deutlich wird, ob und in welcher Weise der von Marx nachgewiesene Zusammenhang von herrschenden Denken und antagonistischen Klasseninteressen noch Gültig besitzt! Mir ist bewusst, dass im gegenwärtigen intellektuellen Klima alleine schon die Verwendung der Begriffe "herrschendes Denken" bzw. "Klasseninteresse" befremdlich wirken. Sie werden bei unserem Betrachtungen jedoch nicht nur deshalb eine Rolle spielen, weil sie in Leo Koflers Theorie ideologischer Herrschaftsreproduktion – auf die ich mich in wesentlichen Punkten stützen werde - einen zentralen Platz einnehmen, sondern vor allem, weil sie nach wie vor wichtige Aspekte des gesellschaftlichen Geschehens bezeichnen.

Diese Begriffe entstammen – wie unschwer zu erkennen ist – dem Kontext orthodox-marxistischer Gesellschaftsanalyse. Jedoch ist es ein schwerwiegender Irrtum, aus ihrer Verwendung den Schluss einer ökonomistischen Verkürzung der Ideologieproblematik zu ziehen. Die Frage nach den materiellen Lebensbedingungen und den ökonomischen Organisationsstrukturen ist zwar das unverzichtbare Fundament eines kritischen Verständnisses der gesellschaftlichen Wirklichkeit und ihrer Entwicklungstendenzen. Doch reicht das Interesse für das sozio-ökonomische Beziehungsgeflecht nicht aus, um die Funktionsweise komplexer Sozialsysteme und die Gesetzmäßigkeiten ideologischer Herrschaftsreproduktion zu begreifen. Theoretische Anstrengungen, die sich nur auf den strukturellen Kontext konzentrieren, muss es als Rätsel erscheinen, weshalb es dem Kapitalismus als institutionalisiertes System der Krisen und der Ungleichheit immer wieder gelingt, die Menschen emotional und geistig an sich binden. Die ökonomische Bewegungsanalyse kann zwar Krisenprozesse erklären, nicht aber deutlich machen, wie angepasstes Verhalten produziert und wodurch integrative Effekte erzeugt werden. Es ist nur zu offensichtlich, dass herrschaftskonforme Mentalitäten nur noch zum Teil von den tradierten Vermittlungsapparaten bewirkt werden und die psycho-soziale Reproduktion mehr als nur geistige Konformität erzeugt: Von den Prozessen mit formierender Wirkung wird "der ganze Mensch betroffen: Bewusstsein, Psyche und Leiblichkeit. Einbezogen in diese Vorgänge ist die Totalität menschlicher Sinnlichkeit." (Th. Metscher)

Die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, zu denen der Zerfall der Arbeiterbewegung und die Ausbreitung eines sozio-kulturellen Konformismus gehören, haben zwangsläufig die Aufmerksamkeit der innovativen marxistischen Theoriebildung von der Annahme einer "gesetzmäßigen" (also zwangsläufigen) Überwindung des Kapitalismus zur Analyse seiner Selbststabilisierungsfähigkeiten gelenkt: Um die virulenten ideologischen Selbsttäuschungmuster und psycho-sozialen Integrationsmechanismen zu entlarven, muss das theoretische Interesse über die Beschreibung des sozio-ökonomischen Beziehungsgeflechts hinaus gehen. Die Funktionsweise komplexer Sozialsysteme und das Verständnis der Herrschaftsreproduktion verlangen den dialektischen Blick auf die in ihren gesellschaftlichen Verhältnissen handelnden Subjekte und die mehrschichtigen Formen ihrer Realitätsverarbeitung. Dieser Ansatz schließt auch die Aufmerksamkeit für die alltäglichen Reaktionsformen und individuellen Motivationsstrukturen der Menschen mit ein.

Im Kontext seiner Analysen der Entstehung und Vermittlung affirmativer Mentalitäten aktiviert Leo Kofler eine Einsicht, die er schon in seinen frühen methodologischen Büchern entwickelt und in seiner "Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft" expliziert hat: dass es für die historisch-dialektische Sozialtheorie unverzichtbar ist, nicht nur objektive Strukturen und subjektive Bedeutungsverhältnisse zu erfassen, sondern auch deren wechselseitige Bedingtheit zu analysieren. Folgerichtig war für Kofler der "subjektive Faktor" kein explizites Thema, denn es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, wie Oskar Negt treffend gesagt hat, dass man ihn auch weglassen, marxistische Sozialanalyse ohne den Blick auf die Vermittlung von objektiven und subjektiven Momenten funktionieren könnte. Die Erfahrungen mit der fordistischen Ausprägung der Herrschaftsreproduktion, ihrem Manipulationsmodus und der "aktiven" Beteiligung der Subjekte am Integrationsprozess haben Koflers Forschungsprogramm strukturiert. Die entscheidenden Fragen lauten: Durch welche Vermittlungsschritte entstehen systemkonforme Denkweisen und Einstellungen, wie ist die verbreitete Identifikation der Menschen mit den herrschenden Normen organisiert?

Es bedarf wohl keiner besonderen Erklärung, dass alleine schon das durch die Fragestellung demonstrierte Problembewusstsein, in einem kaum vermittelbaren Gegensatz zur sozialwissenschaftlichen Mehrheitsmeinung der letzten Jahrzehnte stand, deren Thesen vom Bedeutungsverlust der Klassenstrukturen eine vordergründige Plausibilität jedoch nicht abgesprochen werden konnte: Den unmittelbaren Tatsachenschein hatte sie tatsächlich auf ihrer Seite. Oberflächlich betrachtet reproduzieren sich die entwickelten "Industriegesellschaften" ohne sichtbaren Zwang, existieren für die Subjekte beträchtliche Handlungs- und Entfaltungsräume; strukturelle Benachteiligungen schienen nebensächlich geworden zu sein. Jedoch präsentiert sich für eine mit sozialpsychologischen Einsichten fundierte Gesellschaftsanalyse ein ganz anderes Bild: Die angeblich klassenneutrale "Modernisierungs-" und "Individualisierungstendenz" ist als fortschreitender Prozess individueller Selbstunterwerfung organisiert. Die Machtimplikationen werden von den Subjekten verinnerlicht, ihre Psyche den kapitalistischen Verwertungsinteressen konform instrumentalisiert: "Die ideologischen Formen der Repression haben sich im 20. Jahrhundert weitgehend irrationalisiert und haben psychische Bereiche erreicht und besetzt, die in früheren Epochen noch Kräfte des Widerstands aufgespeichert hatten." (Kofler) Ideologische Anpassung wird vorrangig nicht mehr durch die Orientierung auf normative Weltbilder bewirkt, sondern funktioniert durch die machtadäquate Formierung der Massenpsyche. Durch die warenförmige Überlagerung des Sozialisationsprozesses werden die Menschen emotional instrumentalisiert: Die entwickelte kapitalistische Gesellschaft reproduziert sich nicht nur materiell und geistig, sondern nachhaltig auch in den psychischen Strukturen der Gesellschaftsmitglieder.

Mit traditioneller Ideologiekritik alleine sind diese Prozesse tatsächlich nicht mehr zu erfassen. Schon früh erkannte Kofler die Notwendigkeit einer Verbindung von Gesellschaftstheorie und Sozialpsychologie. Nicht zufällig gehörte er in den 50er Jahren zu den ersten, die die Bedeutung von Marcuses materialistischer Interpretation der Psychoanalyse für die Gesellschaftskritik erkannten. Wer nicht beide Augen vor der methodologischen Grundstruktur Koflers Theorie ideologischer Herrschaftsreproduktion verschließt, dem kann es eigentlich nicht verborgen bleiben, dass seine soziologischen Kategorien im Rahmen der Bewusstseinsanalyse durch sozialpsychologische Theorieelemente nicht nur flankiert, sondern in entscheidenden Punkten auch fundiert werden. Sozialpsychologische Impulse aufhebend, hat er seine Analysen der ideologischen Prozesse nicht ohne Grund als "Tiefensoziologie" bezeichnet. Seine mehrfach präzisierte Kritik an den weltanschaulichen Verzerrungen des Freudschen Denkens, sollte nicht vergessen lassen, dass Kofler von psychoanalytischen Grundeinsichten nicht unbeeinflusst geblieben ist. Wer das sachlich nicht gerechtfertigte Argument wiederholt, dass sein Denken ein sozialpsychologisches Defizit aufweise (das nach meiner Übersicht von Oskar Negt in die Diskussion über Kofler eingeführt worden ist und von einigen gesellschaftstheoretischen Kleinmeistern geflissentlich reproduziert wird), sollte sich versuchsweise mit Koflers eigenem Problemverständnis und dem Fundament seiner Ideologietheorie auseinandersetzen.

Koflers Verhältnis zu Freud ist jedenfalls nicht durch undifferenzierte Abwehr geprägt. An zentraler Stelle (gleich auf den ersten Seiten des "Asketischen Eros") spricht Kofler vom "fruchtbaren Zusammenwirken der Tiefenpsychologie und der dialektischen Gesellschaftstheorie", benennt jedoch gleichzeitig auch die kritische Beschäftigung mit den Freudschen Kategorien als notwendige Voraussetzung für eine produktive "Aneignung" psychoanalytischer Einsichten. An nicht weniger prominenter Stelle (in dem instruktiven Kapitel über Lukács und Marcuse in den "Perspektiven des revolutionären Humanismus") wirft Kofler Lukács vor, "die Bedeutung der Freudschen Psychoanalyse für die Erkenntnis des modernen gesellschaftlichen Prozesses" unterschätzt zu haben! Kofler konzediert ein berechtigtes "Misstrauen gegen den Irrationalismus und Pessimismus des Freudschen Denkens", hebt aber unmissverständlich die Notwendigkeit der Verwendung der psychoanalytischen Erkenntnispotentiale in einem "gesellschaftskritischen System von streng rationalen und zudem humanistischen Charakter" hervor!

Daran, dass die sozialpsychologischen Interpretationsmuster Gesellschaftstheorie nicht ersetzen können, hat Kofler jedoch keinen Zweifel gelassen. Die tiefenpsychologische Sichtweise bietet ergänzenden Erkenntnisgewinn nur auf der Grundlage einer materialistischen Analyse der ideologischen Verarbeitungsprozesse, denn der subjektiven Anpassungsbereitschaft und der Formierung der Massenpsyche liegen Formen des falschen Bewusstseins zugrunde, die das Resultat der kapitalistischen Organisation des Vergesellschaftungsprozesses sind: Verzerrte Gesellschaftsbilder sind die irreversible Begleiterscheinung der universellen Durchsetzung der Warenform und der arbeitsteiligen Organisation des Sozialgefüges, der Wirkung des herrschenden Tatsachenfetischismus und einer unreflektierten Zweckrationalität. Je größer durch die Abhängigkeit von den fetischisierten Bewusstseinsformen das Gefühl der sozialen Fremdheit und je intensiver das Bedrohungserlebnis ist, um so stärker entwickelt sich nicht nur ein intensives "Weltanschauungsbedürfnis" und ein Streben nach Orientierungssurrogaten, sondern auch die Tendenz zur Anpassung und Unterwerfung, die den Schein der "freiwilligen Identifikation mit diesem Prozess" (Kofler) erzeugt. Die Bereitschaft die Fiktionen des massenmedialen Komplexes zu akzeptieren, ist zu einem Teil aus dieser Konstellation heraus zu begreifen. Mit den angebotenen Schablonen versuchen die Menschen in Ermangelung realistischer Interpretationsmuster ihre eigenen Lebenserfahrungen zu ordnen, oder auch nur, um aus der sozialen "Unübersichtlichkeit" in entlastende Scheinwelten zu flüchten.

II. Die Ausdrucksformen und Entstehungsbedingungen des Alltagsbewusstseins sind nicht unser vorrangiges Thema, wir müssen sie jedoch skizzieren, weil die Strukturen des Alltagsdenkens Modellcharakter für alle affirmativen ideologischen Prozesse in der bürgerlichen Gesellschaft haben und das herrschende Denken auch in seiner intellektualistischen Form darauf aufbaut: Die gesellschaftlichen Verhältnisse im Kapitalismus erscheinen den Menschen auf der Ebene des Alltagsbewusstseins als "naturförmig" und unüberwindbar. An diesen Mystifikationen des Alltagsbewusstseins schließen die systematisierten Formen des herrschenden Denkens mit ihren Vorstellungen einer existentiellen Undurchsichtigkeit und der Unaufhebbarkeit der etablierten Zustände an. Ihr Instrument sind objektivistische Denkmuster, systemtheoretische und struktur-funktionalistische Erklärungsmodelle, die den handelnden und verändernden Menschen aus ihren Betrachtungen ausblenden.

Von besonderer Wirksamkeit sind gegenwärtig die Weltanschauungsangebote eines "Postmodernen Denkens", das mit kritischem Anspruch auftritt, sich auch explizite auf sozio-kulturelle Krisenprozesse bezieht, aber nur um ihr prinzipielles Einvernehmen mit dem Gegebenen auszudrücken: "Überall versucht die Postmoderne [zwar] an Widerstandsbewegungen anzuknüpfen; aber nur, um ihnen den kritischen Stachel zu ziehen". (B. Schmidt) Ihr kritischer Pathos dient in der Regel nur dazu, der "kulturellen Erosion und [dem] individuellem Authentitzitätsverlust eine positive, ja häufig affirmative Deutung" (A. Honneth) zu geben: Postuliert wird die "Unaufhörlichkeit des Kapitalismus" (N. Bolz) und die Erosion jeder perspektivischen Orientierung. Nach einem programmatischem Satz von Lyotard, sind "die Begriffe der Emanzipation, der Freiheit, des Guten und Bösen ... in letzter Instanz irrelevant" geworden. Dominant ist ein Verständnis der Welt als eines Konglomerats nur peripher miteinander verbundener Existenzweisen und Erlebnissphären: Die Möglichkeit gesellschaftskritischer Erkenntnis wird auf dieser Grundlage fundamental in Frage gestellt und die Auflösung jeder Realität in der "Simulation" (Baudrillard) behauptet, die jeden Unterschied zwischen Realität und Illusion, Sein und Schein vernichtet habe.

Interessant für unseren Zusammenhang ist die unmittelbare Ableitung dieser regressiven Denkhaltung aus einem alltäglichen Erfahrungshorizont: Die grundlegende Erfahrung in den postmodernen Lebensverhältnissen, konstatiert Wolfgang Welsch, sei die "Unübersichtlichkeit"; das Unbestimmte und das Fragmentarisierte dominieren die sozio-kulturellen Bewegungen und den individuellen Wahrnehmungshorizont. Und weil die Welt auf den ersten Blick, also für das Alltagsbewusstsein, undurchsichtig sei, entziehe sie sich - so das Postulat - grundsätzlich einer gedanklichen Durchdringung, bleibe auch das philosophische Bemühen in den "Netzen der Lebenswelt" (B. Waldenfels) verfangen. Auch die sozialtheoretische "Unübersichtlichkeit ist eine Folge des politisch-gesellschaftlich-technologischen Systems ... Daher besteht objektiv eine fundamentale Desorientierung" (W. Welsch). "Die Wirklichkeit [ist] in einem Maße destabilisiert ..., dass sie keinen Stoff mehr für Erfahrung gewährt", lautet der einschlägige Merksatz bei Lyotard und deshalb sei die ("postmoderne") Gegenwart auf die Akzeptanz gegebener Maßstabs- und Orientierungslosigkeit verpflichtet. Den Menschen in den "postmodernen Lebensverhältnissen" wird empfohlen, sich auf ein "Leben ohne Wahrheiten, Maßstäbe und Ideale" (Z. Baumann) einzurichten!

Wir können an diesem Argumentationsmuster exemplarisch sehen, wie durch die Anknüpfung an ein entfremdetes und fremdbestimmtes Alltagsbewusstsein methodischer Relativismus und theoretische Inkonsistenz legitimiert, werden Täuschung und Selbsttäuschung zur Bedingung einer zeitgemäßen Intellektualität verklärt werden. Der ideologische Effekt ist evident: alltägliche Desorientierungen und Vergeblichkeitsvorstellungen werden zu ontologischen Bestimmungen stilisiert.

Wir kommen mit dieser Beobachtung zum Kern unserer Fragestellung zurück: Woraus resultiert die fundierende Rolle des Alltagsbewusstseins für die ideologischen Formierungsprozesse? Die wichtigsten Antworten finden sich schon in den Marxschen Analysen der menschlichen und sozialen Entfremdung, sowie der fetischisierten Bewusstseinsformen. Die dort formulierten Interpretationsangebote, beinhalten auch eine nicht-ökonomistische Theorie der Machtvermittlung: Denn der entwickelte Kapitalismus als eine Vergesellschaftungsweise, die die Rationalität in den Teilbereichen extrem gesteigert hat, das Zusammenspiel der technischen wie auch der sozialen Kräfte aber dem blind produzierten "Zufall" überantwortet, bringt permanent Entfremdung und fetischisierte Bewusstseinsformen hervor. Obwohl die handelnden Menschen intensiv aufeinander bezogen sind, dominiert bei ihnen der Eindruck der sozialen Isolation. Die Wahrnehmung des Anderen bleibt durch die Konkurrenzorientierung geprägt; der Mitmensch wird als Widerspruchsprinzip zu den eigenen Lebensinteressen wahrgenommen. Durch die Wirkungen des Warenfetischismus erleben die Menschen das von ihnen selbst Konstituierte und reproduzierte Sozialverhältnis "als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen" (Marx). Die soziale Welt wird als bedrohlich und lebensfeindlich erfahren: Der ordnenden und planenden Strategie in den zweckrationalen Handlungsbereichen steht das Erlebnis einer chaotischen Sozialwelt gegenüber.

Die Pointe dieses ideologischen Verarbeitungsmechanismus ist der Doppelcharakter der Alltagsorientierungen. Sie sind nicht "falsches Bewusstsein" in einem "essentiellen" Sinne, sondern Gedankenformen, mit denen die Menschen ihr Leben bewältigen; sie dienen der verlässlichen Orientierung in einer durch Arbeitsteilung und sozialen Antagonismen geprägten Welt. Sie ermöglichen die Konzentration auf die Praxis-Konstellation; die "Umwelt" nehmen sie nur insoweit zur Kenntnis, wie es zur Aufgabenbewältigung notwendig ist. Weitergehende Bedingungen und die Konsequenzen des eigenen Handelns bleiben ausgeklammert: Temporärer Rationalitätsgewinn, wird mit einer partiellen Blindheit für den Zusammenhang erkauft. Durch die (unkordinierte) Marktvermittlung kann das Resultat einer Handlung der ursprünglichen Intention zuwider laufen, aus dem rationalen Kalkül sich gesellschaftliche Widersprüche entwickeln, so dass die Produkte ihres eigenen Handeln, den Menschen als scheinbar verselbständigte Eigenschaften gegenüber treten.
Ich möchte diesen, für das Verständnis der sozialen Widerspruchsentwicklung elementaren Umschlag von individueller Rationalität in soziale Irrationalität an einen Beispiel illustrieren, das Leo Kofler immer selbst gebraucht hat: Einige Schuhfabrikanten erkennen schon früh einen Modetrend und produzieren für den Sommer gelbe Damenschuhe. Weil die Bestellungen einen unerwarteten Umfang annehmen, erweitern sie alle (natürlich "unabhängig voneinander") die Produktionskapazitäten und produzieren insgesamt mehr gelbe Damenschuhe, als "der Markt" aufnehmen kann. Schnell entsteht ein Überangebot und erzwingt Preisreduktionen, die nicht nur die ursprüngliche Hoffnung auf Extraprofite zu Nichte machen, sondern eine Reihe der Fabrikanten auch zwingen Überkapazitäten abzubauen. Ich denke, wir können an diesem Beispiel erkennen, wie die Menschen durch ihr eigenes Handeln krisenhafte Zustände herbeiführen, in denen die Produktion ins Stocken gerät und im schlimmsten Fall auch Arbeitsplätze verloren gehen. Aus der rationalen Intention der optimalen Verwertung ökonomischer Ressourcen ("der Verwertung des Wertes", wie Marx sagt) entwickelt sich durch die Spezifik der Marktvergesellschaftung eine soziale Bedrohungssituation. Weil durch die alltagspraktische erzwungenen Konzentration auf das Faktische, die Menschen den Blick für den Zusammenhang verlieren, bleibt ihnen nicht nur ihre eigenen Rolle innerhalb des sozialen Geschehen unbewusst, sondern sie erleben das Soziale als "zweite Natur", der sie hilflos ausgeliefert sind.

Durch die gewöhnliche Entwicklung des Kapitalismus werden mit den Bewusstsseinsverzerrungen ("Verdinglichung") zwangsläufig Unsicherheitsgefühle und in zugespitzten Situationen auch Angstsyndrome erzeugt. Je größer jedoch das Gefühl der sozialen Fremdheit und je intensiver das Bedrohungserlebnis ist, um so stärker ist auch das individuelle Streben nach Orientierungsschablonen, die zumindest die Illusion eines Verständnisses der sozialen Erlebnisse vermitteln. Durch die reduzierten Möglichkeiten sich ein Bild ihrer eigenen gesellschaftlichen Situation zu machen und einen entfetischisierten Begriff von der Ursache der Bedrohungssituation zu entwickeln, greifen die Alltagssubjekte bereitwillig nach Ersatzerklärungen, die "auf der Hand" liegen. Entsprechend groß ist beispielsweise auch die Bereitschaft autoritäre Denkmuster zu übernehmen, denn sie reduzieren die komplexe, durch ihre Undurchschaubarkeit und Unkalkulierbarkeit beängstigende Sozialwelt auf einfache Beziehungsmuster und weisen in diesem Ordnungsrahmen allen Menschen einen klar definierten Platz zu.

III. Was ich bisher geschildert habe, bezeichnet Kofler als die "primäre Stufe der ideologischen Reflexion". Sie "vollzieht sich in einer spontan-irrationellen Form [und] ... stellt schlechthin das dar, was man als die ‚unreflektierte‘ Hinnahme erlebter ökonomischer Zwangsläufigkeit und damit zusammenhängend gesellschaftlicher Schicksalhaftigkeit im Alltagsbewusstsein" (Kofler) bezeichnen kann. In seiner offensichtlichen Reibungslosigkeit kann das System der Selbstunterdrückung jedoch nur funktionieren, weil den aus der unmittelbaren Praxis entstammenden Selbsttäuschungen mehrschichtige Strukturen des Unbewussten mit repressiver Funktionalität vorgelagert sind. Die im praktischen Lebensvollzug "spontan" sich entwickelnden Interpretationsschablonen werden durch sowohl historisch als auch aktuell vermittelte Bilder und Deutungsmuster zu einem Weltbild mit politischer Orientierungsstruktur komprimiert. Leo Kofler hat mehrere tradierte Ideologiekomplexe mit "tiefensoziologischer" Wirkung unterschieden, die jeweils eine eigene Genese und eine differenzierte Funktionalität besitzen, sich aber gegenseitig beeinflussen und inhaltlich "ergänzen". Festgefügte Vorstellungen wie beispielsweise die, dass sich "jeder selbst der Nächste" ist, oder dass "Die-da-oben" doch machen, was sie wollen, entsprechen zunächst einmal den unmittelbaren Sozialerlebnissen der Menschen in der Klassengesellschaft. Doch solche "empirischen" Feststellungen entfalten ihre vollständige Wirkung erst durch die Prägekraft der verinnerlichten Koordinaten eines "repressiven Menschenbildes", dessen Analyse bei Kofler einen breiten Raum ein. Er arbeitet heraus, in welcher Weise tief verwurzelte Bewusstseinsebenen auf die Interpretation aktueller Erlebnisse einen nachhaltigen Einfluss ausüben. Während der Warenfetischismus und die diversen Vergeblichkeitsvorstellungen den geistigen Gegenwartsströmungen angehören, ist das repressive Menschenbild das Produkt der gesamten klassengesellschaftlichen Entwicklung der Menschheit, dem die Moral als eine "quasi-archaische Ideologie" zur Seite steht. Wie das repressive Menschenbild "psychisch ebenfalls verinnerlicht, leitet sie die Handlungen der Individuen in einer den repressiven Anforderungen der Klassengesellschaft entsprechenden Weise." (Kofler) Durch die Existenz des repressiven Menschenbildes werden die aktuellen Erfahrungselemente zu tradierten und herrschaftskonformen Interpretationsmustern in Beziehung gesetzt: "Durch Jahrtausende die Geschichte der Klassengesellschaft begleitend, wird ... [es] immer stärker zur ideologischen ‚Gewohnheit‘ und dringt immer tiefer in den subjektiven Erlebnis- und Gefühlsbereich, um schließlich archaische Bedeutung zu erlangen." (Kofler)
Dieser Bewusstseinsmodus "fundiert" die Generalisierung und "Ontologisierung" der Unterdrückungserfahrungen vieler Generationen und repräsentiert eine der Wurzeln des resignativen Gegenwartsbewusstseins. Als quasi-kulturelle Konstante (als eine  Form der christlich-abendländischen Ideologie) ist beispielsweise das Verständnis der Arbeit als prinzipiell leidvoll und mühselig anzusehen, oder auch die Vorstellung der Unaufhebbarkeit des feindselig-aggressiven Verhaltens der Menschen untereinander. Sowohl zynische Legitimationsreden vom "Recht des Stärkeren", als auch die Vorstellung vom "Überlebenskampf" der Rassen können beispielsweise unmittelbar an solche Integrationsschablonen anschließen.

Zwar sind in den archaischen Bewusstseinsschichten auch kollektive Glückserinnerungen eingelagert. Da diese im Reproduktionsprozess des repressiven Gegenwartsbewusstseins keine Rolle spielen, können wir sie an dieser Stelle vernachlässigen. Das Gewicht der einzelnen Bewusstseinsschichten bei der Bewertung und Verarbeitung aktueller Erfahrungen ist von den übrigen ideologischen Konstellationen (von der Struktur des "Gegenwartsbewusstseins" also), wie auch von den Interpretationsbedürfnissen des Alltagsdenkens abhängig. Je unverstandener die eigene Welt und je undurchsichtiger das soziale Leben erlebt wird, um so größer ist die individuelle und kollektive Empfänglichkeit für die repressiven Interpretationsmuster. Es ist jedenfalls kein Zufall, dass in der aktuellen Krisensituation esoterische Orientierungen und rechte Mythologien Hochkonjunktur haben! 

Die Funktionalität der negativ besetzten Bewusstseinsschichten für das Herrschaftsdenken, hat Leo Kofler nicht zuletzt in seinen als Ideologiekritik konzipierten ästhetischen Untersuchungen deutlich gemacht. Trotz ihrer formalen Gestaltlosigkeit, sprechen die meisten Schöpfungen der abstrakten Moderne durch ihre nihilistische Allegorik repressive Bewusstseinsschichten an und flankieren die im Alltagsleben verbreiteten resignativen Einstellungsmuster. 
Obwohl seine Existenz vom Alltagsbewusstsein verdrängt und ein Bewusstsein seiner Integrationswirkung aus der sozialtheoretischen Reflexion verbannt ist, kommt besonders dem repressiv strukturierten Gewissen eine zentrale Rolle bei der ideologischen Formierung und den "freiwilligen" Unterwerfungshandlungen zu. Nur scheinbar haben sich die traditionelle Moralsysteme gelockert; es ist Ausdruck empirischer Blindheit und intellektueller Unbedarftheit, wenn (beispielsweise in den vordergründigen Diskussionen über den "Wertewandel" oder im Kontext der "Individualisierungstheorie") postuliert wird, dass entwickelte Industriegesellschaften in wesentlich geringerem Umfang auf kulturellen Konsens angewiesen seien als vorindustrielle Gesellschaften. Zwar existiert durch das verbreitete Bewusstsein individualistischer "Freiheit" die Illusion "ungebundener" Handlungsmöglichkeiten und eines grenzenlosen "Genusses". Jedoch stößt dieses Selbstverwirklichungsstreben immer wieder an die Grenzen sowohl des "Realitätsprinzips", als auch an die Demarkationslinien der verinnerlichten Verhaltensmuster und Normensysteme. Deshalb gelingt, wie Kofler unterstreicht, die "Verletzung von tief ins Psychische versenkten Tabus und moralischen Grundsätzen ... nicht restlos, ja hinsichtlich der gesellschaftlich relevanten in einem äußerst eingeschränkten Maße. Dies erklärt sich aus dem unaufgehobenen Widerspruch des zur totalen Freiheit drängenden Enttabuisierungsstrebens zu der faktisch unangetastet bleibenden repressiven Ordnung, die eine Unterwerfung des Individuums und seine entsprechende moralische Anpassung voraussetzt."

Diese Akkomodation wird durch die verinnerlichte Leistungsorientierung stimuliert, die keinesfalls ihre Prägekraft verloren hat. Als Ergebnis eines langfristigen Anpassungsprozesses haben die kapitalistisch sozialisierten Menschen Leistungs- und zu moralischen Postulaten geronnene Disziplinmuster internalisiert. Diese Orientierungen sind aber nicht nur das Resultat sozio-kultureller Vermittlung, sondern werden durch den gesellschaftlichen Reproduktionsprozess permanent erneuert; das Leistungsprinzip wird durch die Universalität der Konkurrenz immer wieder zur Geltung gebracht. Wer sozial nicht unterliegen will, muss leistungs- und durchsetzungsbereit sein!

Die arbeitsgesellschaftlichen Wertmuster haben weder ihre normierende Wirkung verloren, noch ist ihre subjektive Orientierungsfunktion schwächer geworden. Jedoch ist eine zweifache Veränderung eingetreten: Zum einen hat es sich von einem kodifizierten Normensystem zur verinnerlichten "Leistungsmoral" entwickelt. Zum anderen haben sich die Vorstellungen von der Bedeutung anstrengender und aufopferungsvoller Arbeit säkularisiert. Nicht mehr das Seelenheil verspricht die Arbeitsaskese, sondern die Freuden des Konsums. Die Opfer werden nicht für die "Zukunft", wohl aber für einen dem Arbeitsprozess nachgelagerten Zeitpunkt erbracht. Durch die gesteigerte Arbeitsintensität ist das notwendige Maß der "Selbstverleugnung" und Bedürfnisunterdrückung nicht geringer geworden; verändert hat sich aber die Breitenwirkung der Orientierungsmuster. Der "rationalen Lebensführung" (M. Weber) unterwirft sich nun nicht nur ein relativ kleiner Kreis sozialer Funktionsträger, sondern die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit.

Eng verbundenen mit der sozialintegrativen Wirkung des repressiven Gewissens ist die "Dialektik von Genuss und Askese" (Kofler). Stichwortartig zusammengefasst geht es dabei um die Einbindung elementarer menschlicher Lebensansprüche in den konsumvermittelten Prozess der Selbstunterdrückung: Um an den Verheißungen der "Konsumgesellschaft" partizipieren zu können, müssen die Menschen sich bereitwillig den repressiven Anforderungen des "Werkalltagslebens" (Marx) unterwerfen. Genuss unter den Bedingungen der Wertvergesellschaftung schlägt in Selbstunterdrückung um. Denn mit den "erotisch" motivierten Ausbruchsversuchen, die an warenförmige Konsummuster gebunden bleiben, überschreiten die Alltagssubjekte nirgends das integrative Geflecht von repressiver Lebensform und "rationalisierter Askese": "Die Askese ist die Begleiterscheinung des Eros, vielfach ihn wieder ganz verdrängend." (Kofler)

Nur scheinbar sind durch die "Wohlstandsgesellschaft" die Koordinaten verschoben, ist das Leistungsbewusstsein durch einen "systemüberschreitenden" Hedonismus abgelöst worden. Zwar haben sich mit dem Siegeszug der fordistischen Massenproduktion die Konsumchancen für breite Bevölkerungsschichten erweitert und findet eine nachhaltige Orientierung auf individuelle Bedürfnisartikulation und -befriedigung statt. Faktisch ist aber durch die gesellschaftliche Aufwertung des Genusses die Bedeutung des Leistungsimperativ noch verstärkt worden: Nur durch intensivierte Anstrengungen und die Unterwerfung unter die Bedingungen des repressiven Arbeitsprozesses lässt sich der versprochene Genuss realisieren. Während durch die Konsumpropaganda dem Individuum Bedürfnisbefriedigung und Lebensfreude versprochen werden, bleibt es um so fester an das System der rationalisierenden Askese und des Zwangs zur Leistung gefesselt. Nicht primär durch die erweiterten Konsumchancen werden, wie beispielsweise Habermas meint, politische "Legitimationsdefizite" kompensiert und systemkonforme Mentalitäten erzeugt, sondern durch die Organisation des Partizipationsprozesses, der, um Genuss zu ermöglichen, Unterwerfung voraussetzt.

Ich möchte nicht versäumen zu erwähnen, dass ein solcher ideologiekritischer Ansatz nichts anderes als konkrete Totalitätsanalyse bedeutet: Zur Profilierung der materialistischen Gesellschaftstheorie als Gegengift zu den wirkungsmächtigen Selbsttäuschungen und kategoriellen Bewusstseinsverzerrungen ist für Kofler das Verständnis der Gesellschaft als strukturierte Totalität zwingend, deren "Substanz" die auf ihre gesellschaftlichen Umstände reagierenden und zielgerichtet agierenden Menschen sind. Kofler konkretisiert mit seinem Dialektik-Verständnis die Marxsche Auffassung vom handelnden Menschen als dem "übergreifenden" und konstitutiven Element des gesellschaftlichen Prozesses. Theoretischer Bezugspunkt ist zwar die Gesellschaft als gegliedertes Ganzes, jedoch ohne die konkreten Differenzierungsformen zu vernachlässigen: Obwohl die einzelnen Momente funktional in den sozialen Kontext eingebunden sind, besitzen sie eine eigenständige Dynamik (eine Bedeutung, die nicht restlos im "Ganzen" aufgeht). Im Kontrast zur Idee des alten Materialismus vom Menschen als passives, den objektiven "Strukturen" und Bewegungen bedingungslos unterworfenes Wesen, reflektiert die historisch-dialektische Wirklichkeitswissenschaft das Verhältnis des Menschen zur Welt als einen Prozess des tätigen und konstituierenden Verhaltens.

IV. Als ein erstes Resumé der Koflerschen Ideologietheorie können wir festhalten, dass die Produktion machtkonformer Denkmuster nicht durch "äußere Anordnungen" organisiert ist (wie neo-mechanistische Interpretationsansätze immer wieder unterstellen), sondern als integraler Bestandteil der Alltagspraxis begriffen werden muss. Zwar wird die herrschaftskonforme Sichtweise durch "ideologische Apparate" formiert und verallgemeinert, jedoch kann durch deren Existenz weder ihre Entstehung noch Wirkungsweise erklärt werden. Die ideologische Funktionalität des Denkens entsteht durch die Auseinandersetzung der gesellschaftlichen Subjekte mit ihren (materiellen und geistig-kulturellen) Lebensbedingungen. "Das Sein bestimmt das Bewusstsein". Dialektisch gefasst ist dieses Sein der "wirkliche Lebensprozess" (wie es bei Marx und Engels in der "Deutschen Ideologie" heißt) der Menschen, das Produkt der  Organisation des individuellen Lebens im Kontext divergierender Faktoren und Anspruchstendenzen, materieller Existenzbedingungen und sozio-kultureller Einflussfaktoren.
 
Wir können nach diesen Vorklärungen nun abschließend, zu unserer Eingangsfrage, was heute als "herrschendes Denken" zu indizieren wäre, zurückkehren. Ich werde mich auf jene Aspekte herrschenden Denkens beschränken, die man als "Weltanschauung" bezeichnen kann und die aus gutem Grund auch im Mittelpunkt des Koflerschen Interesses gestanden haben. Denn die herrschenden Weltanschauungsmuster legen das Denken in einer grundlegenden Weise fest und überlagern in vielen Fällen auch einen partiell-kritischen Blick auf die Gesellschaft.

Zu den Fixpunkten der herrschaftskonformen Weltanschauungsmodelle gehört die Behauptung
  • einer prinzipiellen Undurchschaubarkeit der Welt, 
  • der Unüberwindbarkeit von Herrschaft, Aggressivität und Entfremdung, 
  • einer schicksalhaften Gebundenseins der Menschen an repressiver Arbeit und der "Natürlichkeit" von Ungleichheit, 
  • gehört die Verklärung der Absurditäten der Kapitalgesellschaft zu Konstanten menschlicher Existenz 
  • die Fixierung des Denkens auf ein fetischisiertes Gegenwartsverständnisses, 
  • sowie die Verabsolutierung des Augenblicks gegenüber den realgeschichtlichen Entwicklungstendenzen: "Im Grunde ist alles erreicht, es hat Geschichte gegeben, aber es gibt in Zukunft keine mehr."
Alle aufgeführten weltanschaulichen Topoi lassen sich als konstitutive Festlegungen in den philosophischen, sozial- und geisteswissenschaftlichen Mehrheitsdiskursen identifizieren. Sie werden gemäß der jeweiligen Weltanschauungsbedürfnisse unterschiedlich begründet und in verschiedenen Kombinationen benutzt. Sie "fundieren" aber mit großer Regelmäßigkeit einen resignativen und hilflosen Blick auf Geschichte und Gesellschaft und haben einen spezifischen Anteil nicht nur an der "epidemischen Verbreitung eines Geistes der Resignation" (B. Wielenga), sondern auch an der Legitimierung gesellschaftlich produzierter Unmündigkeit.
 
Da mit einer Sonntagsphilosophie der katastrophale Zustand der kapitalistischen Gesellschaft nicht mehr zu überdecken ist muss die philosophische Rede "grundsätzlich" werden: Der Begriff des Fortschritts muss "dekonstruiert" werden, weil jeder Entwicklungsgedanke über das Bestehende hinaus, dessen Existenz in Frage stellt! Um die Feststellung des Bankrotts der kapitalistischen Vergesellschaftungsweise zu vermeiden, muss "der Bankrott der Vernunft" (G. Lukács) verkündet, oder die Unmöglichkeit der Überwindung intellektueller Selbsttäuschungen behauptet werden. Nicht zufällig ist deshalb - wenn auch in verschiedenen Kombinationen und unterschiedlichen Gewichtungen - das bürgerliche Legitimationsdenken von Nietzsche über den Existentialismus bis zum Postmodernismus durch zum Verwechseln ähnliche Inhalte geprägt: Durch "die Zurücknahme des Fortschrittsbegriffs, die Relativierung des Wahrheitsproblems, die Irrationalisierung der Geschichte und davon abgeleitet die Aristokratisierung der Erkenntnis bzw. des Erkenntnisproblems (Erkenntnis ist nicht allen und jedem Menschen zugänglich), die Leugnung gesellschaftlicher Entwicklung und damit gesellschaftlicher Gesetze, ihre Ästhetisierung, die Verbreitung pessimistischer und nihilistischer ethischer Vorstellungen und davon abgeleitet die Propagierung einer menschenverachtenden Moral, schließlich der bewusste Verzicht auf systematische Weltsicht". (R. Steigerwald)

Gegenüber dem Fundamentalismus des "repressiven Menschenbildes" und der es flankierenden Weltanschauungssysteme ist das technokratische Herrschaftswissen nur von zweitrangiger Bedeutung. Kofler hat sich immer wider auch damit beschäftigt und ihr Verhältnis als das einer wechselseitigen Beeinflussung und Durchdringung dargestellt. Aber als eigentliche ideologiekritische Herausforderung hat er die Weltanschauungssysteme (die er als "ideologischen Strom von außertechnologischer Relevanz und wesentlich nihilistisch-irrationalistischer Prägung" bezeichnet hat) betrachtet. Und das aus einem sehr triftigen Grund. Denn mit dem organisatorischen Verfall der Arbeiterbewegung, gewannen sie einen immer größeren Einfluss auch auf Gruppen, die früher gegenüber dem Herrschaftswissen noch resistent waren.

V. Zunehmend ist auch progressiv intendiertes Denken in den Bannkreis des ideologischen Integrationsprozesses geraten: Wenn sie nicht zu den Ursachen sozio-kultureller Krisenerscheinungen vordringt, sich mit dem anklagenden Verweis auf Krisensymptome begnügt, regrediert auch Kritik zu einem Element des Verschleierungsdenkens. Möglich ist eine solche Vereinnahmung durch die einschneidende Veränderung der hegemonialen Weltanschauungssysteme geworden. Sie bemühen sich nicht mehr um eine direkte Verteidigung oder gar Idealisierung der etablierten Zustände. Weil von den Menschen aller Klassen und Schichten die gesellschaftliche Realität als perspektivloser Zustand erlebt wird, sind direkte Formen der Apologie auch kaum noch möglich. Positive Stellungnahmen werden von den "organischen Intellektuellen" (Gramsci) deshalb auch nicht mehr erwartet; es reicht das Einvernehmen, dass Sicheres niemand weiß und Besseres nicht zu erwarten sei, vollständig aus. Die durch ihre "Neutralität" machtkonforme Intelligenz weigert sich in Zusammenhängen zu Denken und an entscheidenden Punkten sich mit dem Verhältnis von Ursache und Wirkungen zu beschäftigten. Sie weichen mit dieser Haltung der Gefahr aus, dass "mit der Einsicht in den Zusammenhang..., vor dem praktischen Zusammensturz, aller theoretische Glauben an die permanente Notwendigkeit der bestehenden Zustände" einstürzt. Denn es ist das "absolutes Interesse der herrschenden Klassen, die gedankenlose Konfusion zu verewigen." (K. Marx) Beginnend mit dem Irrationalismus Nietzsches, über das Absurditätspathos der modernen Kunst, bis hin zu den endzeitgestimmten Theoriefragmenten der "Postmoderne" sorgen Weltbildkonstruktionen, die durch die Ausblendung der realen Totalität den sozio-kulturellen Widersprüchen das "Omen der zwanghaften Ausweglosigkeit andichten" (Kofler), dafür, dass kritisches Fragen wirkungslos bleibt und Empörung sich in folgenloser "Revolte" auflöst. Fast alle sozio-kulturellen "Pathologien" können dann "unproblematisch" in ein resignatives Verarbeitungsraster integriert werden. Diese machtkonformen Weltbildkonstrukte erfüllen – wie Georg Lukacs treffend gesagt hat - "ihren Zweck vollkommen, wenn durch sie eine Schicht der Intelligenz, die infolge der Einwirkungen der ökonomischen und Kulturkrise zum Feind und Verächter der gegenwärtigen Gesellschaft geworden ist, davon abgehalten wird, aus dieser ihrer Feindschaft und Verachtung wirkliche praktische Konsequenzen zu ziehen."
Jede noch so gut begründete Veränderungsabsicht wird konterkariert, wenn – wie in der geschichtsskeptischen Allgemeinheit einer "negativen Dialektik" - die historische Entwicklung als irreversibler Verfallsprozess dargestellt wird: "Der Fluch des unaufhaltsamen Fortschritts ist die unaufhaltsame Regression." Horkheimer und Adorno schließen an ideologische Gemeinplätzen des herrschenden Denkens an, wenn jede Form menschlicher Auseinandersetzung mit der Natur unter generellen Repressionsverdacht stellen! Es ist zwar offensichtlich, dass die Gefahr eines zivilisatorischen Rückschlags in die sozio-kulturellen Reproduktionsmechanismen der westlichen Moderne eingebaut sind. Jedoch tritt er nicht mit jener irreversiblen Konsequenz ein, die sich aus einer regressiv konzipierten "Dialektik der Aufklärung" ergeben: "Die Herrschaft über die Natur reproduziert sich innerhalb der Menschheit." Koflers Kritik an dieser negativen Geschichtsmetaphysik ignoriert nicht die Existenz zivilisatorischer Verfallstendenzen; sie erinnert jedoch daran, dass nur unter ganz konkreten sozio-kulturellen Bedingungen der Umschlag in die Barbarei eine unumgängliche Begleiterscheinung des Zivilisationsprozesses ist: "Wenn ich ins Konkrete gehe, bekomme ich einen anderen Begriff vom historischen Fortschritt, weil ich Widersprüche und Entwicklungen sehe, die stets Neues, oft überraschendes und keineswegs das ‚Immergleiche‘, wie Adorno sagt, implizieren." (Kofler)

Kritik schlägt beispielsweise auch dann in Affirmation um, wenn die Herrschaftsproblematik nur noch unter dem Aspekt subjektiver "Verstrickungen" in ein gestaltloses Machtsystem reflektiert werden. Es scheint wie ein schlechter historischer Witz und ist doch nur banale Realität, dass in einer Phase neuer Verfestigungen der Klassendifferenzen und der einseitigen Aufkündigung des  "Klassenkompromisses" von Seiten der Herrschenden, eine profilierte Vorstellung über die konkreten Machtkonstellationen kaum vorhanden ist, die Rede über die Herrschaftselite ebenso wie die Frage nach den Strukturen und Artikulationsformen des herrschenden Denkens, selbst in Kreisen kritischer Intelligenz auf Unverständnis stößt.

Ohne Thematisierung ihrer historischen Genese und ohne Berücksichtigung ihrer sozio-ökonomischen Vermitteltheit erscheint die "Macht" als "universal" und unaufhebbar. Zwar wird in den einschlägigen Texten des "Postmodernen Denkens" ein "machtkritischer" Anspruch erhoben, den konkreten Prozessen der Machtvermittlung jedoch keine Aufmerksamkeit geschenkt. Auch dort, wo die Machtverstrickungen das Thema sind, wird die Macht als ungebändigte Urkraft begriffen, die dem gesellschaftlichen Handeln vorgelagert ist. Auch bei dem "Macht-Theoretiker" Foucault wird durch eine überstrapazierte "Opferperspektive" die reale Vermittlungsebene von Macht und Herrschaft verfehlt. Der Kampf des Postmodernismus gegen ökonomistische Verkürzungen des Denkens hat insofern eine Berechtigung, als die aktuellen Formen der Herrschaftsvermittlung alleine durch die Analyse wirtschaftlicher Machtpositionen nicht begriffen werden können. Mit diesem Vorbehalt läuft er aber, bei den Vertretern eines kritischen Marxismus-Denkens offene Türen ein.

Gerade, weil Kofler die ideologischen Verstrickungen als sozio-ökonomisch vermittelt begreift, entgeht er sowohl ökonomistischen Kurzschlüssen als auch den "diskurstheoretischen" und "kulturkritischen" Fallstricken. Dadurch wird es möglich Macht - trotz ihrer "Universalität" - nicht als anonyme (und letztlich klassenneutrale) Größe, sondern als gesellschaftliche Aggregatform zu begreifen, die soziologisch-konkret bestimmbaren Trägern und sozio-ökonomischen Interessenlagen zugerechnet werden kann. Dem Schein der Alternativlosigkeit industriekapitalistischer Systemreproduktion begegnet er durch die soziologische Detailanalyse: Auch der repressive Staat, die dekadente Elite und die bürokratischen Apparate (denen er jeweils detaillierte Studien gewidmet hat), besitzen eine historische Genese und identifizierbare Struktur. Ihr Funktionieren ist über konkrete Handlungsträger organisiert. Die ideologische Formierung und die individuelle Unterwerfungspraxis verlieren nur durch eine solche soziologische Konkretisierung die Aura schicksalhafter Zwangsläufigkeit. Auch die repressive Totalität ist Produkt menschlicher Aktivität; was die Menschen als verfestigte "Naturform" wahrnehmen, ist die "Vergegenständlichung seiner Kräfte und Verhältnisse und muss als solche entschleiert werden." (L. Kofler)


© Werner Seppmann, 2001



Erstveröffentlichung in: Ch. Jünke (Hg.): Am Beispiel Leo Koflers. Marxismus im 20. Jahrhundert, Münster 2001, S. 165 - 181












 

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