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Beiträge zur Politik  









Gerhard Lozek

Totalitarismus - (k)ein Thema für die Linke? Die Totalitarismus-Auffassung in Geschichte und Gegenwart*

In der deutschen Linken ist die Totalitarismus-Problematik verrufen. Sie gilt als absolut negativ besetzt, von den politischen Gegnern infam zur Verleumdung und Bekämpfung jedweder sozialistischer und kommunistischer Anschauungen, Parteien, Bewegungen, Staaten und Politik benutzt. Es dominiert demzufolge die frontale Ablehnung der Totalitarismus-Begrifflichkeit und -Auffassung. Die Bereitschaft, gründlicher in die Thematik einzudringen, ist wenig entwickelt. In der Regel verhindern Emotionen ein rationales Herangehen. Im Grunde ist das Thema Totalitarismus noch weitgehend "unbewältigt". In jüngster Zeit mehren sich allerdings Beiträge, die von kontroversen Positionen aus und mit unterschiedlichen Resultaten die Thematik aufgreifen.1 Ohne im einzelnen darauf einzugehen, betrachtet sich die vorliegende Ausarbeitung als Teil des in Gang gekommenen Diskurses. Zunächst sollen die am meisten verbreiteten ablehnenden Positionen und Argumente knapp umrissen werden:

Erstens - Die Totalitarismus-Auffassung ziele auf die Gleichsetzung (Identifikation) von Sozialismus und Faschismus. Zugleich wird jede Vergleichbarkeit beider Phänomene verneint, wobei der unterschiedliche Sinngehalt von Gleichsetzen und Vergleichen unbeachtet bleibt.

Zweitens (aus der Identitätsthese abgeleitet)- Der Totalitarismus-Begriff sei ausschließlich ein politischer Kampfbegriff zur Diffamierung des Sozialismus und Kommunismus. Obzwar der Begriff von militanten Antikommunisten häufig in diesem Sinne benutzt wird, erschöpft sich darin die Totalitarismus-Problematik jedoch nicht, sie ist bedeutend vielschichtiger. Sie reflektiert reale, d.h. beweisbare Gegebenheiten, die - leider! - faschistischen Diktaturen als auch stalinistisch geprägten Herrschaftspraktiken des Realsozialismus eigen sind. Außerdem ist es naiv, eine auf die Gesellschaft bezogene Benennung nur deshalb abzulehnen, weil sie als politischer Kampfbegriff fungieren könnte; beträfe dies nicht ebenso die Kategorien Kapitalismus, Faschismus, Imperialismus wie Sozialismus, Kommunismus und Bürokratismus bis hin zu Menschenrechtsauffassungen?

Drittens wird die Totalitarismus-Version pauschal als ein Produkt und Relikt des Kalten Krieges hingestellt. In Wirklichkeit entstand sie bereits in den 20er Jahren und fand bald eine beachtliche internationale Verbreitung, zunehmend auch in den Sozialwissenschaften.

Viertens schließlich werden die Totalitarismus-Auffassungen grundsätzlich in Frage gestellt, weil sie von "bürgerlichen Ideologen" ausgearbeitet worden seien, die zwangsläufig antisozialistische und antikommunistische Interessen vertreten und generell die Klassenproblematik des Untersuchungsgegenstandes ignorieren würden. Dazu wäre u.a. zu bemerken, daß es für den Wahrheitsgehalt wissenschaftlicher Erkenntnisse völlig belanglos ist, ob sie von bürgerlichen, marxistischen oder sonstwie weltanschaulich oder klassenmäßig etikettierten Wissenschaftlern stammen. Gesellschaftspolitische Entwicklungen und Gegebenheiten lassen sich niemals ausschließlich auf die Klassenproblematik - bei aller Bedeutung, die ihr zusteht - reduzieren.

Fünftens schließlich wird jede wissenschaftliche Beschäftigung mit Totalitarismus-Auffassungen und eine darauf beruhende sachliche Auseinandersetzung mit dem Argument abgelehnt, daß diese Auffassungen infolge ihrer politischen Fragwürdigkeit dafür ungeeignet seien. Wissenschaftliche Arbeiten zur Totalitarismus-Problematik werden nicht nach ihrem Erkenntniswert und Wahrheitsgehalt beurteilt, sondern nach subjektiven politischen Befindlichkeiten und Wunschvorstellungen. In der Endkonsequenz wird erwartet, daß sich das wissenschaftliche Vorgehen politischen Intentionen unterordnet.2

Um von vornherein keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen, sei gesagt: Anliegen der vorliegenden Ausarbeitung ist es nicht, einer unkritischen, undifferenzierten Übernahme der Totalitarismus-Begrifflichkeit und -Auffassungen das Wort zu reden. Da sich das Thema Totalitarismus aber nicht auf die Gleichsetzungsthese reduzieren läßt, sondern in eindringlicher Weise auf gesellschaftliche und vor allem machtpolitischen Verhältnissen, insonderheit auf reale Faktoren (Funktionen und Strukturen) der politischen Machtausübung in faschistisch oder stalinistisch verfaßten Diktaturen, eingeht, gilt es - unabhängig von Vorurteilen und Wunschvorstellungen die Totalitarismus-Begrifflichkeit ernst zu nehmen, zumindest ernsthaft danach zu fragen, was an der Sache dran ist und was nicht. Und vor allem: ob das Thema außer seiner antikommunistischen Funktionalisierung nicht auch nutzbare Möglichkeiten und Ansätze für eine fundierte Gesellschaftsanalyse und damit einen brauchbaren Erkenntniswert und eine dementsprechende Erkenntnisfunktion besitzt.

Insofern kann und sollte die Totalitarismus-Problematik - bei aller Betroffenheit, die sie auszulösen vermag - ein wichtiges Thema für demokratische Linke sein. Zuverlässige Einsichten sind dazu allerdings nur aus einer gründlichen Aufarbeitung der europäischen und deutschen Geschichte seit den 20er Jahren unseres Jahrhunderts, angefangen bei der Entstehung der Totalitarismus-Begrifflichkeit, zu gewinnen.

Zur Entstehung der Totalitarismus-Begrifflichkeit undAuffassung sowie ihrer gesellschaftskritischen Anwendung in den 20er und 20er Jahren Ein aufschlußreiches Resultat begriffgeschichtlicher Betrachtung ist, daß die Totalitarismus-Problematik ihre Ursprünge im antifaschistischen Denken hat. Es waren antifaschistische italienische Publizisten und Politiker unterschiedlichen Couleur (Sozialisten, Liberale, Linkskatholiken), die in kritischer Reaktion auf den Machtantritt der Mussolini-Faschisten im Herbst 1922 in der Folgezeit die Begriffe "totalitär" und "Totalitarismus" prägten. Zunächst adjektivistisch vor allem auf das System ("sistema totalitario") bezogen, Anfang 1925 dann auch substantiviert als "Totalitarismus".

Die faschistische Mussolini-Diktatur stellte im Zusammenhang mit den krisenhaften Folgen des Ersten Weltkrieges eine historisch neuartige politische Herrschaftsform dar. Diese bis dahin nicht gekannte Erscheinung und die von ihr ausgehenden Wirkungen und Gefahren galt es gesellschaftsanalytisch zu erfassen und zu bewerten, um sich damit auseinandersetzen zu können.

Vor dieser Aufgabe standen alle zeitgenössischen Kräfte, darunter auch die politische Linke. Nicht zuletzt war die Kommunistische Internationale um eine eigenständige Faschismus-Analyse und -Theorie bemüht. Die italienischen Antifaschisten werteten als Hauptmerkmale des totalitären Systems in ihrem Lande die Ausschaltung und Verfolgung jeglicher politischer Opposition, die Abschaffung des parteienstaatlichen Pluralismus und der Gewaltenteilung sowie (und vor allem) die Identifikation von faschistischer Partei und Staat bis hin zum Anspruch auf das politische Machtmonopol durch die Partei. Zu einer ersten Wende in der Begriffsanwendung, die bereits die Vielschichtigkeit der Totalitarismus-Problematik erkennen läßt, kam es in den Jahren 1925/26. Mussolini und seine Partei fühlten sich durch die Begriffe totalitär und Totalitarismus offenbar derart getroffen und verunsichert, daß sie in einer Flucht nach vorn diese Termini einfach okkupierten, mit positiven Vorzeichen versahen und übernahmen. Charakteristisch die Aussage des Direktoriumsmitglieds der faschistischen Partei (Partito Nazionale Faschista / PNF) Roberto Davanzati auf einer Großkundgebung am 28. Februar 1926 in Florenz: "Wenn die Gegner uns sagen, wir seien totalitär, ... unversöhnlich, tyrannisch, dann erschreckt vor diesen Adjektiven nicht. Akzeptiert sie mit Ehre und Stolz ... Jawohl wir sind totalitär! ... Wir wollen tyrannisch sein."3

Bereits auf dem Vierten Parteikongreß der PNF im Juli 1925 hatte Mussolini unter der Parole "Die ganze Macht für den ganzen Faschismus" den "unerbitterlichen totalitären Willen" auf dieses Ziel hin beschworen. Wenige Monate später sprach der Generalsekretär der Partei, Farinacci, vom "totalitären Programm unserer Revolution".4

Die bejahende, sich damit identifizierende Anwendung der Totalitarismus-Begrifflichkeit wurde später von den Anhängern der Nazibewegung in Deutschland übernommen und ausgebaut. Doch verweilen wir noch etwas in der zweiten Hälfte der 20er Jahre. Ungeachtet ihrer Aneignung durch die italienischen Faschisten wurden die Begriffe totalitär und Totalitarismus auch nach 1925/26 weiterhin im kritisch-antifaschistischen Sinne benutzt. So sprach zum Beispiel Antonio Gramsci auf dem Lyoner Parteitag der KPI im Januar 1926 vom "totalitären System", daß die Mussolinifaschisten errichten wollten.5

Ende des Jahrzehnts hatte sich nicht nur innerhalb Italiens, sondern auch in anderen europäischen Ländern eine spezielle politische und staatsrechtliche Totalitarismus-Literatur entwickelt. Darin wurde zunehmend auf Ähnlichkeiten zwischen dem faschistischen Regime in Italien und der bolschewistischen Diktatur in der Sowjetunion verwiesen und dies als eine Wesensverwandschaft "totalitärer Systeme" angesehen. Solche Überlegungen knüpften nicht zuletzt an früher entstandene Denkweisen an, wie zum Beispiel die von Karl Kautsky in Reaktion auf die Oktoberrevolution 1917 in Rußland vorgenommene Entgegensetzung von Demokratie und Diktatur.

Zwei Entwicklungsstränge erhöhten in der Folgezeit die Glaubwürdigkeit der These von der totalitären Wesensverwandschaft der Diktaturen in Italien und der UdSSR ganz enorm. Da betraf zum einen die zunehmende Ausprägung der stalinistischen Herrschaftspraktiken in der Sowjetunion, die in der Zwangskollektivierung, der brutalen Kriminalisierung und Verfolgung jeder politischen Opposition, der Existenz von Gulags und schließlich den staatsterroristischen Schauprozessen in der zweiten Hälfte der 30er Jahre ihre Wesenszüge offenbarte. Das betraf zum anderen das rasante Erstarken der faschistischen Nazibewegung in Deutschland und 1933 die Errichtung der Hitlerdiktatur mit ihren perfekten terroristischen Herrschaftsinstrumentarien, gegenüber dem die Unterdrückungsmethoden des italienischen Faschismus eher zurückhaltend waren.

Bezüglich der Totalitarismus-Problematik setzen sich die in Italien angebahnten Entwicklungen in neuen Dimensionen fort, und zwar sowohl hinsichtlich der entschiedenen antifaschistischen Totalitarismus-Kritik, als auch im Hinblick auf das Bekenntnis der Nazifaschisten und ihrer geistigen Wegbereiter zum Totalitarismus. An der letztgenannten Tendenz hatten rechtskonservative und profaschistische deutsche Staatstheoretiker maßgeblichen Anteil. Schon am Vorabend der Weltwirtschaftskrise hatte der renommierte Professor für Staatsrecht Carl Schmitt eine "Wendung" vom liberalen Parteienstaat zum "totalitären Autoritätsstaat" gefordert, nur der "totale Staat" könne ein starker Staat sein. 1933 erschien die Schrift von Ernst Forsthoff "Der totale Staat", zwei Jahre später das Pamphlet General Ludendorffs "Der totale Krieg". Lange bevor der Nazi-Propagandaminister Joseph Goebbels die Losung vom "totalen Krieg" kolportierte, schrieb Carl Schmitt in einem Aufsatz zum Thema "Totaler Feind, totaler Krieg, totaler Staat": "Von der Art des totalen Krieges her bestimmen sich Art und Gestaltung der Totalität des Staates; von der besonderen Art der entscheidenden Waffen her bestimmt sich die besondere Art und Gestalt der Totalität des Krieges. Der totale Krieg aber erhält seinen Sinn durch den totalen Feind." 6

Die Strapazierung der Schlagworte "total" und "totalitär" von faschistischer Seite führte dazu, daß antifaschistische Politiker und Publizisten darunter auch Thomas und Heinrich Mann - den Totalitarismus-Begriff vor 1945 ausschließlich zur Brandmarkung des Hitlerfaschismus benutzen. Nach 1933 verlagerte sich die gegen den Faschismus gerichtete Beschäftigung mit der Totalitarismus-Problematik in die USA. Daran hatten aus Deutschland emigrierte Sozialwissenschaftler maßgeblichen Anteil. Ihr Hauptinteresse galt der Faschismusanalyse. Eine Strömung liberaler und sozialdemokratischer Theoretiker, darunter Arthur Rosenberg, Max Horkheimer, Ernst Fraenkel und Franz Neumann, kamen dabei zu bemerkenswerten Erkenntnissen über die klassenbedingte Wechselbeziehung von Faschismus und Imperialismus. Rosenberg hatte schon 1934 den Faschismus als eine "bürgerlich-kapitalistische Gegenrevolution" charakterisiert; von Horkheimer stammt die ebenso griffige wie richtungsweisende Aussage, daß derjenige vom Faschismus schweigen solle, der nicht gewillt ist, vom Kapitalismus zu reden. 7

Die These von der Wesensgleichheit faschistischer und kommunistischer Diktaturen blieb zwar weiter im Gebrauch, aber es kam zu einer größeren Differenziertheit in der Anwendung des Totalitarismus-Konzepts. Zunehmend erfolgten vergleichende Betrachtungen zu den hier interessierenden Diktaturformen, wobei ihre Unterschiede deutlicher herausgearbeitet wurden. Dies betraf vor allem die historische Verwurzelung des Faschismus im rassistischen Irrationalismus einerseits und des Sozialismus im humanistischen Rationalismus der Aufklärung andererseits. Zeitweise kam es jedoch zu erheblichen Irritationen im Zusammenhang mit den Moskauer Schauprozessen sowie nach Abschluß des deutsch-sowjetischen Nichtangriffs- und gar des "Freundschaftsvertrages" vom August bzw. September 1939.

So äußerste zum Beispiel der namhafte Sozialdemokrat Rudolf Hilferding, daß diese Verträge nicht "anders als aus der Wesensgleichheit der totalitären System zu begreifen" seien. 8 Die während des Krieges in den USA vorgenommenen und veröffentlichten Untersuchungen zum Thema Totalitarismus ließen erkennen, daß sich die Totalitarismus-Forschung in den Sozialwissenschaften der westlichen Länder fest etabliert hatte. Die herkömmliche Begrifflichkeit ergänzte 1944 der aus Österreich stammende in England lebende Philosoph Karl R. Popper mit der Entgegensetzung von "offener Gesellschaft" (offen im Sinne von demokratisch) und "geschlossene Gesellschaft" (geschlossen im Sinne von totalitär). 9

In jener Zeit fand die Totalitarismus-Version auch eine wirtschaftswissenschaftliche Begründung durch liberalkonservative deutsche Wirtschaftswissenschaftler (Walter Eucken, Wilhelm Röpke, Friedrich A. Hayek), welche die im Liberalismus wurzelnden Auffassungen von der "Zwangsverwaltungswirt-schaft" kreierten, die letztlich als Gegenpol zur Marktwirtschaft verstanden wurden bzw. auf den Gegensatz von Planwirtschaft und Marktwirtschaft hinausliefen. Faschismus und Sozialismus verkörperten demnach "zwei Typen der Zentralverwaltungswirtschaft". 10

Die skizzierten Fakten lassen erkennen, daß die Totalitarismus-Version nicht nur als ein politischer Kampfbegriff, sondern auch als ein sozialwissenschaftlich begründetes variables Konzept bereits vor 1945 - und nicht erst, wie häufig dargestellt, als ein Produkt des Kalten Krieges - in allen wesentlichen Bestandteilen Gestalt angenommen hatte. Gleichwohl spielte dieses Konzept nach 1945 während des Kalten Krieges eine besondere politische und ideologische Rolle, auf die im nächsten Abschnitt eingegangen werden soll.

Die sozialwissenschaftliche Fundierung der Totalitarismus-Auffassungen nach Kriegsende und ihr Stellenwert im Kalten Krieg Zunächst scheint geboten, sich generell über Ursachen und Wesen des Kalten Krieges zu verständigen. Das um so mehr, als es dabei einige überholte Auffassungen zu korrigieren gilt. Beispielsweise läßt sich die früher in der DDR vorherrschenden - heute noch häufig anzutreffende zeitgeschichtliche Auffassung, wonach allein die USA diesen Krieg hinterhältig angezettelt hätten und demnach die Hauptschuld an seinen Inhalten und Methoden trügen, die Sowjetunion dagegen stetig nur Friedensabsichten verfolgte, nicht aufrecht erhalten. In Wirklichkeit resultierte der Kalte Krieg, ebenso wie der Zerfall der Anti-Hitler-Koalition, aus den gesellschaftlichen Systemgegensätzen zwischen den westlichen parlamentarisch-demokratisch verfaßten Staatengruppen unter der Führung der USA auf der einen und dem von Stalinismus durchsetzten diktatorischen Herrschaftsvarianten in der Sowjetunion und später in den Warschauer-Pakt-Staaten unter der Führung der UdSSR auf der anderen Seite. Es ging beiderseitig um imperiale Ziele, vor allem um die Absicherung der im Kriege errungenen Einflußsphären sowie um die Korrektur des status quo zugunsten der jeweiligen Seite.

Insofern war der Kalte Krieg Ausdruck und Instrument des Systemauseinandersetzung, die unterhalb der Schwelle zu einem Dritten Weltkrieg ausgetragen werden sollte und wurde. Damit war die historische Chance, nach 1945 eine europäische Friedensordnung zu verwirklichen, vertan. Im Sog des Kalten Krieges kam es in Deutschland zur territorialen Spaltung des Landes; jene Kräfte, die für ein neutrales, entmilitarisiertes, demokratisches und antifaschistisches Deutschland eintraten, vermochten sich nicht durchzusetzen. Im Einsatz der politischen, militärischen und ideologischen Mittel blieb im Kalten Krieg keine Seite der anderen etwas schuldig. Wenn die USA und ihre Verbündeten in dieser Situation sich mit besonderer Militanz der Totalitarismus-Problematik zuwandten, so kann das nicht verwundern.

Die Totalitarismus-Version hatte aus deren Sicht unschätzbare Vorzüge: Sie war geeignet, ein neues Feindbild zu schaffen, das den Bruch der Anti-Hitler-Koalition überzeugend rechtfertigte; sie entsprach der weltweiten Massenstimmung, die jedwede diktatorische Herrschaftsformen ablehnte; bei allen ideologischen Übertreibungen reflektierte sie schließlich im Kern reale, das heißt beweisbare Tatsachen und Erfahrungen aus den Geschehen im faschistischen Deutschland und in der von Stalin beherrschten UdSSR. Wer behauptet, daß die Totalitarismus-Version lediglich eine bösartige Erfindung und Konstruktion militanter Antikommunisten darstelle, macht sich die Sache zu leicht. Ob man es wahrhaben will oder nicht, diese Version hat unwiderlegbare Bezüge zur geschichtlichen Wirklichkeit, darin liegt vor allem ihre Wirksamkeit. Jede Auseinandersetzung mit dem Thema hat dies in Rechnung zu stellen, ansonsten bleibt sie - auch in bezug auf Defizite und Fragwürdigkeiten jener Version, die es zweifellos gibt unglaubwürdig.

Obgleich schon vor 1945 zahlreiche sozialwissenschaftliche Arbeiten zur Totalitarismus-Auffassung verfügbar waren und die führenden Politiker der USA und anderer westlicher Länder darauf zurückgreifen konnten, erreichten die Bestrebungen zu ihrer theoretischen Begründung und Systematisierung erst im Laufe der 50er Jahre ihre größte Intensität. Zwei Namen sind hervorzuheben: Hannah Arendt und Carl J. Friedrich, beide in den USA wirkende deutsche Emigranten. Arendt, Historikerin und Philosphin jüdischer Herkunft; Friedrich, Politikwissenschaftler, zeitweise Mitarbeiter der amerikanischen Militärverwaltung in Deutschland. Beide waren bestrebt, auf der Grundlage einer umfassenden Systematisierung der geschichtlichen Erfahrungen die bestimmenden Wesenszüge "totalitärer Herrschaft" ("totalitärer Diktaturen") herauszuarbeiten. Hannah Arendts Untersuchungsergebnisse erschienen 1951 in den USA und 1955 in deutscher Übersetzung unter dem Titel "Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft". Der namhafte Philosoph Karl Jaspers kennzeichnete das Buch im Vorwort als "Geschichtsschreibung große Stils", er attestierte der Autorin eine Denkungsart "deutscher und universeller Herkunft, geschult an Kant, Hegel, Marx ... (und) wesentlich an Montesquieu und Tocqueville." 11

Im großen geschichtlichen Wurf spannt Arendt ihre Betrachtungen vom ausgehenden 18. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts. Das Buch ist nicht nur ein Standardwerk zur Totalitarismus-Problematik, sondern weit darüber hinaus zur europäischen Staaten- und Gesellschaftsgeschichte im erwähnten Zeitraum. Hier sollen dazu nur einige Stichworte benannt werden, darunter: Judentum und Antisemitismus; Rassismus; europäische Panbewegung als Vorläufer totalitären Denkens (Pangermanismus, Panslawismus); gesellschaftliche und politische Umbrüche im Zeitalter des Imperialismus; die sozial- und individualpsychologischen Folgen dieses Umbruchs und der damit entstandenen Massengesellschaft; politische Bewegungen und Parteien dieser Gesellschaft, insbesondere die Herausbildung totalitärer Bewegungen, Parteien und Staaten. Zum Thema Totalitarismus konzentriert Arendt ihre Untersuchung auf die Nazi-Diktatur in Deutschland, die "bolschewistische Diktatur in Rußland" - deren Umschlag zum totalitären Herrschaftsapparat mit 1930 datiert wird - erscheint eher beiläufig als ergänzendes Demonstrationsobjekt. Ganz eigenartig ist, daß der italienische Faschismus "im Prinzip (als) weder totalitär noch antichristlich" gewertet wird. 12

Er habe erst nach 1938 in direkter Abhängigkeit von der deutschen Nazi-Diktatur totalitäre Züge angenommen. Als Hauptelemente totalitärer Herrschaft kennzeichnete Arendt die Bemächtigung des Staates durch totalitäre Bewegungen, die Verachtung des positiven Rechts und damit der Rechtsstaatlichkeit, die Willkür der Geheimpolizei, die Mißachtung der individuellen Freiheiten; letztlich entscheidend Ideologie und Terror ("Ideologie und Terror: Eine neue Staatsform" lautet die Überschrift des letzten Buchkapitels). Angesichts der zunehmenden rechtsradikalen, rassistischen und neofaschistischen Tendenzen in europäischen und außereuropäischen Ländern ist der Hinweis höchst aktuell, daß totalitäre Tendenzen in der "heutigen Welt überall" gegeben seien, selbst stabile Demokratien seien nicht gegen die Gefahr totalitärer Entwicklungen gefeit. Historisch weniger tiefgründig als das Buch von Hannah Arendt war die Schrift von Carl J. Friedrich "Totalitäre Diktatur" (Stuttgart 1957), gleichwohl erreichte sie ungleich größere Massenwirkung. Durch Vereinfachungen leichter handhabbar, bestimmte sie in der Folgezeit das gesamte Bildungswesen und die öffentliche Meinung in der BRD und anderen westlichen Ländern. Friedrich benannte fünf (später sechs) Hauptmerkmale totalitärer Diktatur: eine Ideologie, eine Massenpartei, eine terroristische Geheimpolizei, ein Nachrichtenmonopol und eine zentralisierte Wirtschaft, (später kam hinzu) das Monopol in der Anwendung aller Kampfwaffen.

Der Autor betonte, daß die genannten Merkmale stets nur als Ganzheit zu begreifen seien, kein Merkmal dürfe isoliert gesehen werden. Diese Wesensbestimmung wie auch andere Publikationen und Aussagen zum Totalitarismus hatten von Anfang an einen eklatanten Mangel - sie charakterisierten und erklärten zwar substantielle Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten totalitärer Herrschaftssysteme (Diktaturen), sie ignorierten jedoch die Unterschiedlichkeiten, die zwischen den verschiedenen Ausformungen jener diktatorischen Systeme bestehen. Die Folge war eine gewisse Starrheit und Einseitigkeit der Explikationen. Hinzukommt, daß einige der postulierten Gemeinsamkeiten in der Realität von qualitativer Verschiedenheit und großer Differenziertheit geprägt sind, wie zum Beispiel Ideologie, Wirtschaft, Klassenstrukturen u.v.m. Dies und die Tatsache, daß das Totalitarismus-Konzept fast ausschließlich nur das politische Herrschaftssystem und dessen Mechanismen der Machtausübung im Blick hat, dagegen die Gesellschaft als Ganzes und in wesentlich Teilbereichen, wie etwa die Kultur und die alltäglichen Lebensverhältnisse, unterbelichtet läßt, markieren die Erkenntnisschranken der Totalitarismus-Auffassungen. In den Sozialwissenschaften wird endlos über Merkmale und Inhalte totalitärer Diktaturen gestritten.

Dabei geht es vornehmlich um die Frage: Wann und unter welchen Bedingungen ist ein politisches Herrschaftssystem als totalitär zu bezeichnen? Von eindeutig faschistischer oder stalinistischer Gewaltherrschaft abgesehen, ist die Beantwortung dieser Frage im konkret-historischen Zusammenhang schwierig. Dies erklärt sich vor allem daraus, daß die Unterschiede und Grenzbereiche zwischen den nichtdemokratischen Formen politischer Machtausübung nicht nur fließend sind, sondern auch in verschiedenartigen Mischformen von totalitär, autoritär, bürokratisch, despotisch, autokratisch, tyrannisch u.a.m. in Erscheinung treten können. Historische Belege dafür waren u.a. die diktatorischen Herrschaftssysteme in Franco-Spanien, im Portugal Salazars, im zwischenkriegszeitlichen Ungarn, Polen, Rumänien und nach dem Zweiten Weltkrieg in verschiedenen Staaten Lateinamerikas, die zumeist als nichttotalitäre Präsidial- oder Militärdiktaturen galten, obgleich in der Regel eindeutig profaschistische und damit totalitäre Züge existent waren.

Zu den strukturellen Parallelen und qualitativen Unterschieden totalitärer Diktaturen Aus dem bisher Gesagten wird deutlich, daß der Totalitarismus-Begriff eine bestimmte politische Herrschaftsform kennzeichnet, die ihrerseits die gesamtgesellschaftliche Verfaßtheit nachhaltig beeinflußt. Es werden jene politischen Systeme des 20. Jahrhunderts als totalitär und hinsichtlich ihrer diktatorischen Herrschaftsstrukturen und -praktiken als wesensverwandt bezeichnet, die auf straffen Zentralismus, auf Ausschaltung und Verfolgung jeder Opposition beruhen und mit Repressionen aller Art sowie Indoktrination die Bevölkerung gefügig zu machen versuchen. Als Grundvarianten totalitärer Systeme werden Faschismus (in der deutschen Form "Nationalsozialismus") sowie Staatssozialismus stalinistischer Prägung angesehen. Das Totalitarismus-Konzept geht aber zugleich davon aus - was oft übersehen wird -, daß auch in der Industriegesellschaft westlichen Typs permanent totalitäre Tendenzen und Gefahren wirken. Das Kernstück totalitärer Regime und damit wirklichkeitsbezogene Vergleichsebene der Totalitarismus-Auffassung besteht immer und in erster Linie in der Art und Weise der politischen Machtausübung, im ähnlich strukturierten und ähnlich funktionierenden politischen Systemen.

Das betrifft primär: den Mechanismus der politischen Machtausübung auf der Grundlage des Führungsanspruchs und des Machtmonopols einer Partei, einer Parteiführung oder eines Diktators; die strikte Ablehnung der Gewaltenteilung und Verhinderung jedweder Machtkontrolle gegenüber der politischen Führung, was zwangsläufig die Abkehr vom Rechtsstaat einschließt; die Umkehrung des Verhältnisses von Staat und Partei, der Staat wird zum Hilfsinstrument der Partei bzw. Parteiführung; die Errichtung eines diktatorischen Herrschaftssystems, das die demokratischen Rechte und Freiheiten der Bürger radikal einschränkt oder aufhebt; das Bestreben der politischen Machtorgane und Organisationen, in die privaten Lebensbereiche einzudringen und die Menschen zu bevormunden; last not least das Beanspruchen des weltanschaulichen Wahrheitsmonopols durch die Funktionsträger der herrschenden Partei; das Gegenstück dazu bildet die Leugnung des Pluralismus in Staat und Gesellschaft, im Weltbild und auch in den Wissenschaften, was zwangsläufig die Negierung des Toleranzprinzips einschließt. Diesen strukturellen Parallelen totalitärer Diktaturen stehen zugleich bedeutende qualitative Unterschiede gegenüber, die von der Begrifflichkeit und Auffassung des Totalitarismus nicht erfaßt oder fehlinterpretiert werden. Hier liegt demzufolge der Hauptansatz einer kritischen Wertung der Totalitarismus-Version.

Erstens betrifft das die Ideologieproblematik. Zwar existieren Ähnlichkeiten hinsichtlich der Instrumentalisierung der jeweils herrschenden Ideologie, deren Herkunft und Hauptinhalte sind jedoch grundverschieden. Während die faschistische Ideologie vom Irrationalismus und Mystizismus, vor allem der antihumanen Rassenlehre getragen wird, ist die staatssozialistische Ideologie des "Marxismus-Leninismus" mit dem Rationalismus und Humanismus der Aufklärung verbunden und wendet sich entschieden gegen Völker- und Rassenhaß.

Zweitens bestehen grundlegende Divergenzen zwischen den ökonomischen Strukturen beider Dikaturvarianten. Das bereits erwähnte übergreifende Konzept der "Zentralverwaltungswirtschaft" greift zu kurz, weil es die unterschiedlichen Eigentumsformen an den Produktionsmitteln und die darauf beruhenden Wirtschaftsregulative sowie die unterschiedlichen sozialen Träger nicht genügend beachtet. Im Naziregime blieb es bei der kapitalistischen Wirtschaftsform, die Marktwirtschaft unterlag zwar partiellen Beschränkungen, das Prinzip der Profitwirtschaft blieb jedoch unangetastet. Die eigentlichen Nutznießer und sozialen Hauptträger der faschistischen Diktatur waren allerdings nicht die kapitalistischen Unternehmer in ihrer Gesamtheit, sondern die finanzstärksten Kreise des Monopolkapitals. Der stalinistisch infizierte Staatssozialismus stellte demgegenüber eine nichtkapitalistische Wirtschaftsform dar, in der staatliches Eigentum vorherrschte, aber auch genossenschaftliches Eigentum in der Landwirtschaft und im Gewerbe einen begrenzten Spielraum hatte.

Drittens ist bei den Divergenzen totalitärer Regime die grundverschiedene Haltung des NS-Regimes einerseits und der realsozialistischen Systeme andererseits zur Demokratieproblematik festzustellen. Der Faschismus aller Spielarten negierte die Demokratie absolut, er setzte ihr das Führerprinzip entgegen. Der Realsozialismus versuchte, den Demokratiegedanken in das Konzept der "sozialistischen Demokratie" zu integrieren. Das hatte in Teilbereichen einiger Länder - darunter nicht zuletzt auch in der DDR -, vornehmlich auf betrieblicher, örtlicher und regionaler Ebene, in den Gewerkschaften (besonders arbeitsrechtlich) und noch mehr innerhalb der landwirtschaftlichen und gewerblichen Produktionsgenossenschaften positive Auswirkungen; deren gesamtgesellschaftliche Ausweitung verhinderte jedoch die Praxis des "demokratischen Zentralismus", der in Wirklichkeit ein bürokratisch-diktatorischer Zentralismus war.

Viertens sind besonders gravierend die völlig andersgearteten welthistorischen Wirkungen und Ergebnisse des Faschismus einerseits und des Staatssozialismus andererseits, hauptsächlich in bezug auf die Lebensrechte der Völker und der Krieg-Frieden-Problematik. Der vom Faschismus ausgelöste Zweite Weltkrieg brachte die Menschheit an den Rand des Abgrunds. Die faschistische Machthaber erhoben den Völkermord, der im Holocaust gipfelte, zur Staatspolitik. So widersprüchlich ihre Haltung bei Kriegsbeginn war, die Sowjetunion wurde Mitglied der Anti-Hitler-Koalition und leistete einen erheblichen Beitrag zur Abwehr der faschistischen Barbarei. Später hatte das Aufgreifen der von paktfreien Ländern entwickelten Idee der friedlichen Koexistenz durch die Staaten des Warschauer Vertrages wesentlichen Anteil an der Beendigung des Kalten Krieges sowie dem Beginn ernsthafter Abrüstungsverhandlungen, woran auch die DDR namentlich in den 80er Jahren nach Kräften mitwirkte. Im Gegensatz zum NS-Regime, dessen Repräsentanten und staatstragenden Organisationen und Verbände von internationalen Gremien gebrandmarkt und gerichtlich zur Verantwortung gezogen wurden, gehörte die DDR seit 1973 der UNO an und wurde in keinem Falle völkerrechtlich angeklagt oder verurteilt.

Fünftens bestanden nicht zuletzt in sozialer Hinsicht wesentliche Verschiedenheiten. Entgegen seiner vehement verfolgten sozialen Demagogie praktizierte das NS-Regime eine systematische Entrechtung im Sozial- und Arbeitsbereich. Trotz aller Negativa der DDR ist nicht zu übersehen, daß viel für die Verbesserung der sozialen Lage der arbeitenden Menschen getan wurde. So konnte zum Beispiel soziale Chancengleichheit in Bildung, Beruf, Kultur, eine soziale Grundsicherung, die das Recht auf Arbeit einschloß und Arbeitslosigkeit sowie Obdachlosigkeit ausschloß, verwirklicht werden. In anderen wichtigen Lebensbereichen wie in der Wohnraumbereitstellung, der Gleichstellung der Geschlechter, im Familien- und im Arbeitsrecht, im Gesundheitswesen, bei Kindergärten und -horten sowie in der Kinderferiengestaltung wurden Ergebnisse erzielt, die einen Vergleich mit anderen Industrieländern nicht zu scheuen braucht.

Durch den Wegfall der Systemkonkurrenz zwischen kapitalistischer Marktwirtschaft und Realsozialismus ist ein unerbittlicher Sozialabbau nicht nur zur ständigen Gefahr, sondern zum schmerzlichen Alltagserleben vieler Menschen in ganz Deutschland geworden. Die Frage nach dem Erhalt von Bewahrenswertem aus der DDR blieb im deutschen Einigungsprozeß leider suspekt. Das Gesagte belegt, daß allein ein mittels Totalitarismus-Konzept vorgenommener Diktaturenvergleich infolge Nichtbeachtung der gegeben Unterschiede lückenhaft und fragmentarisch bleiben muß. Geschichtswissenschaftlich gewertet, stellt dieses Konzept eine idealtypische Verallgemeinerung dar, die außerstande ist, die jeweiligen Besonderheiten der historischen Erscheinungen zu reflektieren. Sie wird damit weder der Singularität und Spezifik dieser Erscheinungen noch ihren gesellschaftliche Dimensionen gerecht.

Bevor wir auf die Frage "War die DDR totalitär?" eingehen, sollen noch einige Entwicklungen der Totalitarismus-Problematik seit Ende der 50er Jahre skizziert werden. Die weltgeschichtliche und gesellschaftstheoretische Ausweitung der Totalitarismus-Begrifflichkeit und -Auffassungen mittels Industriegesellschaftslehre. Damit entstand eine Art globaler Formationsablauf, der von der industriellen Revolution des 18. und 19. Jahrhunderts sowie der amerikanischen Revolution von 1776, über das Scheitern eines demokratischen Umbruchs und der Herausbildung einer ersten totalitär-diktatorischen Herrschaftsform in Rußland 1917 führte und schließlich nach 1945 im Weltgegensatz zwischen westlicher Demokratie und realsozialistischen totalitären Diktaturen kulminierte. Die Symbiose von Totalitarismus-Version und Industriegesellschaftslehre erwies sich als außerordentlich wirksames Instrument der politischen und ideologischen Strategie des Westens in der Systemauseinandersetzung.

Damit ist noch nichts über die Eignung dieser Lehre für die Lösung der heute anstehenden Menschheitsprobleme gesagt. Die forcierte Verbreitung der Totalitarismus-Auffassungen in der Öffentlichkeit, insbesondere in den Medien und im Bildungswesen. In den USA und in der BRD wurden zum Beispiel regierungsamtliche Richtlinien zur Behandlung des Totalitarismus in der politischen Bildung der Schulen und der Armeen erlassen. Das bildete eine wesentliche Grundlage der antitotalitären staatsbürgerlichen Erziehung, einschließlich der entsprechenden Feindbild-Vorstellungen. Inhaltliche Korrekturen der herkömmlichen Totalitarismus-Auffassungen durch eine sozialwissenschaftliche Strömung, die namentlich mit den Arbeiten von Otto Stammer, Peter Christian Ludz, Zbigniew Brzezinski und Robert C. Tucker verbunden sind, die auf ein differenzierteres, nichtschematisierendes Herangehen an die konkrete Gesellschaftsanalyse in den einzelnen realsozialistischen Staaten hinausliefen. Obgleich diese Strömung ihren Einfluß in der westlichen Kommunismus- und DDR-Forschung in den 70er und 80er Jahren verstärken konnte, war es keinesfalls so - wie mitunter dargestellt -, daß sich damit die weiter oben genannten Tendenzen abgeschwächt hätten bzw. weniger wirksam geworden wären. Erheblich verstärkt hatte sich allerdings der Streit zwischen den verschiedenen Strömungen der Kommunismus- und DDR-Forschung.

Ein Kernpunkt war die namentlich von Ludz kreierte "systemimmanente Methode" für die Analyse des Geschehens in den einzelnen sozialistischen Ländern. Dieses Geschehen sollte nicht mehr vorrangig mit westlichen, also äußeren Maßstäben, sondern anhand der inneren, eigenständigen Verhältnisse und Bedingungen untersucht und bewertet werden. Ziel dieses Herangehens war es, Unterschiedlichkeiten in den einzelnen Ländern sowie potentiellen Konfliktfelder aufzudecken und für eigene strategische Zielsetzungen wie zum Beispiel den evolutionären inneren Wandel oder nationalkommunistische Tendenzen nutzbar zu machen. Letzteres schlug sich auch im Differenzieren zwischen totalitären und nichttotalitären Erscheinungen und Entwicklungen innerhalb der kommunistischen Bewegung und der realsozialistischen Staatengruppe nieder.

Die erwähnte Verknüpfung von Totalitarismus-Konzept und Industriegesellschaftslehre weiterführend, wird seit einiger Zeit diese Problematik in den Zusammenhang mit der auf die westlichen Gesellschaften bezogenen Modernitätsentwicklung gebracht und die Entstehung neuer totalitärer Symptome und Syndrome als mögliche Konsequenz jener Entwicklung angesehen. Damit werden die westlichen Demokratien in den Untersuchungsund Anwendungsbereich des Totalitarismus-Konzepts einbezogen.13

War die DDR totalitär? Die Frage nach der Bewertung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse, insbesondere nach dem politischen System der DDR, war nach 1989 naturgemäß zu einem zentralen Anliegen der Geschichtsbetrachtung geworden. Der Zusammenhang mit der Totalitarismus-Problematik wurde in Ostdeutschland allerdings erst mit der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" ins öffentliche Bewußtsein gerückt. Die jahrzehntelange Abschottung gegenüber den Arbeitsergebnissen der westlichen Sozialwissenschaften im allgemeinen und zur hier interessierenden Problematik im besonderen hatte diesbezüglich weitgehende Unkenntnis verursacht. Unabhängig davon, wie man die Untersuchungen und Aussagen dieser Kommission bewertet - die Probleme, die damit aufgeworfen sind, sollte man nicht verdrängen. Die offizielle Version der Enquete-Kommission, wie sie auch der Schlußbericht enthält, kennzeichnet die DDR undifferenziert über 40 Jahre hinweg als "totalitäre Diktatur" und "totalitäres Regime". 14

Zwar hat sich der Kommissionsvorsitzende, der CDU-Bundestagsabgeordnete Rainer Eppelmann, verbal gegen eine Gleichsetzung mit der Nazi-Diktatur gewandt, dennoch spricht er und auch der Kommissionsbericht von einer sechs Jahrzehnte währenden "totalitären Kontinuität" auf deutschem Boden, womit das Geschehen seit 1933 nahtlos einbezogen wird. Beide Grundannahmen sind inakzeptabel. Die zuletzt erwähnte These ist unhaltbar, denn Kontinuität bedeutet zeitlich nicht unterbrochene Entwicklungen und historisch lückenlose Zusammenhänge, was weder auf die tiefen Umbrüche nach dem Kriegsende, noch auf die Phase von 1945 bis Anfang der 50er Jahre und schon gar nicht auf die gesellschaftlichen Gegensätze zwischen dem NS-Regime und der DDR zutrifft.

Die erstgenannte Auffassung - 40 Jahre "totalitäre Diktatur" - versperrt den Blick auf eine differenzierte Bewertung des konkreten Geschichtsverlaufs, zugleich ignoriert sie den Tatbestand, daß auch Diktaturen (durch innere und äußere Einflüsse bedingt) einem geschichtlichen Wandel unterworfen sind, einem Wandel, der in unterschiedliche Richtungen gehen kann. Dieser Wandel vollzieht sich nicht schlechthin in bloßer Abfolge unterschiedlicher Phasen, sondern in der Verflechtung und gegenseitigen Durchdringung unterschiedlicher, zum Teil divergierender Tendenzen und Komponenten. So gesehen, ist auch die verbreitete Unterscheidung zwischen einer "totalitären Frühphase" und einer eher "autoritären Spätphase" der DDR wenig hilfreich.

Zum Beispiel war letztere nicht nur durch eine Liberalisierung in Teilbereichen charakterisiert, sondern zugleich auch durch die Verschärfung der Repressionen und den flächendeckenden Ausbau des staatlichen Überwachungsapparates. Die zu den Ansichten der Enquete-Kommission diametral entgegengesetzten Position - im linken Spektrum dominierend lehnt jeden Bezug der Totalitarismus-Auffassung und desBegriffs auf die DDR vehement ab. Nicht nur das, auch der Diktaturvergleich in Deutschland wird entschieden abgelehnt. Das Hauptargument lautet: die Totalitarismus-Auffassung klammere die Klassenfrage aus, sie abstrahiere vom sozialen Inhalt; der völlig andersgeartete Klasseninhalt von faschistischer Diktatur einerseits und realsozialistischem Herrschaftssytem andererseits schließe jeden Vergleich aus; eventuelle Ähnlichkeiten seien nur formal und äußerlich, also unbedeutend. So einleuchtend manche dieser Argumente auf den ersten Blick zu sein scheinen, einer ernsthaften Überprüfung und Verifikation halten sie nicht stand, und zwar vornehmlich aus folgenden Gründen:

Erstens ist es naiv, den besagten Diktaturvergleich zu negieren. Der historische Vergleich bildet eine unverzichtbare Methode jeder Geschichtsbetrachtung und -forschung. Jedwede Geschichtserkenntnis beruht auf vergleichender Untersuchung und Bewertung von unterschiedlichen Zeitabläufen, Regionen, Ländern, Völkern, Gesellschaftssystemen, Staaten, Personen u.v.m. Und es ist nun einmal so, daß es in Deutschland im 20. Jahrhundert zweimal zur Herausbildung diktatorischer Regime kam.

Zweitens kann es nicht angehen, nur bei der faschistischen Diktaturvariante nach dem Klassencharakter zu fragen, bei stalinistisch beeinflußten oder geprägten diktatorischen Herrschaftssystemen dies zu unterlassen und sich mit der Bestimmung als "sozialistisch" zu begnügen. Auch in diesem Falle bedarf es einer gründlichen Klassenanalyse, in deren Ergebnis der stalinistischen Parteienoligarchie sowie der Staatsbürokratie ein besonderer Stellenwert zukommen müßte.

Drittens ist unbestritten, daß die Totalitarismus-Auffassung die Klassenfrage weitgehend ausklammert und die gegensätzlichen sozialen Inhalte beider Diktaturvarianten kaum beachtet - aber das ist ja gerade ein wesentliches Faktum, das bereits skizzierte Erkenntnisgrenze dieser Auffassung markiert. Dessen ungeachtet werden eine Reihe anderer substantieller Merkmale insbesondere hinsichtlich der diktatorischen Herrschaftsstrukturen und -methoden erfaßt und näher bestimmt, die keine oder nur eine sehr lose Beziehung zur Klassenfrage haben, die aber für das Aufdecken der historischen Wahrheit wesentlich sind.

Viertens vermag die Berücksichtigung der Klassenproblematik zwar einige Antworten auf die soziale Gegensätzlichkeit der hier interessierenden Diktaturvarianten zu geben, die Frage nach der Herkunft und dem Wesen der Ähnlichkeiten, auch Gemeinsamkeiten, in bezug auf die strukturelle Parallelität und Funktionalität dieser Diktaturen wird jedoch ausgeklammert, in der Regel einfach verdrängt. In puncto Diktaturvergleich enthält das sog. Minderheitenvotum zum Abschlußbericht der Enquete-Kommission, das vom Vertreter der PDS/Linke Liste, Dietmar Keller, im Deutschen Bundestag vorgetragen wurde, bemerkenswerte Erkenntnisfortschritte. (Das Votum wurde vorher in der Bundestagsgruppe PDS/Linke Liste beraten und mit 12 Stimmen, bei einer Enthaltung, bestätigt.) 15

Darin werden detaillierte Ähnlichkeiten und Unterschiede des NS-Regimes und der DDR benannt, wobei sich die Ähnlichkeiten weitgehend mit jenen Merkmalen decken, die weiter oben als Charakteristika totalitärer Herrschaftsformen angeführt sind. Im Widerspruch dazu wird jedoch im Votum festgestellt, daß die Unterschiede zwischen dem NS-Regime und der DDR so gewaltig seien, daß es keine gemeinsame Auffassung und keinen theoretischen Ansatz geben könne, um die jeweiligen gesellschaftlichen Strukturen unter einem Begriff zu fassen. Dies hindere die PDS jedoch "keinesfalls daran, selbst zu untersuchen welche gemeinsamen Merkmale alle Diktaturen haben."16

Diese Feststellung ist logisch nicht ganz stimmig: Keine gemeinsame (d.h. übergreifende) Auffassung zu beiden Diktaturvarianten, aber gemeinsame Merkmale? "Merkmale aller Diktaturen" - ist das nicht zugleich ein wesentlicher Ansatz im Sinne eines Gattungsbegriffs für Gemeinsamkeiten auch beider Diktaturvarianten? Die Zwiespältigkeit, die hierbei deutlich wird, ist im Grunde einer begrifflichen Aversion geschuldet: Der Terminus "totalitär" sollte vermieden werden. Auf die DDR bezogen, wurde der Begriff "autoritär" gewählt und festgestellt: "Prägend für das politische System der DDR waren diktatorische, autoritäre und bürokratisch-administrative Formen und Methoden".17

Im weiteren Kontext wird zu recht auf "Momente einer realen demokratischen Entwicklung in den Betrieben, Wohnbezirken und Gemeinden" verwiesen. Der Begriff autoritär ist ein Problem für sich. Meistens bleiben es seine Befürworter schuldig, ihn näher zu bestimmen. Schaut man genauer hin, ergeben sich mehr Fragen als Antworten, wie zum Beispiel: Hatten nicht auch faschistische Diktaturen wie bspw. in Italien ausgeprägte autoritäre Züge? Autoritär sind auch Monarchien, worin besteht da Unterschied zu Diktaturen? Sind nicht alle Diktaturen und andere obrigkeitsstaatliche Herrschaftsformen autoritär? Kann es autoritäre Tendenzen nicht auch in parlamentarischen Demokratien geben?

Es geht nicht schlechthin um Begriffe, sondern um Inhalte; nicht, wie sie subjektiv verstanden und interpretiert werden, sondern um objektive Inhalte wie sie der geschichtlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit entsprechen. Entstehen und Geschichte der DDR sind nur aus dem breiten Fluß der Geschichte des deutschen Volkes, vor allem aus den politischen und sozialen Auseinandersetzungen seit dem Ersten Weltkrieg zu begreifen. Bei den neuen Weichenstellungen 1945 und der Gründung der beiden deutschen Staaten spielten sowohl die Erfahrungen und Lehren der Weimarer Republik und der faschistischen Barbarei (obwohl unterschiedlich interpretiert) als auch die internationale Konstellation der Nachkriegsjahre und nicht zuletzt die Anwesenheit von Besatzungsmächten eine grundlegende Rolle. Trotz des unterschiedlichen Staats- und Demokratieverständnisses entstanden 1949 (und verstanden sich auch in der Folgezeit) die BRD und die DDR als historische Alternativen zur Nazi-Diktatur von 1933 bis 1945.

Die Auseinandersetzung mit der nazifaschistischen Vergangenheit und die daraus gezogenen Konsequenzen waren jedoch in beiden Teilen Deutschlands sehr unterschiedlich. Die von den Alliierten im Potsdamer Abkommen und auch von deutschen Hitlergegnern erstrebte Entnazifizierung wurde im ersten Nachkriegsjahrzehnt in Ostdeutschland ungleich zielstrebiger und radikaler angepackt als in Westdeutschland.

Während im Osten die aus der Nazi-Zeit belasteten Funktionsträger zur Verantwortung gezogen und - mit Ausnahme einiger Militärs - aus dem gesellschaftlichen Leben ausgeschaltet wurden, nahmen sie im Westen erneut einflußreiche Positionen in Staat und Verwaltung (es genügt an Staatsminister Globke und Bundesminister Oberländer zu erinnern), in Wirtschaft, Justiz, Bildungswesen, Polizei sowie in der Bundeswehr ein. Die DDR erschien demzufolge in jener Zeit als glaubwürdigere Alternative zur NS-Diktatur. Daraus erwuchs dem ostdeutschen Staat im starken Maße historische Legitimität und sein Bekenntnis zum Antifaschismus wurde von der Mehrheit seiner Bürger akzeptiert und von vielen auch angenommen. Es waren vornehmlich zwei Entwicklungslinien, die in den Jahren vor und nach der Gründung der DDR deren Ausstrahlung und Ausgestaltung sehr negativ beeinflußten: stalinistische Tendenzen, die sowohl aus den kommunistischen Traditionen der SED als auch von der sowjetischen Besatzungsmacht herkamen und schließlich in der Übernahme des Staatssozialismus-Modells kulminierten, zum einen sowie die Auswirkungen des Kalten Krieges, der seit 1947/48 zwischen den Westmächten und der UdSSR begonnen hatte, zum anderen. Dies hatte zur Folge, daß demokratische Ansätze der Nachkriegsjahre im politischen und gesellschaftlichen Leben, darunter zum Beispiel das Mehrparteien-Verhältnis-Wahlrecht, abgebaut und diktatorische Herrschaftsmethoden verstärkt wurden. Mit der Übernahme und vollen Durchsetzung stalinistischer Parteienstrukturen und -praktiken in der SED nahm das politische System der DDR seit Anfang der 50er Jahre totalitäre Züge an.

Bezeichnenderweise äußerte damals (1951) der Dichter Thomas Mann: "Der Kommunismus hat - das ist die Wahrheit - mit dem Faschismus die totalitäre Staatsidee gemeinsam."18 Im Selbstverständnis der DDR übte deren politisches System die Funktion einer "Diktatur des Proletariats" aus. In offiziellen Dokumenten (so in den Verfassungen von 1968 und 1974) wurde allgemeiner formuliert, daß die DDR ein "sozialistischer Staat" sei, in dem "die Arbeiterklasse und ihre marxistisch-leninistische Partei" die Führung innehabe.19 In Wirklichkeit waren weder die Arbeiterklasse (was immer soziologisch darunter zu verstehen war) noch die SED als Gesamtpartei, verkörpert durch ihre Mitglieder, die tatsächlichen politischen Herrschaftssubjekte, sondern vielmehr die Führungsspitze der SED, vor allem in Gestalt des allmächtigen Politbüros.

Präziser wäre demnach von einer stalinistischen Einflüssen unterliegenden "Diktatur der SED-Führung" zu sprechen, der - im zeitlichen Ablauf unterschiedlich gewichtet und wirksam zentralistisch-bürokratische, autokratische und autoritäre, aber auch totalitäre Komponenten eigen waren. Außerhalb des zentralen Machtapparates existierten individuelle und gesellschaftliche Spielräume, die Eigenverantwortlichkeit zuließen sowie auf regionaler, betrieblicher und örtlicher Ebene partiell demokratische Entscheidungen möglich machten. In dieser differenzierten Weise besitzt die Totalitarismus-Problematik durchaus ihre Bedeutung für die Geschichte der DDR und deren Aufarbeitung.20

Die Realität der DDR war durch ein eigenartiges kontradiktorisches gesellschaftspolitisches Beziehungsgeflecht gekennzeichnet: von proklamierten tatsächlichen oder zumindest so verstandenen sozialistischen Zielsetzungen und in diese Richtung gehenden Maßnahmen und Regelungen auf sozialen, rechtlichen, kulturellen, bildungs- und gesundheitspolitschen und anderen Gebieten; von produktiven Arbeitsleistungen und anderen sinnvollen gesellschaftlichen Aktivitäten großer Teile der Bevölkerung, die jenes Vorgehen billigten oder tolerierten; aber auch von stalinistischen bzw. vom Stalinismus beeinflußten Strukturen, Institutionen sowie Herrschaftspraktiken der politischen Führungskräfte der SED. Das Verhängnis bestand darin, daß das ursprünglich von Marx dem Begriff "Diktatur des Proletariats" unterlegte demokratische Grundprinzip der mehrheitlichen Willensentscheidung und politischen Interessenvertretung der übergroßen Mehrheit des arbeitenden Volkes 21 mit dem Entstehen des Staatssozialismus in Sowjetrußland und später auch in der DDR als Herrschaft von Minderheiten, die sich jeder wirksamen demokratischen Kontrolle entzogen, praktiziert wurde.

Entgegen der Marxschen Intentionen blieben Sozialismus und Demokratie getrennt. Eine wirklichkeitsgerechte Bewertung der DDR-Geschichte erfordert allerdings, "sie weniger an den Maßstäben der Alt-Bundesrepublik Deutschland zu messen, sondern die Tatsache in Rechnung zu stellen, daß die DDR eine Gesellschaft mit eigenen Regeln, Werten und Konfliktregulierungsmechanismen war. Sie auf den Aspekt ihrer diktatorischen Entscheidungsstrukturen zu reduzieren bedeutet, sie als Repressionsstaat zu simplifizieren und zu verkürzen. Die DDR war als Staat und Gesellschaft auch sozialer Vorsorgestaat und zum Teil Solidargesellschaft mit einem spezifischen 'Wir-Gefühl'".22

Resümee Die dargelegten historischen und sozialwissenschaftlichen Betrachtungen lassen den Schluß zu, daß die Totalitarismus-Problematik durchaus ein Thema für die demokratische Linke darstellt. Totalitarismus-Begrifflichkeit und -Auffassung bilden einen brauchbaren weltgeschichtlichen Ansatz für die kritische zeitgeschichtliche Gesellschaftsanalyse im 20. Jahrhundert. Sie gründen auf Erkenntnisse, die aus Jahrzehnte währenden internationalen sozialwissenschaftlichen Forschungen, vor allen strukturellen Vergleichen, hervorgegangen sind, es ist vermessen, dies ignorieren zu wollen. Allerdings ist vor überhöhten Erwartungen und Anforderungen an das Totalitarismus-Konzept zu warnen, es gilt, nüchtern analytisch zu prüfen, was es zu leisten vermag und was nicht. Diverse Vorurteile und Wunschvorstellungen helfen nicht weiter.

Die Totalitarismus-Version sollte weder als eine gesellschaftsanalytische Über-Theorie noch als starrer, in sich abgeschlossener Theorieansatz verstanden und benutzt werden. Es handelt sich vielmehr um ein an der historischen Wirklichkeit orientiertes offenes Erklärungsmodell mit begrenzter Wirksamkeit. In diesem Sinne wären herkömmliche Totalitarismus-Auffassungen kritisch zu überprüfen, zu aktualisieren und zu korrigieren, und zwar nach drei Richtungen hin: in ihrer Historisierung, das heißt einer stets geschichtlich konkreten Anwendung; in ihrer Offenheit gegenüber sachbezogenen Wandlungen in totalitären wie auch nichttotalitären Staaten und Gesellschaften; in ihrer differenzierten Anwendung nicht nur hinsichtlich der Unterscheidung zwischen totalitären und nichttotalitären Gegebenheiten, sondern ebenso zwischen totalitären Erscheinungen und Tendenzen selbst.

In diesem Zusammenhang ist es interessant, einen Blick auf den aktuellen Umgang mit der Totalitarismus-Problematik in linken europäischen Parteien zu werfen. Nach 1989 haben mehrere dieser Parteien jene Begrifflichkeit, die sie früher strikt ablehnten, in ihre programmatischen Aussagen aufgenommen. So kennzeichnete die Kommunistische Partei Italiens (PCI) das "sowjetische Modell" unmittelbar nach seinem Scheitern in Mittelost- und Osteuropa als "bürokratischen Totalitarismus".23

In ihrem Parteiprogramm von 1993 lehnt die Sozialistische Partei der Arbeit Rumäniens (SPA) "jede Diktatur und totalitäre Regime" konsequent ab. Die Partei der Demokratischen Linken der Slowakei (PDL) verurteilt "antidemokratische Extreme von links und rechts". Richtungsweisend vor allem die Aussagen in den Gründungsdokumenten der Koalition der Linken und des Fortschrittes in Griechenland (SYNASPISMOS): "Wir schaffen eine neue, radikale Linke jenseits der traditionellen Sozialdemokratie und des bürokratischen, totalitären ÝSozialismusÝ, eine Linke, die das Dilemma der festgefahrenen historischen Spaltung der linksgerichteten Bewegung überwindet."24

Es fällt auf, daß die angeführten Aussagen von Parteien stammen, deren Länder totalitäre Regime ertragen mußten. Wenngleich die meisten der hier nicht genannten linken Parteien den Totalitarismus-Begriff nicht expressis verbis gebrauchten, setzten sie sich inhaltlich mit den damit korrespondierenden Problemen auseinander, wie zum Beispiel mit der Art und Weise politischer Machtausübung, insbesondere der Machtkontrolle; dem Verhältnis Partei und Staat, der Gewaltenteilung, der Rechtsstaatlichkeit, der Demokratie, dem Pluralismus u.v.m. Nicht zuletzt ist daran zu erinnern, daß auch im Statut der PDS die Totalitarismus-Begrifflichkeit enthalten ist, und zwar im Zusammenhang mit "dem Widerstand gegen totalitäre Diktaturen jeglicher Art".25

Abschließend einige Schlußfolgerungen zur Gesamtthematik:

1. Das von den Gegnern der Totalitarismus-Auffassung immer wieder vorgebrachte Argument, wonach diese Auffassung die Verbrechen und die Schuld des Faschismus dadurch relativiere und verkleinere, indem auch die Verbrechen und die Schuld des Stalinismus benannt werden, trifft auf einen verantwortungsbewußten Umgang mit dem Thema Totalitarismus absolut nicht zu. Es geht ja nicht darum, Schuld und Versagen gegeneinander aufzurechnen, sondern darum, die frappierend ähnlichen, teilweise sogar übereinstimmenden Machtstrukturen, -funktionen und -methoden sowie deren Ursachen und Voraussetzungen schonungslos aufzudecken, damit solche Gefahren und Zustände ein für allemal durch rechtzeitiges und wirkungsvolles Entgegentreten der demokratischen Kräfte verhindert werden. Der ehemalige Buchenwaldhäftling und heutige demokratische Sozialist, der Spanier Jorge Semprun, hat seine diesbezüglichen Lebenserfahrungen, in die knappe Aussage gefaßt: "Wer vom Stalinismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen."26

Dies sollten vor allem jene Linke bedenken, die dazu neigen, die stalinistischen Exzesse in der UdSSR, wie zum Beispiel die Moskauer Schauprozesse 1936/39, verbal zwar zu bedauern, aber diese, nach dem Motto "Der Zweck heiligt die Mittel", lediglich mit revolutionären Übereifer zu erklären versuchen. Ein solches Verhalten unterhöhlt nicht zuletzt die Glaubwürdigkeit linker Faschismus-Kritik.

2. Im Interesse der Sache sollte die demokratische Linke in Deutschland das Problem des "antitotalitären Konsens" neu durchdenken und nicht schlechthin als antisozialistische und antikommunistische Konterbande verdächtigen. Die Angelegenheit hat schließlich etwas mit der politischen Bündnisfrage und der eigenen Bündnisfähigkeit und nicht zuletzt wiederum mit der Glaubwürdigkeit linker Faschismus- und Stalinismus-Kritik zu tun Mitunter wird so getan, als ob der "antitotalitäre Konsens" den für Linke unaufgebbaren Begriff und Wert des Antifaschismus negieren oder gar ausschließen würde. Hier ist mit Nachdruck auf jene Stellen des Vortrages zu verweisen, in denen auf die antifaschistische Komponente in der Totalitarismus-Auffassung eingegangen wurde und die vor allem im Widerstand gegen das Naziregime wirksam geworden ist. Haben wir es hier nicht mit einer positiven Tradition zu tun? In der konkreten historischen wie aktuellen Auseinandersetzung mit faschistischen Regime und Bewegungen wird der Gegenbegriff immer "Antifaschismus" sein und bleiben.

3. Ein weiteres Problem, das die demokratische Linke gründlicher durchdenken und konstruktiver beantworten sollte, betrifft die Pluralismus-Auffassung. Vornehmlich für die PDS wäre es notwendig, ihr Pluralismus-Verständnis genauer zu bestimmen, und zwar sowohl hinsichtlich der innerparteilichen, insbesondere programmatischen Entwicklung, als auch in Bezug auf ihr öffentliches Wirken in Politik und Gesellschaft. Das Problem im Zusammenhang mit unserem Thema zu Ende gedacht, führt zu der Erkenntnis, daß der politische und weltanschauliche Gegenpol zum Pluralismus der Totalitarismus ist.

4. Da unser Herangehen an die Totalitarismus-Problematik kritisch ist, gilt es, neben ihren akzeptablen Seiten zugleich auch ihre Erkenntnisgrenzen und andere Schwächen sichtbar und bewußt zu machen. Keine Meinungsverschiedenheit kann es unter Linken darüber geben, daß in jedem Falle, wenn "Totalitarismus" als politischer Kampfbegriff zur Gleichsetzung von Faschismus und Sozialismus, von Hitlerdeutschland und DDR gebraucht wird, dem entschieden entgegenzutreten ist. Der fundamentale Kritikansatz in der Auseinandersetzung mit den Totalitarismus-Auffassungen bildet die Tatsache, daß sie und ihre Begrifflichkeit nicht in der Lage sind, die qualitativen Unterschiede zwischen den als totalitär gekennzeichneten Erscheinungen zu erfassen. Damit werden zwangsläufig die divergierenden konkret-historischen Bedingungen und Ursachen des Entstehens, der Triebkräfte und Zielsetzungen der zu vergleichenden diktatorischen Herrschaftssysteme außer acht gelassen. Die als totalitär charakterisierten Erscheinungen werden nicht in ihrer geschichtlichen Veränderung, sondern statisch gesehen. Es geht um einen differenzierenden Umgang mit der Vergangenheit, in dessen Ergebnis die Aktenberge Mielkes nicht die Berge von Leichen in den Konzentrationslagern Hitlers oder gar den Holocaust vergessen machen dürfen.

5. Die Totalitarismus-Problematik erweitert und vertieft unsere Erkenntnis- und Auseinandersetzungsfähigkeit nicht nur mit der Vergangenheit, sondern auch in bezug auf totalitäre Gefahren, die permanent in der modernen Industriegesellschaft und der pluralistischen Demokratie gegeben sind, und die sich gegenwärtig vor allem in den zunehmend rechtsextremen und rassistischen Aktivitäten in verschiedenen europäischen und außereuropäischen Ländern zeigen. Einen Sonderfall dürfte Rußland mit seinen faschistoiden Tendenzen darstellen.

6. Die meisten Linken haben nicht zuletzt deshalb Vorbehalte gegen die Totalitarismus-Version, weil sie meinen, jene würde das bürgerlich-parlamentarische System als die einzige Alternative erscheinen lassen und rechtfertigen. Das ist jedoch ein Mißverständnis. Zwar trifft zu, daß sich bislang tatsächlich der Parlamentarismus der entwickelten Industrieländer gegenüber allen totalitären bzw. zum Totalitarismus tendierenden Formen der politischen Machtausübung als überlegen erwiesen hat, aber dabei darf nicht übersehen werden, daß eine echte demokratisch-sozialistische Alternative zum Kapitalismus im Geschichtsverlauf noch nicht verwirklicht werden konnte. Die sozialistische Linke hat dazu ihre Chance in einem dritten Weg zum demokratischen Sozialismus. Der Autor sieht keine Gefahr, daß die kritische Auseinandersetzung mit der Totalitarismus-Problematik diesem Bestreben schaden könnte - im Gegenteil.



© Gerhard Lozek, Berlin 1995





1 Vgl. Ernst Wurl, Die "SED-Diktatur". Überlegungen im Kontext einer Kritik des Begriffs aus dem Bericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages, in: Ansichten zur Geschichte der DDR, Bd.V, hrsg. von Jochen Czerny, Dietmar Keller und Manfred Neuhaus, Bonn/Berlin 1994, S. 99ff. - Derselbe, Die Geschichte der DDR - die Crux von Erleben, Politik und Wissenschaft, in: Utopie kreativ, Berlin, H. 53, März 1995, S. 27ff. - Reinhard Mocek, Was war die DDR-Philosophie? Was bleibt von ihr? In: Neues Deutschland, 4./5. Februar 1995. - Ulrich Huar, Der Totalitarismus-Begriff bei Hannah Arendt, in: Marxistische Blätter, Essen, H. 1-95, S. 71ff. - Anke Borggräfe/Kai Schmidt-Soltau, über die Schlechtigkeit des Totalitarismus und das Märchen von der demokratischen Alternative, in: Hintergrund. Marxistische Zeitschrift für Gesellschaftstheorie und Politik, Osnabrück, I-95, S. 36ff. Charakteristisch für die frontale Ablehnung: Uwe-Jens Heuer, Totalitarismus - Karriere eines Begriffs, in: Marxistische Blätter, H. 3-95, S. 62ff.

2 Vgl. dazu Brigitte Hering, Die Crux der Kategorien, in: Neues Deutschland, 24.März 1995. - Werner Röhr, Die Wissenschaft und die Totalitarismusdoktrin, in: Ebenda, 28. April 1995.

3 Zitiert nach Jens Petersen, Die Entstehung des Totalitarismusbegriffs in Italien, in: Manfred Funke (Herausgeber), Totalitarismus. Ein Studien-Reader zur Herrschaftsanalyse moderner Diktaturen, Düsseldorf 1978, S.123.

4 Ebenda, S. 109.

5 Vgl. Antonio Gramsci, La costruzione del partito communista, 1923-1926, Turin 1971, S. 486.

6 Carl Schmitt, Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar-Genf-Versailles, 1923-1939, Tübingen 1940, S. 236.

7 Max Horkheimer, Die Juden und Europa, in: Zeitschrift für Sozialforschung (Paris), 1939, H. 1/2, S.115.

8 Rudolf Hilferding, über den Sinn des Krieges, in: Neuer Vorwärts (Paris), 31. Dezember 1939.

9 Vgl. Karl Raimund Popper, The open Society and ist enemies, London 1944.

10 Vgl. Walter Eucken, Grundlagen der Nationalökonomie, Jena 1941.

11 Ausgabe Frankfurt 1955, S. 8 f.

12 Ebenda, S. 418

13 Vgl. die seit 1993 vornehmlich vom Hamburger Institut für Sozialforschung angeregte Diskussion um Totalitarismus und Modernisierung in der Institutszeitschrift "Mittelweg", insbes. H. 2-93.

14 Deutscher Bundestag, 12. Wahlperiode, Drucksache 12/7820 vom 31.05.94, S. 5f., 18ff., 281ff.

15 Vgl. Dietmar Keller, Minderheitenvotum der PDS zum Bericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland", in: Ansichten zur Geschichte der DDR. Herausgegeben von Dietmar Keller, Hans Modrow und Herbert Wolf, Band IV, Bonn/Berlin 1994, S. 9 ff.

16 Ebenda, S. 48.

17 Ebenda, S. 61, ähnlich S. 51.

18 Zitiert nach: Wilfriede Otto, Neues Unrecht begangen, um altes zu sühnen, in: Neues Deutschland, 4./5. Mai 1991.

19 Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 6. April 1968 in der Fassung des Gesetzes zur Ergänzung und Änderung der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Oktober 1974, Berlin 1976, S. 9.

20 Vgl. dazu neuere sozialwissenschaftliche Arbeiten von Autoren unterschiedlicher Richtungen: Arnold Sywottek, "Stalinismus" und "Totalitarismus" in der DDR-Geschichte, in: Deutsche Studien, H. 117/118-93, S.25ff.; Eckhard Jesse, War die DDR totalitär? In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 40-94, S. 12ff.; Wolfgang-Uwe Friedrich, Bürokratischer Totalitarismus - Zur Typologie des SED-Regimes, in: German Studies Review, Sonderheft 1994, S. 1ff.; Ralph Jessen, DDR-Geschichte und Totalitarismus-Theorie, in: Berliner Debatte INITIAL, H. 4/5-95, S. 17ff.; Gert-Joachim Glaeßner, Das Ende des Kommunismus und die Sozialwissenschaften. Anmerkungen zum Totalitarismusproblem, in: Deutschland Archiv, H. 10-95, S. 920ff.

21 Von der Annahme ausgehend, daß die Arbeiterschaft einmal die Bevölkerungsmehrheit sein würde, erblickten Karl Marx und Friedrich in der Arbeiterbewegung die "Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl", MEW, Bd. 4, S. 473; weiterhin vgl. ebenda, Bd. 3, S. 74, Bd. 4, S. 317, 372, 482, 492f. nach dem Tode von Marx bezeichnete Engels die demokratische Republik als "die spezifische Form für die Diktatur des Proletariats", ebenda, Bd. 22, S. 234f.

22 Sondervotum von Dr. Dietmar Keller, in: Deutscher Bundestag, Drucksache 12/7820, S. 250ff.

23 Zitiert nach: Die italienischen Kommunisten. Bulletin der PCI für das Ausland, Nr. 4, Oktober-Dezember 1990, S. 67.

24 Alle Passagen zitiert nach: controvers. Internationale linke Parteiprogramme. Eine Dokumentation. herausgegeben von der Grundsatzkommisssion der PDS, Berlin o.J. (1994), S. 59, 66.

25 Statut der Partei des Demokratischen Sozialismus, Präambel, in: Berliner Linke, Beilage vom 3. Juli 1991 "Beschlußdokumente des 2. Parteitages".

26 Zitiert nach "Neues Deutschland" vom 10. Oktober 1994. Semprun war in den 50er Jahren Mitglied des Politbüros der KP Spaniens, 1964 wurde er wegen "eurokommunistischen Abweichungen" verstoßen und (auch in der DDR) als Revisionist und Renegat tituliert; 1988 holte ihn der spanische Sozialist Gonzales als Kultusminister in sein Kabinett.



* Bearbeitetes Manuskript eines am 28. März 1995 im Berliner Verein "Helle Panke" gehaltenen Vortrages.








 

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