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Hartmut Krauss
Stalinismusdiskussion ohne Begriff?
Oder Verweigerung einer begreifenden Analyse des Stalinismus?
Die Beantwortung der Frage 'Was ist Stalinismus' ist heute -
nach dem Zerfallsprozeß des 'realen Sozialismus' sowie seiner
zahlreichen, oftmals gegensätzlichen (Miß-)Deutungen - für die
Identitätsgewinnung und zukünftige Orientierung der
geschrumpften und sich erneuernden marxistischen Bewegung von
herausragender Bedeutung. Wurzelt der Stalinismus in den Ideen
von Marx, Engels und Lenin und ist seinem Wesen nach nichts
anderes als deren konsequente Systematisierung und Anwendung
unter konkret-historischen Bedingungen? Oder aber ist der
Stalinismus als geistig-moralische und gesellschaftsstrategische
Negation der wissenschaftlichen und humanistischen Fundamente
des Marxismus anzusehen? Stalinismus = Evolution des Marxismus
oder Stalinismus = Liquidation des Marxismus? Von der Antwort
wird entscheidend die zukünftige Lebensfähigkeit des
kritisch-revolutionären Marxismus als wissenschaftliche Theorie
und als "praktisch-kritische" Bewegung abhängen.
Eine Antwort auf diese Frage wird man aber schwerlich finden,
wenn man vordergründig die bisweilen unscharfe Verwendung des
Stalinsmusbegriffs bekrittelt bzw. die Binsenwahrheit
wiederholt, daß es bis heute keine allgemein anerkannte
"Stalinismus"-Definition gibt. Dabei bleiben nämlich folgende
entscheidenden Aspekte ausgeblendet:
1) Die Verwendung des Terminus "Stalinismus" wurde bis in die
jüngste Vergangenheit in der kommunistischen Bewegung ebenso
verpönt und ausgegrenzt, wie eine umfassende Analyse des damit
bezeichneten Phänomens tabuisiert wurde. Es handelt sich
folglich in erster Linie um eine selbstverschuldete "Verwirrung".
2) Es wird so getan, als gäbe es nicht schon seit längerer Zeit
beachtliche wissenschaftliche Stalinismusanalysen auf
marxistischer Grundlage. So z.B. die Arbeiten von Georg Luk cs
(Sozialismus und Demokratisierung), Leo Kofler (Stalinismus und
Bürokratie) und Werner Hofmann (Stalinismus und Antikommunismus)
sowie die Stalin-Biographie von Isaac Deutscher.
Eine kritisch-materialistische Analyse und Bewertung des
Stalinismus hat von vornherein folgende erkenntnishemmenden
Vor-Urteile in Rechnung zu stellen:
1.) Die Leugnung des Stalinismus als real-eigenständiges
Phänomen und damit die Ablehnung/Verketzerung des Begriffs
'Stalinismus'. Typisch hierfür ist folgende
orthodox-kommunistische Position, die als richtungsweisende
Denknorm auch heute noch nachwirkt: "Wenn man seine (Stalins,
H.K.) theoretischen Arbeiten nüchtern prüft, so kann man
sicherlich Vereinfachungen, auch manche Dogmatisierung der
Theorie von Marx, Engels und Lenin feststellen, mehr noch
freilich wird man mit seinem Wirken auch wichtige Beiträge zur
Bereicherung bestimmter Seiten dieser Theorie finden, aber einen
eigenen 'Stalin-Ismus' gibt es nicht. Im Ganzen gesehen ist das
theoretische Wirken Stalins als marxistisch-leninistisch
einzuschätzen" (Steigerwald).
Diese orthodox-kommunistische 'Rehabilitierung' Stalins als
'bereichernder' Marxist-Leninist 'bedient' wiederum die
bürgerlich-konservative Gleichsetzung von Sozialismus =
Marxismus/Leninismus = Stalinismus. Insbesondere die formale
(pseudo-)marxistische Artikulation Stalins und seiner
Gefolgschaft, die von den orthodoxen Kommunisten wie den
bürgerlichen Konservativen für bare Münze genommen wird, dient
der "modernen" Marxismus-Kritik als willkommener Vorwand, eine
geistig-praktische Kontinuitätslinie zwischen Marx, Engels,
Lenin und Stalin zu behaupten; was einem späten Triumph der
Stalinschen Selbstbeweihräucherung gleichkommt. So behauptete
der ehemalige sozial-liberale Souffleur Gorbatschows, W.
Daschitschew in einer Talk-Show am 27.01.1991 mit lapidarer
Arroganz, daß die (nicht näher bezeichneten) sowjetischen
Politikwissenschaftler zu dem Schluß gekommen seien, daß
zwischen Lenin und Stalin kein Unterschied existiere.
2.) Die Deformierung des Stalinismus-Begriffs zu einer
emotionsbeladenen, rein assoziativen Etikettierung, die jeder
unerfreulichen Erscheinung in den ehemaligen
'real-sozialistischen' Ländern undifferenziert angeheftet wird
und einem begreifenden Reflektieren kontraproduktiv
entgegensteht. Diese semantische Aushöhlung des
Stalinismus-Begriffs dient dann wiederum anderen als
Alibigrundlage dafür, die theoretische und praktische
Durchdringung von 'realem Sozialismus' und Stalinismus in Abrede
zu stellen bzw. relativierend zu verdunkeln. Wer den
Stalinismus-Begriff verwendet, gerät sofort in den Verdacht des
Populismus, der Voreingenommenheit und des Antikommunismus.
3.) Die reduktionistische Ausdünnung des Stalinismus-Begriffs in
Verbindung mit einer nachhaltigen Verharmlosung der schädlichen
Auswirkungen der Tätigkeit Stalins und seiner Gefolgschaft. So
wird 'Stalinismus' in der geistigen Tradition des XX.
Parteitages der KPdSU (1956) auf 'Personenkult' und 'Verletzung
der sozialistischen Gesetzlichkeit' reduziert und von dieser
verengten Sichtweise ausgehend behauptet, das über 30 Jahre
währende Regime Stalins habe das Wesen der "sozialistischen
Gesellschaftsordnung" unverändert gelassen. Diese Auffassung war
noch bis weit in die 80er Jahre autorisierte Standardmeinung
renomierter sowjetischer Historiker und
Gesellschaftswissenschaftler: "Die Verstöße gegen die Leninschen
Normen des Partei- und Staatslebens vermochten jedoch trotz
aller schwerwiegenden Folgen nicht, den Charakter der
sozialistischen Gesellschaft, der ideologischen, politischen und
organisatorischen Grundlagen des Wirkens der Kommunistischen
Partei zu verändern" (Die internationale Arbeiterbewegung, Bd.5,
1985, S. 64). Auch Judick/Steinhaus verharrten noch 1989
ungebrochen in dieser Sichtweise: "KPdSU und Sowjetmacht
erfuhren zeitweise schwerwiegende Deformationen, ihr
progressives, revolutionäres Wesen blieb jedoch im Kern
erhalten".
In Abgrenzung zu diesen hier nur knapp skizzierbaren
Auffassungen ist davon auszugehen, daß die Ausarbeitung eines
kritisch-marxistischen Stalinismusbegriffs eine unverzichtbare
Aufgabe im Interesse der Selbsterneuerung des Marxismus sowie
der Wiederherstellung seiner Überzeugungsfähigkeit und
Ausstrahlungskraft darstellt. Angeknüpft werden kann hier
insbesondere an die bereits erwähnten stalinismuskritischen
Analysen von W. Hofmann, L. Kofler und G. Luk cs sowie an eine
Reihe neuerer Arbeiten von Philosophen, Historikern und
Gesellschaftswissenschaftlen aus der ehemaligen UdSSR (z.B.
Butenko, Danilow, Wolobujew, Plimak u.a.).
Angesichts der aktuell verstärkten Bemühungen, den Zusammenbruch
der stalinistisch geprägten Regime 'assoziativ' in einen
Bankrott der Ideen von Marx, Engels und Lenin zu überführen,
gehe ich von einem entgegengesetzten Stalinismus-Verständnis
aus: Der Stalinismus ist ein mit der Wirkungsperiode I.W.
Stalins sich formierendes und zu überdauernder Reproduktion
fähiges System der Entstellung, Dogmatisierung und
Vulgarisierung der Theorien von Marx, Engels und Lenin, das als
legitimatorische Grundlage für eine deformierte/deformierende
Strategie des vorgeblichen Aufbaus des Sozialismus sowie der
Tätigkeit der kommunistischen Partei fungiert. D.h.: Der
Stalinismus verkörpert einen spezifisch-eigenständigen,
geistig-praktischen Wirkungszusammenhang bzw. ein 'organisches'
Tätigkeitssystem, das gesellschaftsstrukturell
vergegenständlicht in Erscheinung tritt. Er ist folglich sowohl
als ideologisches Phänomen als auch als gesellschaftliches
System zu rekonstruieren. Eine zentrale Besonderheit des
Stalinismus ist darin zu sehen, daß er sein antimarxistisches
Wesen durch promarxistische Bekenntnistreue und entsprechende
Artikulationsformen verhüllt.
Eine ähnliche Stalinismusauffassung formulieren Firsow/Schirinja
(1990, S. 9): "Der Stalinismus ist ein ganzes System von
Deformationen und Entstellungen im ideologisch-theoretischen
Bereich und solcher politischen Methoden, die zur Abweichung von
den Prinzipien der Demokratie, des Kollektivismus und des
Internationalismus, zur Durchsetzung von Diktat und Willkür und
letztlich zu Verbrechen führten. Der Stalinismus verzerrt und
verwirft faktisch den humanistischen und demokratischen Gehalt
des Marxismus-Leninismus. Durch enge, in vieler Hinsicht direkt
falsche Auslegung des Klasseninteresses ist er auf gewaltsame,
repressive Methoden, auf ein bürokratisches Kommandosystem in
der Leitung und auf straffe Zentralisierung ausgerichtet. Er
stellt damit eine Abkehr vom Marxismus-Leninismus und eine
Revision seiner grundlegenden Ideen und Prinzipien dar."
Wolkogonow (1989, S. 22) stellte zunächst noch fest: "Der
Stalinismus ist meines Erachtens ein Synonym für die
Pervertierung der Theorie und Praxis des wissenschaftlichen
Sozialismus. Diese Pervertierung zeigt sich vor allem in der
Entfremdung der werktätigen Massen von der Macht, in der
Ausuferung der Bürokratie und in der Festigung dogmatisierter
Klischees im gesellschaftlichen Bewußtsein."
Wodolasow (1990, S. 206) schreibt: "Der reife, entwickelte
Stalinismus, wie er sich Mitte der 30er Jahre herausbildete, ist
eine antihumanistische, voluntaristische Ideologie einer
bürokratischen Elite, die die Gewalt in allen ihren Hypostasen
verabsolutiert und verherrlicht. Das ist sein ideologisches
Wesen. Und als System der sozialpolitischen Verhältnisse ist der
Stalinismus eine Diktatur der Bürokratie in ihren
barbarischsten, schrecklichsten Formen."
Zweifellos kommt der Rekonstruktion der subjektiven
Handlungslogik unter stalinistischen Gesellschaftsbedingungen
und der ihr entsprechenden Lebensformen eine bedeutende Rolle
zu. Allerdings ist zwischen dem Stalinismus als
gesellschaftlichem (materiellen und ideellen)
Aneignungsgegenstand/Anforderungzusammenhang und der subjektiven
Übernahme stalinistisch geprägter Denk- und Handlungsnormen,
Sichtweisen, Werten etc. in definitorischer Hinsicht deutlich zu
unterscheiden. Insofern wäre nicht von "Stalinismus als
Lebensform", sondern von subjektiv begründeter Lebenstätigkeit
unter stalinistischen Systembedingungen zu sprechen. Damit wäre
dann das spannende Projekt einer "Sozialpsychologie des
Stalinismus" angerissen. (Auch hier gibt es bereits Vorarbeiten,
so z.B. von Kon, Saslawskaja, Olschanskij, Kotschubej u.a.)
Die historisch-analytische Rekonstruktion der Entstehung,
Festigung und 'Ausdifferenzierung' des Stalinismus als
nichtfatalistisches geschichtliches Phänomen muß m.E. im Lichte
des Ziel-Mittel-Widerspruchs in der Entwicklung Sowjetrußlands
erfolgen. Dabei gilt es vor allem die Gegensätzlichkeit bzw. den
strategischen Bruch zwischen Lenin und Stalin herauszuarbeiten.
Während Lenins Verarbeitung dieses Widerspruchs zum
strategischen Entwurf einer 'Zwischen'- bzw. 'Übergangsperiode'
zwecks Schaffung der 'zivilisatorischen Voraussetzung' für den
Aufbau des Sozialismus führt, läuft Stalins
Verarbeitungsvariante auf die voluntaristische Überwindung der
Not-Wendigkeit einer 'Übergangsperiode' durch systematische
Anwendung von Gewalt-, Terror- und Kommandomethoden hinaus, die
als 'sozialistische Prinzipien' verabsolutiert und zugespitzt
werden ("Mechanismus des permanenten Bürgerkriegs"). Dieser
qualitative Bruch gilt auch für die revolutionäre
Gewaltanwendung bei Lenin ("Roter Terror") als erzwungene
Notwehrmaßnahme einerseits und dem stalinistischen Terror als
Mittel zur Etablierung eines neuen Herrschaftssystems
andererseits. (Vgl. hierzu ausführlich den folgenden Beitrag
sowie den dreiteiligen Aufsatz des Verfassers: Lenin als
Wegbereiter Stalins? In: HINTERGRUND 3/91-1/92.)
Beachtlich ist die Art und Weise, wie neodogmatische Kräfte aus
den Reihen der Kommunistischen Plattform der PDS in engem
Schulterschluß mit Vertretern der DKP das Verhältnis von
Stalinismus und Antikommunismus verzerren und auf den Kopf
stellen. Anstatt nämlich die Stalinismuskritik als verdeckten
Antikommunismus zu denunzieren, gilt es vielmehr den Stalinismus
als effektivste Form des Antikommunismus zu begreifen und z.B.
endlich unumwunden anzuerkennen, daß Stalin der größte
Kommunistenschlächter dieses Jahrhunderts gewesen ist. In dieser
Hinsicht ist Michael Schneider ausdrücklich beizupflichten, der
in seinem Buch "Das Ende eines Jahrhundertmythos" folgendes
feststellt: "Daß im Namen des Kommunismus die Führung der Partei
blanken Antikommunismus betrieb und längst in die Hände von
Kriminellen und Konterrevolutionären übergegangen war, dies war
für die sowjetische Öffentlichkeit und die kommunistische
Weltbewegung deshalb kaum zu durchschauen, weil es eine von
erklärten Kommunisten und 'Marxisten-Leninisten' geführte
Konterrevolution unter dem Schutz der Roten Fahne war. Das
klingt paradox; aber die Paradoxie löst sich auf, wenn man
zwischen dem, wofür sich eine Parteiführung hält, und dem, was
sie tut, unterscheidet".
© Hartmut Krauss, Osnabrück 1994
(Der Vortrag wurde auf der ersten Konferenz des
Arbeitskreises kritischer Marxistinnen und Marxisten,
Dezember 1994 gehalten.)


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