GLASNOST Berlin - Hartmut Krauss: Anmerkungen zu einer praxisphilosophisch fundierten Offensive für eine erneuerte kritische Emanzipationswissenschaft
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Hartmut Krauss

Anmerkungen zu einer praxisphilosophisch fundierten Offensive für eine erneuerte kritische Emanzipationswissenschaft

Überarbeiteter Diskussionsbeitrag zur Konferenz "Das PRAXIS-Konzept im Zentrum gesellschaftskritischer Wissenschaft" am 13./14. Februar 2004 in Nürnberg

I. Der Epochenumbruch von 1989/1991 war und ist mit einer gravierenden geistig-politischen Regression verbunden. Unter den Trümmern des "Realsozialismus“, so lautet die suggestive Botschaft der spätbürgerlichen "Zeitgeistmonteure“, liege mitsamt der kommunistischen Bewegung auch die von Marx und Engels begründete Befreiungstheorie. Darüber hinaus wird aber auch das gesamte progressive Sozialerbe seit der Aufklärung defätistisch umgedeutet, in das undifferenzierte "Schwarzbild des Kommunismus"hineingezogen und - zumindest tendenziell - zum Vorläufertum des "Gulag"erklärt. Wer sich diesem neoliberalen/postmodernen Zeitgeist auf nonkonforme Weise zu entziehen gedenkt, der wird mit der latenten Drohung der "Exkommunikation"aus politischen, akademischen, kulturellen etc. Diskursen konfrontiert, im Falle von unbotmäßigem Beharren marginalisiert und so schließlich domestiziert.

Der Kerninhalt dieser regressiven Hegemonie liegt in der verfälschenden Umdeutung des Niedergangs des "Realsozialismus"in das endgültige Scheitern kapitalismustranszendierender Theorie und Praxis, während mit der Theorie von Marx und Engels zugleich das unverzichtbare wissenschaftlichen Fundament ‚moderner‘ emanzipatorischer Gesellschaftskritik entsorgt werden soll. Wer sich mit diesem variantenreich zelebrierten "Ende der Geschichte"nicht abfinden will und angesichts der ungebrochenen globalen Krisenrealität nach wie vor eine progressive Gesellschaftsveränderung anstrebt, der muß sich mit dieser dominanten weltanschaulich-politischen Konstellation kritisch-systematisch auseinandersetzen und sich illusionsfrei der Tatsache stellen, daß - trotz punktuell-spontaner Unzufriedenheit der Beherrschten - ein festgefügter weltanschaulicher Grundkonsens zwischen bürgerlich-triumphalistischer (fortschrittsdefätistischer) Ideologie und erscheinungsfixiertem Alltagsbewußtsein existiert. Angesichts dieser ‚Hegemonialkonstellation‘ gibt es momentan nichts Praktischeres als die Erarbeitung von inhaltlichen und institutionellen/medialen Voraussetzungen für die Artikulation kritischer/konsensauflösender Wirklichkeitsinterpretationen in Verbindung mit dem Aufzeigen konkreter systemtransformatorischer Handlungs- und Problemlösungsperspektiven. Gesellschaftskritisch gemeinte Aktivitäten, die auf eine explizite Konfrontation mit diesem hegemonialen, aus der Gleichsetzungsthese abgeleiteten ‚Fortschrittsdefätismus‘ meinen verzichten zu können, sind letztlich aufgrund ihres ‚bewußtseinsabstrakten‘ bzw. unvermittelt-pseudokonkreten Herangehens zum Scheitern verurteilt.

II. Das Werk von Marx und Engels ist in seinem Kernbestand das herausragende Resultat der geistigen Verarbeitung der folgenden dialektischen Konstellation:

a) des widersprüchlichen Formierungs- und Bewegungsprozesses der bürgerlich-(industrie-)kapitalistischen Gesellschaft im Lichte seiner Auswirkungen auf die ‚Gattungspotenzen‘ der vergesellschaftetetn Menschen vermittels

b) der selektiv-kritischen Auseinandersetzung mit dem zeitgenössisch vorgefundenen problemrelevanten Ideenmaterial insbesondere philosophischer (Hegel, Junghegelianer, Feuerbach etc.), ökonomischer (klassische englische Nationalökonomie) und politischer (utopischer Sozialismus, "Arbeiterkommunismus“, Anarchismus etc.) Provenienz in der Perspektive

c) der praktischen Revolutionierung der "emanzipationswidrigen"(die menschlichen Gattungspotenzen fesselnden) gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse.

Die Einheit von kritisch-wissenschaftlicher (begreifender) Wirklichkeitsanalyse und gesellschaftsverändernder (eingreifender) Praxis ergibt sich demnach aus dem fundierenden revolutionär-humanistischen Grundcharakter dieser Konzeption. Die humanistische, d. h. aus der Perspektive der unterdrückten menschlichen Gattungspotenzen geübte Kritik der bestehenden Verhältnisse verlangt nach einer radikalen Überwindung dieser existierenden Unmenschlichkeit, also nach einer grundlegenden Revolution. Andererseits erfordert die Revolution, will sie nicht auf halbem Wege stehen bleiben, die Schaffung einer wirklich menschlichen Gesellschaft, also eine radikale Humanisierung. Das bedeutet, "daß sowohl der wahre Humanismus ohne eine revolutionäre Haltung wie die wahre Revolution ohne Humanismus unmöglich ist. Der revolutionäre Humanismus ist der einzig vollkommene Humanismus und die humanistische Revolution ist die einzig wahre Revolution. Der revolutionäre Humanismus und die humanistische Revolution sind also im Wesen eins"(Petrovic 1973, S. 84).

In diametralem Gegensatz zum herrschaftsapologetischen Essentialismus der "negativen"Anthropologie, die den Menschen als zur Unfreiheit, Herrschaftlichkeit, irrationalen Getriebenheit etc. verdammtes Wesen hypostasiert, behauptet die Marxsche Konzeption keine ahistorisch-konstante, apriorisch festgelegte Eigenschaftsstruktur des Menschen als dessen "unveränderliches"und sich "naturgesetzlich"realisierendes ‚Wesen’. Entsprechend sistiert sie mit dem Begriff des "menschlichen Gattungswesens"nicht etwa ein fixes Ensemble von Beschaffenheitsmerkmalen, sondern reflektiert die gattungsspezifisch gegebene Potentialität zu (herrschafts-)freier Selbstvergesellschaftung.

Diese fundamental kritische, d. h. revolutionär-humanistische Substanz der Marxschen Theorie manifestiert sich prägnant im kategorischen Imperativ "alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist"(Marx). Auf dieser Grundlage erfaßt das kritisch-marxistische Denken die gesellschaftliche Wirklichkeit unter dem Aspekt der Historizität, also mit Blick auf deren Gewordenheit, Widersprüchlichkeit, Vergänglichkeit und Überwindungsnotwendigkeit. Damit ist die Marxsche Theorie in ihrer ursprünglichen Gestalt Kritik antagonistischer Herrschaftsverhältnisse par exellence; dabei stets um das Aufdecken der objektiven und subjektiven Voraussetzungen und Möglichkeitsbedingungen der menschlichen Emanzipation bemüht. Die Marxsche Theorie wäre demnach als inhaltlich (begrifflich-methodisch) entwickeltste Gestalt der kritischen Vernunft in der bürgerlich-kapitalistischen Epoche der antagonistischen Zivilisation zu kennzeichnen. Ihr Signum ist die Begründung der historisch-transitorischen Überwindungsnotwendigkeit und -möglichkeit der kapitalistischen sowie generell jeder herrschaftlichen Vergesellschaftungsweise. Dabei ist ihr zentrales Orientierungsprinzip das Aufdecken und geistig-praktische Verarbeiten von realen Widersprüchen, d. h. ihr materialistisch-dialektisches ‚Herangehen‘. Nur so kann ihr "die kritische Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der wirklichen gesellschaftlichen Bewegung"(Marx) gelingen.

Demnach wäre die von Marx und Engels kreierte emanzipatorische Wissenschaftskonzeption in allgemeiner Form zu kennzeichnen als Theorie der Genese, Bewegung und Aufhebung der gesellschaftlich-historischen Widersprüche in radikal-humanistischer Perspektive. Dabei ist sie selbst zu begreifen als Produkt der subjektiven, geistig-praktischen Verarbeitung jener konkret-historischen Widerspruchskonstellation, in die Marx und Engels biographisch hineingestellt waren und die sie vermittels der ihnen zugänglichen geistigen Quellen (Bedeutungen, Theorien, Erkenntnisse etc.) sowie praktisch-politischen Erfahrungen zu bewältigen vermochten.


III. Im Gegensatz zu objektivistischen, ‚anti-humanistischen und ökonomistischen Lesarten stehen die tätig-lebendigen, konkret-historisch vergesellschafteten und sich widersprüchlich reproduzierenden Menschen im Zentrum der Marxschen Werkes. In seiner Perspektive vollzieht sich die materielle, durch gesellschaftliche Arbeit vermittelte Lebensreproduktion in einem konkret-historischen Geflecht von Beziehungsformen, die die vergesellschafteten Menschen untereinander eingehen, tradieren, reproduzieren und verändern. Insbesondere mit der Teilung der Arbeit wird ein System antagonistischer zwischenmenschlicher (Herrschafts-)Verhältnisse erzeugt, das in jeweils formationsspezifischer Konfiguration in Erscheinung tritt. Als Wirkungsresultat dieses antagonistisch konstituierten Tätigkeitssystems und als Bewegungs- und Austragungsform der damit gesetzten zwischenmenschlichen Widersprüche bildet sich die "revolutionäre”, "praktisch-kritische” Tätigkeit als menschliche Praxisform sui generis. Die "Selbstzerrissenheit"und das "Sich-selbst-Widersprechen” der antagonistischen menschlichen Gemeinwesen in ihrer jeweiligen historischen Konkretion ruft demnach einen eigenständigen Verarbeitungsmodus hervor, der gesellschaftskritisches Denken (in jeweils historisch limitierter Form) und widerständig-eingreifendes Handeln verbindet: Denn die "Selbstzerrissenheit” der antagonistischen Gesellschaftsform muß "erstens in ihrem Widerspruch verstanden und sodann durch Beseitigung des Widerspruchs praktisch revolutioniert werden”. (MEW 3, 534) Die gegenständliche Lebenstätigkeit der vergesellschafteten Menschen erschöpft sich folglich nicht in konstitutiven Akten erweiterter Selbstreproduktion (gesellschaftliche Arbeit als je formationsspezifisch organisierte kollektive Einwirkung auf die Natur). Sie umfaßt als weitere wesentliche Dimension eben jene gesellschaftsverändernde "praktisch-kritische” Tätigkeit, die in Gestalt konkret-historisch organisierter kollektiver Praxis ("Geschichte der Klassen- und sozialen Interessenkämpfe”) auf die progressive Umwälzung der gesellschaftlichen Regulierungsform des Stoffwechselprozesses mit der außermenschlichen Natur abzielt. Im Rahmen dieser spezifisch-menschlichen Tätigkeitsdimension entsteht nun eine diskrete Vergegenständlichungs-/Aneignungslogik, die als "revolutionäres Sozialerbe” gekennzeichnet werden kann: In dem Maße, wie Teile der beherrschten und ausgebeuteten Volksmassen den "widerständigen” Kampf gegen die unterdrückenden Gewalten aufnehmen und sich damit als "praktisch-kritisches” Subjekt formieren, schaffen und reproduzieren sie ein spezifisches Bedeutungsensemble, das als tradierbare "Zweite Kultur” die Möglichkeit kritisch-kämpferischer Subjektentwicklung initiiert und fundiert. In inhaltlicher Hinsicht umfaßt diese (geschichtlich evolvierende spezifische) Kulturform eine komplex strukturierte Totalität klassenspezifischer multiphänomenaler Bedeutungen: Bücher, Flugschriften, Pläne, Programme, Bilder, Lieder, literarische Werke, Kampfsymbole, Rituale, Normen etc. als besondere Vergegenständlichungen mit der funktionalen Qualität kognitiv-weltanschaulicher Orientierung, emotional-motivationaler Mobilisierung, willentlicher Stabilisierung und handlungsbezogener Identitätsbildung der "praktisch-kritisch” tätigen und vergemeinschafteten Individuen. In dieser tätigkeitstheoretischen Perspektive erscheint dann die revolutionäre Subjektwerdung der "Klasse der Lohnabhängigen” nicht mehr als vorherbestimmtes, teleologisches Wesensattribut, das mit zwangsläufiger Gesetzmäßigkeit zur schließlichen Entfaltung gelangt, sondern als konkret-historisch bedingte Möglichkeitsform kollektiver wie personaler Subjektentwicklung.

Die Herausarbeitung des anthropologisch-tätigkeitstheoretischen bzw. emanzipatorisch-‚praxisphilosophischen‘ Kerngehalts der Marxschen Konzeption bietet demnach die adäquate Grundlage und Voraussetzung für die überfällige Überwindung des (im bürgerlichen Wissenschaftsbetrieb institutionalisierten) Auseinanderreißens von gesellschaftlicher (objektiver) und individuell-menschlicher (subjektiver) Entwicklungslogik. Auf menschlichem Entwicklungsniveau bildet das von Marx in der dritten Feuerbachthese vermerkte Zusammenfallen des Änderns der Umstände, der menschlichen Tätigkeit und der Selbstveränderung der Menschen den primären Inhalt der Bewegung, Entwicklung und Differenzierung der mit der sozialhistorischen Subjekt-Objekt-Dialektik verbundenen Widersprüche: Es entsteht ‚Kultur’ als historisch sich bewegendes gegenständlich-bedeutungshaftes Ensemble von Lösungsmitteln zur Verarbeitung von Widersprüchen zwischen geschichtlichem Subjekt und äußerer (natürlicher und gesellschaftlicher) Realität. ‘Leben’ heißt ‘Tätig-sein’, und ‘Tätig-sein’ (Tätigkeit) erweist sich bei genauerer Betrachtung als subjektive Widerspruchsverarbeitung. Tätigkeit in Form der ‚subjektiven Widerspruchsverarbeitung‘ ist demnach das zentrale Paradigma bzw. die konstitutive "Vermittlungskategorie"zwischen gesellschaftlichem System und individuellem sowie kollektivem Subjekt, mit deren Hilfe der erkenntnistheoretische Dualismus von ‚Subjektivismus‘ und ‚Objektivismus‘ durchbrochen werden kann.

Für die Weiterführung der praxisphilosophischen Wissenschaftskonzeption wäre die Aneignung der vorliegenden subjektivitätstheoretischen Entwürfe unverzichtbar, die sich einerseits als immanente Ausgestaltungen innerhalb der von Marx und Engels angestoßenen Theorieentwicklung verstehen und sich andererseits explizit als tätigkeitstheoretisch konstituierte Konzeptionen ausweisen. Das gilt insbesondere für die kulturhistorische Schule der materialistischen Tätigkeitspsychologie (Wygotski, Leontjew, Lurija, Il’enkov, Galperin etc.) als auch für die Kritische Psychologie (Holzkamp, Holzkamp-Osterkamp), die beide relevante Theoreme für eine kategoriale Fundierung und Präzisierung der Praxisphilosophie enthalten. Ich denke hier z. B an die materialistisch-tätigkeitspsychologische Fassung des Psychischen als "innere Tätigkeit“, Leontjews Konzept der Dialektik von "gesellschaftlicher Bedeutung"und "persönlichem Sinn“, Il‘enkovs Begriff des Ideellen, Holzkamps Herausarbeitung der Kategorien "begreifendes Erkennen“, "orientierendes Erkennen“, restriktive vs. verallgemeinerte Handlungsfähigkeit oder Ute Holzkamp-Osterkamps naturgeschichtlich reflektiertes Bedürfnis- und Motivationskonzept. Meines Erachtens ist hier wohl eher das missing link der Praxisphilosophie zu vermuten als im Werk von G. H. Mead, wo es Horst Müller vermutet 1 . Andererseits wäre natürlich auch eine Aneignung und explizite Rezeption der Praxisphilosophie durch die genannten subjektwissenschaftlichen Schulen fruchtbar, um ihre Forschungsfragen und erkenntnisbezogenen Ausrichtungen auf eine kritisch-humanistisch solidere und reflektiertere Grundlage zu stellen. Die bisherige wechselseitige Ignoranz zwischen Praxisphilosophie und subjektwissenschaftlicher Tätigkeitstheorie stellt jedenfalls eine wissenschaftliche Blockade dar, die es in beiderseitigem Interesse zu überwinden gilt.

IV.‚Praktisch-kritische‘ Tätigkeit in revolutionär-humanistischer Absicht zielt ab auf die Überwindung sämtlicher zwischenmenschlicher Herrschaftsverhältnisse und ist nicht auf eine ausschließlich antikapitalistische Ausrichtung reduzierbar. Im Unterschied zu den heute gängigen ‚globalisierungskritischen‘ Theorien ist die kritische Analyse des sich weltweit ausbreitenden kapitalistischen (Re-)Produktionsprozesses bei Marx und Engels noch explizit verknüpft mit einer kategorischen Kritik der traditionalen (vorkapitalistischen/prämodern-despotischen‘) Herrschaftsverhältnisse, Institutionen, und Mentalitätsformen, die dem ‚Eindringungsprozeß‘ der Kapitalbewegung unterliegen. D. h.: Jene dem kapitalistischen Globalisierungsprozeß ausgesetzten Gesellschaftsordnungen werden weder sozialromantisch verklärt noch zu dürren Abstrakta (wie "Entwicklungsländer“, "Peripherie“, "Dritte Welt“) verflüchtigt, sondern in ihrer fortschrittshemmenden Selbstbeschaffenheit als transitorische Sozialformen begriffen. (Vgl. z. B. Marx‘ Artikel "Die britische Herrschaft in Indien"vom 25. Juni 1853, MEW 9).

So theoretisch bedeutsam wie politisch aktuell die Marxsche Betonung der antiemanzipatorisch-fortschrittshemmenden Konstitution traditionaler Herrschaftsverhältnisse heute wieder ist, so hat sich doch andererseits die Erwartung einer radikalen Enttraditionalisierung als ‚gesetzmäßiges‘ Resultat der kapitalistischen Globalisierung nicht erfüllt. Traditionale Herrschaftsstrukturen, Abhängigkeitsverhältnisse, Institutionen und Bewußtseinsformen haben sich als äußerst resistent und anpassungsfähig erwiesen. Andererseits ist die doch begrenzte Radikalität des Kapitals offenbar geworden: Dort, wo traditionale Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse sich der Profitlogik fügen, werden diese nicht beseitigt, sondern funktional integriert. Dem Kapital geht es eben nicht um Veränderung/Umwälzung ‚an sich‘, sondern um maximale Verwertung. Die Folge dieser begrenzten Radikalität/Veränderungsintention des Kapitals einerseits sowie des Beharrungsvermögens ‚prämoderner‘ Herrschaftsverhältnisse andererseits ist die widersprüchliche Synthese ‚moderner‘/kapitalistischer und traditionaler/‚nichtwestlicher‘ Herrschaftskultur in Form mehr oder minder stabiler ökonomischer Verflechtungen, strategischer Allianzen und politischen Koalitionen auf innergesellschaftlicher und zwischenstaatlicher Ebene. Angesichts dieser faktischen ‚Hybridisierung‘ von Herrschaftsverhältnissen läßt sich die globale wirtschaftliche, politische, soziokulturelle und ideologische Agenda nicht ,monokratisch‘ als lineare Herrschaft des kapitalistischen Westens über den ‚Rest der Welt‘ deuten, sondern ist - insbesondere aus der Sicht der Beherrschten in den ‚nichtwestlichen‘ Weltregionen - als konkret aufzuschlüsselnde ‚polykratische‘ bzw. gemischt zusammengesetzte Herrschaftsstruktur zu erfassen. Insofern diese objektiv mehrdimensional konstituierten Herrschaftsverhältnisse auf nur eine - wenn auch bedeutsame - Dimension, nämlich die angeblich nur vom Westen ausgehenden Globalisierungsfolgen, verkürzt werden, ergibt sich ein schiefes bzw. simplifiziertes Bild mit desorientierenden Konsequenzen für praktisch-politische Emanzipationsbewegungen. Folgt man etwa den Grunddogmen des postmodernen Denkens, dann hätte sich die ‚Aufklärung‘ als vorherrschendes geistiges Paradigma und Handlungskonzept im Weltmaßstab totalisiert und trage für sämtliche Katastrophen seit der industriellen Revolution die Verantwortung. Im Gegensatz zu diesem grandiosen Irrtum und kontrafaktisch zum (Post-)Moderne-Diskurs ist aber (a) von einer ‚bevölkerungsexplosiven‘ Ausbreitung von ‚nichtaufgeklärten‘ bzw. ‚antiaufklärerischen‘ Herrschaftskulturen in fast allen Weltregionen auszugehen und (b) der Tatbestand zu berücksichtigen, daß die USA als westliche Führungsmacht nicht lediglich als kapitalistische Globalisierungsinstanz zu betrachten sind, sondern ihrerseits ein enormes fundamentalistisch-religiöses Potential in sich bergen bzw. selbst eine hybride Herrschaftssynthese repräsentieren.

Nicht nur das globalisierungsträchtige spätkapitalistische Herrschaftssystem ("McWorld), sondern auch die nichtwestlichen prämodern konstituierten Herrschaftsverhältnisse ("Djihad“) fungieren als wirkungsmächtige Antipoden heutiger kritisch-emanzipatorischer Theorie und Praxis. Genauer betrachtet ist die ‚kulturelle Moderne‘ heute - einschließlich ihres dialektisch-kritischen Erbes in Gestalt der Marxschen Theorie - einem konzentrischen Vernichtungsangriff aus entgegengesetzten Richtungen ausgesetzt: Marktradikale Neoliberale mit ihrer Vergötzung anarchisch-destruktiver Wirtschaftsmechanismen als "kreative Zerstörung“, Wiederbeschwörer konservativer Wertorientierungen mit ihrem Streben nach Reinstallierung einer entmündigenden Untertanen- und Gehorsamskultur, postmodernistische Zeitgeistmonteure mit ihrer fadenscheinigen Sabotage kritisch-wissenschaftlicher Denk- und Analysemethoden, religiöse Fundamentalisten mit ihrer neototalitären Verteufelung der menschlichen Emanzipation und eben auch poststalinistische Linke mit ihrer verbildeten, einfach-negatorischen und pseudofortschrittlichen Anti-Haltung im Sinne eines "entmodernisierten"Radikalismus bilden eine Gemengelage geistig-moralischer Destruktivkräfte, die einer Neuaneignung sozial- und subjektemanzipatorischer Perspektiven auf jeweils spezifische Art entgegenstehen. Angesichts dieser Kräftekonstellation wirkt Hardt/Negris pseudorevolutionäre "Religion der Multitude"wie ein bizarres Ablenkungsmanöver von der heute kardinalen Problemstellung: Wie läßt sich angesichts der global wirksamen und sich bizarr verzahnenden Doppelhegemonie von McWorld, d. h. der spätkapitalistisch-konsumistischen Massenkultur des Habens, und Dschihad, d. h. dem neototalitären Geltungsanspruch religiöser Lebensformierung, der Prozeß der ‚Katharsis‘ (Gramsci), also die kritisch-emanzipatorische Selbstbewußtwerdung der höchst unterschiedlich beherrschten Menschen theoretisch begreifen und praktisch in Angriff nehmen? Revolutionäre Subjektwerdung setzt stets den ‚bewußten Bruch‘ mit herrschaftsbegründender und alltagskulturell verankerter Ideologie (Denkweisen, Normen, Wertorientierungen, Regeln etc.) voraus. In Anbetracht der weltweiten Koexistenz von spätmoderner/bürgerlicher und traditionaler Herrschaftsideologie bedeutet das für die sich neu formierende säkular-humanistische Fortschrittsbewegung, im Sinne Gramscis einen kritisch-aufklärerischen ‚Stellungskrieg‘ an beiden Fronten zu führen und sich nicht auf angebliche a priori gegebene teleologische Prinzipien zu verlassen.


V. Die gesellschaftlich-menschliche Praxis ist kein Bewegungsprozeß mit einer a priori eingebauten Fortschrittsgarantie. ‚Fortschritt‘ als progressive Lösung konkret historisch gegebener Widersprüche mit dem Resultat der ganzheitlichen‚ d. h. materiellen und geistig-moralischen (kulturellen), Höherbewegung der Lebenstätigkeit ist eine kontingente Möglichkeitsform der Widerspruchsverarbeitung. Andererseits ist aber das ‚Schicksal‘ der menschlichen Daseinsgestaltung auch keinem zwangsgesetzlichen Verfallsdeterminismus ausgeliefert. Es besteht also ‚Hoffnung‘, aber nur in einem konsequent ‚nichteschatologischen‘ Sinn. Ob es zu einer Höherentwicklung (Progression) oder einer Stagnation mit anschließender Regression kommt, ist eine offene subjekt-tätigkeit-objekt-dialektische Frage mit zahlreichen Unbekannten. Ein hervorstechendes Merkmal des bisherigen Verlaufs der Menschheitsgeschichte ist jedenfalls folgende eigentümliche Divergenz: Einerseits ist eine kognitive Höherentwicklung der Gattung in Form der Akkumulation von Erfahrungs- und Wissensbeständen insbesondere im Hinblick auf die äußere und innere Natur feststellbar (Werkzeugentwicklung/Technik/Naturwissenschaften: Agronomie, Physik, Biologie, Genetik; Medizin, Neurologie etc.). Andererseits ist aber der überschaubare Geschichtsverlauf als evolutionäre Modifikation antagonistischer Gesellschaftsformen mit ihren jeweils spezifischen zwischenmenschlichen Herrschafts-, Knechtschafts-, Unterdrückungs- und Konkurrenzverhältnissen zu begreifen. Materiell-technische Höherentwicklung korrespondiert folglich mit sozialer und geistig-moralischer Stagnation. Nicht zuletzt aufgrund dieser antagonistischen Struktur und der damit gesetzten relativen ‘Zerrissenheit’ der vergesellschafteten Menschen kommt es zu einer ‘gesetzmäßigen’ Kollision der sich wechselseitig durchkreuzenden Einzelwillen, so daß die bisherige Geschichte durch Bewußtlosigkeit bezüglich des Prozeßresultats der gesellschaftlich-menschlichen Gesamtaktivität gekennzeichnet ist.

Die Kontingenz menschlicher Lebenstätigkeit ergibt sich wesentlich aus der ‚Bedeutungsvermitteltheit‘ und ‚Eigensinnigkeit‘ des menschlichen Bewußtseins gegenüber der äußeren Realität. Demnach handelt der individuelle Mensch nicht ‚bedingungsmechanistisch‘ aufgrund unmittelbar gegebener Umgebungsreize, sondern immer in gleichzeitig wirksamer Abhängigkeit von gespeicherten Erfahrungen, aktuellen Zielsetzungen und angeeigneten Wirklichkeitsinterpretationen/Bedeutungen als Ensemble von Aussagen, Wertungen und Normen. Die aktuellen ‚Einwirkungen‘ werden folglich durch den individuell-spezifischen Gedächtnis-Zielsetzungs- und Bedeutungshorizont "gebrochen“. Ganz wesentlich für die konkrete ‚Ausrichtung‘ der menschlichen Praxisgestaltung ist demnach die Beschaffenheit der konkret-historisch vorfindlichen bzw. kulturhistorisch gewordenen Bedeutungssysteme, die ihrerseits widersprüchlich zueinander koexistieren. Diese fungieren gewissermaßen als antagonistische "Tankstellen"subjektiver Sinngebungs- und Orientierungsprozesse. Konkret-politisch gesprochen geht es hierbei um die emanzipationswissenschaftlich entscheidende Schnittstelle zwischen Subjektentwicklung und ideologisch-kulturellem Kampf zwischen Herrschenden und Beherrschten.

Zu fokussieren ist folglich der Prozeß der praktisch-kritischen Subjektwerdung der beherrschten Individuen als eine zu realisierende Alternative im Möglichkeitsfeld subjektiver Realitätsverarbeitung. Die Art und Weise, wie Menschen im konkret-historischen Spannungsfeld zwischen objektiver Bestimmtheit und subjektiver Autonomie die erfahrenen gesellschaftlichen Widersprüche verarbeiten, rückt damit ins Zentrum.


Aus dieser konstitutionstheoretischen Perspektive, die ‚Praxis‘ grundkategorial ganz wesentlich in ihrer Subjektgebundenheit reflektiert, ergeben sich im Vergleich zu Horst Müllers Wertungen einige rezeptionstheoretische Unterschiede:

1) Bei aller Bedeutung Herbert Marcuses für eine emanzipatorische Interpretation der Marxschen Theorie unterliegt dieser doch im Grunde der verbreiteten Fehleinschätzung, der ‚Marxismus‘ könne aus sich heraus die menschliche Subjektivität nicht erfassen und bedürfe deshalb einer "Anleihe"von außen in Gestalt der Freudschen Psychoanalyse 2 . Damit bleibt Marcuses "freudomarxistische"Gesamtkonzeption letztlich der reduktionistischen und naturalistischen ‚Triebtheorie‘ verhaftet, die zum einen die naturgeschichtliche Gewordenheit der Menschen im Dunkeln läßt und zum anderen die Dialektik von ‚menschlicher Natur‘ und ‚menschlichem Wesen‘ verfehlt 3 .

2) Im Unterschied zu Horst Müller ist für mich Lukács‘ Auffassung von Totalität als gesellschaftliches ‚Vermittlungsganzes‘ unverzichtbar für eine materialistisch-dialektische Sozialphilosophie und Gesellschaftstheorie. Indem Lukács die "teleologische Setzung"zum Kern seines Arbeitsbegriffs macht, überwindet er meines Erachtens gerade den ‚produktivistischen‘ Arbeitsdiskurs und korrespondiert mit der psychologischen Interpretation des allgemeinen Arbeitsbegriffs auf der Grundlage der Tätigkeitstheorie. In Form der "Zerstörung der Vernunft"und der genetischen Rekapitulation der faschistischen Ideologie hat Lukács zudem einen paradigmatischen Beitrag zur kritischen Analyse antihumanistischer Bedeutungs(re)produktion geliefert, die für eine heutige Kritik des Postmodernismus und Fundamentalismus unverzichtbar ist.

3) Im Gegensatz zum zeitgenössischen Vulgärmarxismus, der mit seinem Axiom von der "unvermeidlichen Sieghaftigkeit des Sozialismus"im Kern die gesellschaftsverändernde Praxis der Menschen entwichtigt und bagatellisiert, ist es in erster Linie Gramsci gewesen, der das Problem der praktisch-kritischen Subjektwerdung ins Zentrum seiner hegemonietheoretischen Untersuchungen gerückt hat. Deshalb ist es durchaus angemessen, seinen Beitrag zu einer qualitativen Weiterentwicklung der Marxschen Theorie besonders hervorzuheben. Nach ihm erfordert die ‚Aufsprengung‘ des ökonomistischen Diskurses zwei elementare Erneuerungsbemühungen im Rahmen eines tätigkeitstheoretisch rekonstruierten Marxismus: Zum einen die Herausarbeitung und Aufdeckung der ‚Eigenlogik‘ und des funktionalen Stellenwerts der ideologischen Sphäre und zum anderen die Erfassung der menschlichen Subjektivität auf der Ebene des kollektiven wie des individuellen Subjekts. Ins Zentrum rückt damit das dialektische Verhältnis von menschlicher (Lebens-)Praxis und ideologisch-kultureller Realitätsverarbeitung. Ohne Einbindung in progressiv-hegemoniale Praxis im Sinne Gramscis sind utopische Entwürfe zum Sektierertum bzw. zum Scheitern verurteilt.

4) Demgegenüber scheint mir Blochs eher beschwörende Philosophie der Hoffnung doch überschätzt zu werden. Zwar ist die Interpretation der Marxschen Feuerbachthesen tatsächlich als sehr gelungen zu bezeichnen, aber das "Prinzip der Hoffnung" ist doch wie das Gesamtwerk nicht frei von eschatologischen Latenzen und problematischen Brücken zu religiös-theologischen Erlösungsphantasien. Angemessener ist hier meines Erachtens Wolfdietrich Schmied-Kowarziks Position (1999, S. 230.), der die Schwachstellen des Blochschen Philosophierens benennt - "eines Philosophierens, das vom Denk-Einfall lebt, diesen lediglich umschreibt, umbildert, umspielt und dort, wo es apologetisch oder polemisch wird, in wortgewaltigen Bekenntnissen und Behauptungen gipfelt. Was dieser Philosophie fehlt, ist das, was Hegel die Arbeit des Begriffs und Benjamin die Eiswüste der Abstraktion genannt hat“. Neben dem eher literarischen Insinuierungsstil scheint mir die Möglichkeit begründungsloser bzw. unfundierter Hoffnung aufgrund analytisch unvollendeter und voluntaristisch verzerrter Reflexion ein zusätzliches Problem zu sein.

5) Gegenüber den Arbeiten der Kulturhistorischen Schule und der Kritischen Psychologie ist die Theorie von Pierre Bourdieu in tätigkeits und subjektivitätstheoretischer Hinsicht eher von nebenrangiger Bedeutung. Deshalb ist es sicher nicht angemessen, die Erstgenannten gar nicht zu erwähnen und den letzteren derart überzubewerten. So hat Bourdieu zwar das Problem des sozialwissenschaftlichen Dualismus zwischen Objektivismus und Subjektivismus zutreffend beschrieben, aber sein zentrales Konzept des ‚Habitus‘ erweist sich bei näherer Betrachtung letztlich als praxis- und subjektheoretisch unzulängliche Theorie (vgl. Krauss 2002).


Trotz dieser unterschiedlichen Wertungen und Gewichtungen ist aber der Fundus an gemeinsamen Positionen und Sichtweisen groß genug, um in eine fruchtbare Zusammenarbeit einzutreten. Dabei könnten die unterschiedlichen Rezeptionshaltungen sogar von Vorteil sein.


© Hartmut Krauss, Osnabrück 2004



Anmerkungen:

1 Vgl. Horst Müller in HINTERGRUND I-2004, S. 36.

2 Vgl. hierzu kritisch: Holzkamp 1977.

3 Vgl hierzu die Kritik von Braun (1979) am Freudomarxismus und insbesondere Ute Holzkamp-Osterkamps Kritik an der Freudschen Psychoanalyse (1978).


Literatur:

Braun, Karl-Heinz: Kritik des Freudo-Marxismus. Zur marxistischen Aufhebung des Psychoanalyse. Köln 1979.

Holzkamp, Klaus: Kann es im Rahmen der marxistischen Theorie eine Kritische Psychologie geben? In: Bericht über den I. Kongreß Kritische Psychologie in Marburg vom 13. bis 15. Mai 1977. Bd. I: Einführende Referate. Hrsg.: Holzkamp, Klaus/ Braun, Karl-Heinz, Köln 1977. S. 46-75.

Holzkamp-Osterkamp, Ute: Grundlagen der psychologischen Motivationsforschung 2. Die Besonderheit menschlicher Bedürfnisse - Problematik und Erkenntnisgehalt der Psychoanalyse. 2. korr. Aufl. Frankfurt am Main, New York 1978.

Krauss, Hartmut: Zwischen Subjektivismus und Objektivismus. Zum Erkenntnisgehalt der theoretischen Konzeption Pierre Bourdieus. In: HINTERGRUND I-2002, S. 5-29.

Schmied-Kowarzik, Wolfdietrich: Denken aus geschichtlicher Verantwortung. Wegbahnungen zur praktischen Philosophie. Würzburg 1999.











 

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