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Beiträge zur Politik |
Hartmut KraussThesen zur Problematik der Umwälzung der "modernen" (kapitalistisch durchformten) LebensweiseI. Die reduzierte Radikalität der traditionellen Sozialismusdiskurse
Kennzeichnendes Merkmal der klassischen
Sozialismusdiskurse, sowohl in ihren reformistischen als auch
in ihren revolutionären Ausprägungen, ist die Fixierung
auf das bürgerlich-kapitalistische "Wachstumsmodell".
D.h.: Nicht die technologisch-energetische Basis sowie das Ziel
der permanenten Steigerung des Produktionsausstoßes (Zunahme
des Gesamtvolumens an Gütern) bildet den Gegenstand der theoretischen
und praktischen Kritik am kapitalistischen Typus der Systemreproduktion,
sondern die systemimmanent vorherrschenden Eigentumsverhältnisse
und daraus erwachsenden Verteilungsstrukturen. Aus dieser Fokussierung
der Kritik resultiert folgerichtig ein reduzierter Umwälzungshorizont,
der auf "sozial gerechte Umverteilung" im Rahmen einer
(reformierten/revolutionierten) nationalstaatlichen Wachstumsgesellschaft
beschränkt bleibt. Entsprechend lauteten die Zielkoordinaten
des klassischen (am sowjetischen Modell orientierten) Revolutionsparadigmas:
Eroberung und Verteidigung der politischen (Staats-)Macht; Verstaatlichung
der Produktionsmittel; Zerschlagung nicht nur der kapitalistischen,
sondern weitestgehend auch der einfachen Warenproduktion; Umverteilung
des expropriierten gesellschaftlichen Reichtums im Kontext eines
extensiv erweiterten Reproduktionstyps; "Einholen und Überholen"
der entwickelten kapitalistischen Länder gemäß
deren eigener "olympischer" Wachstumslogik. Als umgestaltungsrelevante
Problemdimensionen ausgeblendet bleiben in diesem "traditionssozialistischen"
Umwälzungshorizont somit a) die technisch-energetische Basis
des (Re-)Produktionsprozesses; b) der stoffliche/qualitative Aspekt
des gesellschaftlichen Gesamtprodukts (Art der produzierten Güter);
c) die überkommene (patriarchal organisierte) Form der Reproduktionsarbeit,
d) die Bedürfnisstruktur der Bevölkerung einschließlich
der historisch gewachsenen Konstitution der "modernen"
Lebensweise.
Ursächlich verantwortlich für
diesen reduktionistischen "Umverteilungsmonismus" der
traditionellen Sozialismusdiskurse waren zum einen die existenziellen
Mangelerfahrungen der Arbeiterbewegung in den präfordistischen
Entwicklungsetappen der kapitalistischen Systemevolution, in denen
die Klasse der Lohnabhängigen in Gestalt des Proletariats
bzw. als "virtuelle Pauper" ihr Dasein fristeten. Vor
dem gesellschaftlichen Erfahrungshintergrund dieser etappenspezifischen
existenziellen Mangelsituation erschien die Zielorientierung "Umverteilung
im Rahmen einer extensiven industriellen Wachstumsgesellschaft"
als ebenso unverrückbare wie plausible ultima ratio. Zum
anderen drängte die Logik des vermeintlichen Aufbaus des
Sozialismus in - gegenüber den kapitalistischen Ländern
des Westens - rückständigen (Entwicklungs-)Ländern
(UdSSR; China; Ostblockstaaten; Kuba, Vietnam, Nordkorea etc.)
ebenfalls in die Richtung einer "umverteilungsmonistischen"
Sozialismusauffassung. Die Lebensweise der Bevölkerung sollte
auf ein höheres materielles Grundversorgungsniveau gehoben
werden und blieb ansonsten unproblematisiert im Dunklen. Zwangsläufig
unterblieb somit auch die Ausarbeitung einer sozialistischen Version/Konzeption
des "guten Lebens". "Erst kommt das Essen und dann
die Philosophie" und nicht "Der Mensch lebt nicht vom
Brot allein" galt als vulgärmaterialistischer Wahlspruch.
II. Vollendungszenarium und Verfallsdatum des Kapitalismus: Die fordistische Etablierung der konsumgesellschaftlichen Lebensweise
Neben der unzureichenden Akzentuierung
der Subjektrolle der Volksmassen besteht der theoretische Grundirrtum
der traditionellen Sozialismusdiskurse in der Verkennung der gesellschaftlichen
Entfaltungslogik der kapitalistischen Systemevolution. Daraus
resultiert, daß der Problem- und Zielhorizont der sozialistischen
Umgestaltung aus der Betrachtung der jeweils rezenten Entwicklungsetappe
des Kapitalismus abgeleitet wurde und nicht aus dem problemstrukturellen
Erbe, daß der voll entfaltete, d.h. sämtliche gesellschaftliche
Sektoren usurpierende und durchdringende Kapitalismus hinterläßt.
Entsprechend rächte sich die Leninsche "Vordatierung"
des höchsten Entwicklungsstadiums des Kapitalismus. Denn
nicht bereits der nach außen expansive und nach innen repressive
Imperialismus, sondern erst die auf "innerer Landnahme"
(Lutz 1984) basierende fordistische Ausstaffierung des Monopolkapitalismus
bildet die transitorische Zäsur: Erst mit der Durchsetzung
und tendenziellen Globalisierung der fordistischen Entwicklungsstufe
des Kapitalismus nach dem zweiten Weltkrieg erlangt somit auch
die moderne (kapitalistisch durchformte) Lebensweise ihre "volle"
und zugleich irreversibel-destruktive Gestalt.
Aufbauend auf einer intensiven Rationalisierung
der Produktion sowie der tayloristischen Umgestaltung der Arbeitsorganisation
entstand ein neues Akkumulationsregime, das sich zunächst
durch die tendenzielle Symmetrie von hohen Wachstumsraten, steigenden
Profiten, relativer Vollbeschäftigung sowie steigenden Löhnen
und Gehältern auszeichnete und durch den keynesianischen
Wohlfahrtsstaat zusätzlich gestützt wurde. Gleichzeitig
aber manifestierte sich in zunehmenden Maße auch die umweltzerstörende
Durchschlagskraft der kapitalistischen (Re-)Produktionsweise,
so daß die ökologischen "Grenzen des Wachstums"
unabweisbar ins öffentliche Bewußtsein rückten.
Diese ambivalente Gleichzeitigkeit des rasanten Anstiegs des materiellen
Lebensstandards der lohnabhängigen Bevölkerungsschichten
einerseits sowie der nunmehr offensichtlich gewordenen Zuspitzung
der kapitalistischen Naturzerstörung andererseits verleiht
der voll entfalteten "modernen" Lebensweise ihr spezifisches
Gesicht: Die fatale Verbindung der Gewährleistung und Anhebung
des Reproduktionsniveaus der Werktätigen mit der Integration
in einen ökologisch, sozial und kulturell desaströsen
Kapitalverwertungsprozeß.
Im Einzelnen lassen sich folgende wesentlichen
Konstitutionsmomente der "modernen" (kapitalistisch
durchformten) Lebensweise unterscheiden:
1) Während der "präfordistische"
Kapitalismus bis zum 2. Weltkrieg noch dadurch gekennzeichnet
war, "daß er traditionelle, vorkapitalistische Formen
der Arbeitskraftreproduktion, also die noch stark agrarisch geprägten
Sozialbeziehungen, Konsumgewohnheiten und Lebensformen, relativ
unberührt ließ" (Hirsch/Roth 1986, S.48), wird
mit Einsetzen der fordistischen Reorganisation der kapitalistischen
Systementwicklung die gesamte Reproduktionssphäre der lohnabhängigen
Massen "durchkapitalisiert", d.h. der kapitalistischen
Vermarktung unterworfen. Traditionelle handwerkliche und agrarische
subsistenzwirtschaftliche Tätigkeitsformen werden zugunsten
neuer kapitalistischer Waren- und Dienstleistungsangebote (Tiefkühlprodukte,
Waschmaschinen, Baumärkte, Imbißstuben etc.) zurückgedrängt
und tendenziell beseitigt.
2) In dem Maße, wie es aufgrund
der produktionstechnisch und arbeitsorganisatorisch gesteigerten
Arbeitsproduktivität zu einer spürbaren Erhöhung
der Reallöhne und -gehälter kommt, avancieren beträchtliche
Teile der "unmittelbaren Produzenten" zu relevanten
Konsumenten der industriell erzeugten Massenwaren. Langlebige
Konsumgüter wie Kühlschränke, Waschmaschinen, Staubsauger,
Fernsehgeräte, Videorecorder, Fotoapparate etc. halten Einzug
in die Haushalte der Werktätigen. "Während das
Automobil in den 1950er Jahren noch als absoluter Luxusgegenstand
galt, an dem man den Besitzer sozial einordnen konnte, besaßen
1988 zwei Drittel aller bundesdeutuschen Haushalte ein Auto"
(Andersen 1996, S.236). Es kommt somit zu einer grundlegenden
(politisch folgereichen) Umwälzung innerhalb der Existenzform
der Lohnabhängigkeit: das klassische Proletariat mausert
sich zur "neuen" (konsumorientierten und-fähigen)
Arbeitnehmerschaft.
3) Die konsumgesellschaftliche Integration
der "neuen" Arbeitnehmerschaft wird systematisch forciert
durch die Entstehung und fortlaufende Perfektionierung der warenästhetischen
Massenkultur, die zu einem zentralen Funktionsbestandteil des
voll entfalteten Kapitalismus geworden ist (vgl. Krauss 1997).
Als Schnittstelle zwischen subjektivem Begehren und Realisation
der kapitalistisch erzeugten Warenwerte fungiert die spätkapitalistische
Massenkultur des Habens in Gestalt einer multiplen Scheinwelt
aus Mode, Werbung , Show, Unterhaltung, "Event" etc.
als neototalitärer Interpret des "guten Lebens",
der sich auf subtile Art in die Bedürfnisstruktur der Konsumenten
einklinkt und Sinnlichkeit wie Identität der spätkapitalistisch
vergesellschafteten Menschen nachhaltig (de-)formiert. Indem die
konsumistische Massenkulur eine gesamtgesellschaftliche Ausdehnung
und Verankerung besitzindividualistisch-konsumistischer Verhaltens-,
Erlebnis- und Identitätsformen bewirkt, produziert sie eine
systemstabilisierende (bedürfnisstrukturell befestigte) Komplicenschaft
zwischen der Masse de Bevölkerung und der destruktiven Logik
der kapitalistischen Wachstumsgesellschaft. Insbesondere ist hier
die warenästhetisch fundierte Suggestion hervorzuheben, wonach
sich "Persönlichkeit" bzw. personale Identität
als eine Kombination von Sacheigenschaften käuflich erwerben
ließe. "Auf diese Mobilisierung und Verwaltung der
Libido mag die freiwillige Unterwürfigkeit, das Fehlen von
Terror und die prästabilierte Harmonie zwischen individuellen
und gesellschaftlich erforderlichen Bedürfnissen, Zielen
und Bestrebungen in hohem Maße zurückzuführen
sein" (Marcuse 1970, S.94f.). Die konsumistische Subjektzurichtung
erstickt somit nicht nur kritisch-widerständige bzw. emanzipatorische
Impulse, sondern verknüpft auf prekäre Weise Bedürfnisbefriedigung
mit Konformität und Unterwerfung.
Die Krise des Fordismus und das Zerbrechen
der sozialökonomischen Symmetrie, die sich am eindrucksvollsten
in der Herausbildung der chronischen Massenarbeitslosigkeit niedergeschlagen
hat, hat zwar die Teilhabemöglichkeiten an der aufgeblähten
konsumistischen Massenkultur systematisch verschärft, aber
weder deren Faszinations- noch Destruktivkraft geschwächt.
Eher zeigt sich das Gegenteil, nämlich eine wachsende Kommerzialisierung
und mediale Privatisierung als Intensivierungsfaktoren massenkultureller
Fremdbestimmung. Als grundlegendes Merkmal des postfordistischen
Kapitalismus hat sich der antinomische Widerspruch zwischen stetig
gesteigertem Produktionsausstoß bei gleichzeitiger sinkender
Nachfrage nach Arbeitskräften herauskristallisiert.
III. Die Widersprüchlichkeit der modernen Lebensweise als emanzipatorischer AnknüpfungspunktDie utilitaristische ratio der systemangepaßten Subjektivität folgt der Logik, entfremdete Erwerbsarbeit gegen monetäre Teilhabemöglichkeiten an der konsumistischen Massenkultur des Habens einzutauschen. Damit sind die Interessen von Lohnabhängigen nicht nur auf den Erwerb von destruktiven Konsumwaren, sondern auch (gewissermaßen "vorgelagert") auf den Erhalt bzw. die Wiedererlangung von destruktiven Arbeitsplätzen fixiert. Die moderne Lebensweise darf nun freilich nicht, wie vielfach üblich, mit ihrer spätkapitalistischen "Durchformung" gleichgesetzt bzw. auf diese Formbestimmtheit reduziert werden. Vielmehr gilt es, sie als historisch gewachsenen, komplex und widersprüchlich zusammengesetzten Block zu betrachten, d. h. als dialektische Einheit von progressiven und regressiven Bestimmungsmomenten. In dieser Perspektive wäre ihre Entstehung als historische Negation der prämodernen/traditionalen Lebensweise bis zum Beginn der industriekapitalistischen Epoche nachzuzeichnen, weil sich in dieser Geschichtsetappe gewissermaßen so etwas wie die bewahrenswerte Tiefenstruktur der modernen Lebensweise herausgebildet hat, die dann später im Verlauf der Etablierung und systeminternen Ausgestaltung des Industriekapitalismus regressiv bzw. degenerativ überformt (deformiert) worden ist.
Kennzeichnend für die prämoderne/traditionale,
agrarisch, ständehierarchisch und religiös konditionierte
Lebensweise war u. a. eine ausgeprägte normative Sozial-
und Sittenkontrolle, ausgeübt durch die Großfamilie
und die dörfliche Gemeinschaft als den wesentlichen Überwachungseinheiten.
"Moderne Menschen sind entsetzt, wenn sie beispielsweise
erfahren, in welchem Grade vor dem achtzehnten Jahrhundert das
Dorf Kontrolle sogar über das intime Familienleben seiner
Bewohner beanspruchte" (Taylor 1995, S.245). Weder existierten
Räume für die Möglichkeit zurückgezogener
Privatheit, noch konnte eine unabhängige Lebensführung
realisiert werden. Ariès hat die kontrollierende Allgegenwärtigkeit der prämodernen/traditionalen Gesellschaft folgendermaßen beschrieben:
"Die Historiker haben uns bereits
seit langem darüber aufgeklärt, daß der König
niemals allein blieb. In Wirklichkeit war es jedoch bis zum Ende
des 17.Jahrhunderts so, daß überhaupt niemand allein
war. Die Intensität des sozialen Lebens verbot die Isolierung,
und man pries es als seltene Leistung, wenn es irgend jemandem
gelungen war, sich für einige Zeit 'hinter dem Ofen' oder
'hinter seinen Studien' zu verkriechen; all die Beziehungen zwischen
Gleichgestellten, zwischen Personen desselben Standes, die jedoch
voneinander abhängig waren, die Beziehungen zwischen Herren
und Dienern, Beziehungen des Alltagslebens, die den ganzen Tag
beanspruchten, ließen es nicht zu, daß irgend jemand
jemals allein war" ( zit.n.Taylor 1996, S.515).
Erst mit der allmählichen Durchsetzung
der aus Zuneigung (und nicht aus dynastischen oder besitzorientierten
Vorschriften) eingegangenen Ehe und Familiengründung seit
Ende des 17. Jahrhunderts gelingt eine tendenzielle Befreiung
aus der Allgegenwart der traditional-normativen Überwachungsgemeinschaft
und es entsteht die moderne Ausdifferenzierung einer Privat-
und Intimsphäre als Ort individueller Autonomie. Die
Etablierung der auf Zuneigung gegründeten Kernfamilie und
die damit verbundenen Ideale der Privatheit und der Intimität
"unterfüttern" fortan die moderne Identität.
Während sich die "vormodernen" Menschen als festgelegter
Teil einer umfassenderen (kosmologischen) Ordnung begriffen, die
unhinterfragbar vorgab, wer man ist und wo man seinen Platz hat,
sucht das moderne Subjekt die Quellen seiner Identität in
sich selbst, in seinen inneren Wünschen, Motiven, Zielen,
Sehnsüchten etc. Selbsterkenntnis und Selbstgestaltung/Selbstverwirklichung
treten an die Stelle der Einfügung in eine autoritär
vorgegebene äußere Ordnung. Sind diese normativen und
wertmäßigen Umorientierungen erst einmal im Bewußtsein
justiert, dann werden die starren Regeln der traditionalen Kontrollgemeinschaften
zunehmend als Fesseln empfunden. Der moderne Mensch, so die sich
ausbreitende Einsicht, benötigt Autonomie zu seiner Selbstfindung;
"und Autonomie erfordert zu diesem Zweck einen Privatbereich"
(ebenda, S.254).
Unter diesem Blickwinkel besticht die
heutige westliche Konsumgesellschaft einerseits mit ihrer weitgehenden
Universalisierung von privatem Wohlstand als Voraussetzung für
die Verfolgung der modernen Selbstverwirklichungsideale. Gleichzeitig
aber sticht die entpersönlichende und abstumpfende Standardisierung
und Verdinglichung der Individuen ins Auge, die im Rahmen der
hypertrophierten (selbstzweckhaften) Konsumgesellschaft des Postfordismus
zunehmend verfetten und verblöden, also körperlich und
geistig verfallen (1).
Es ist diese spätkapitalistische
Zweck-Mittel-Verkehrung des individuellen Konsums, welche die
modernen Lebensführungsideale systematisch verdinglicht und
verfälscht und zugleich ein enormes sozialpathologisches
Potential freigesetzt hat. Im Einzelnen lassen sich folgende moralischen Strebungen als "Knotenpunkte" der modernen Selbstinterpretation des Subjekts anführen: 1) Das moderne Subjekt findet seine Ziele in sich selbst, in seiner "inneren Natur", und nicht mehr in einer von außen vorgegebenen kosmischen Ordnung. 2) Deshalb muß das moderne Subjekt Autonomie verlangen. Nur so vermag es frei und unabhängig seine Ziele zu ermitteln.
3) Autonome Zielfindung ist potentiell
durch die spezifisch menschliche vernünftige Urteilskraft
garantiert, d. h. durch die Fähigkeit, "ohne Illusion
oder Mutmaßungen zu erkennen, was die Natur in mir fordert"
(Taylor 1995, S.258). Aus dieser Identitätsgrundlage des modernen Subjekts entwickeln sich nun zwei gegensätzliche Tendenzen: Zum einen erwächst daraus ein instrumentalistisch-rationales Mensch-Welt-Verhältnis. Der "inneren Natur zu folgen" bedeutet hier, sich durch Disziplin, produktive Arbeit und Akkumulation zu verwirklichen. "Indem wir produzieren, schaffen wir nicht nur unseren Bedürfnissen Abhilfe, sondern verwirklichen zugleich unseren Status als autonome und rational handelnde Subjekte" (ebenda, S.264). Diese instrumentalistisch-rationale Haltung wird nun durch eine zweite, gegenläufige Auslegungslinie konterkariert. Gemäß dieser "romantischen" Version bedeutet "der inneren Natur zu folgen", auf die Stimme der Natur in uns zu hören, wobei diese als Quelle einer reinen und höheren Motivationsinstanz betrachtet wird, die die Menschen veranlaßt, nicht aus bloßer kalkulierender Erwägung, sondern nach einem inneren moralischen Empfinden "gut" zu handeln. Während folglich die instrumentalistische Version dem Prinzip der ethisch indifferenten Zweckrationalität folgt, ist die romantische Version auf Wertrationalität gerichtet, d. h. auf das intuitiv-emphatische Vermögen, den intrinsischen Wert bzw. die ethische Bedeutung von Lebensaspekten zu erfassen. Damit wäre die "romantische", insbesondere durch Rousseau repräsentierte Auffassung als kritische Negation der instrumentalistisch-rationalen Einstellung zu rekapitulieren, als eine geistig-moralische Position, die den instrumentell und utilitaristisch verkürzten Horizont der wirtschaftsbürgerlichen Vernunft als einen Irrweg anprangert, der dazu verleitet, das wirklich Wesentliche und Bedeutsame im menschlichen Sein zu verkennen und zu einer Art Versklavung durch das führt, was von zweitrangiger und oberflächlicher Bedeutung ist. Rationalistische Selbstkontrolle, instrumentalistische Vernunft und utilitaristische Praxis werden in dieser romantischen Perspektive "als Verlust des Kontaktes zur Natur, zur Humanität, zum Selbst betrachtet." (ebenda, S.269).
Demnach ist von einer elementaren Spaltung
der modernen Identität auszugehen (2), die bezüglich der
Erfahrung der spätkapitalistischen Konsumgesellschaft zu
einer gegensätzlichen Wertung führt: Zu einer instrumentalistisch-zweckrationalen
Apologetik des "postmodernen" Konsumismus einerseits
oder aber zu ihrer "romantischen" Kritik andererseits.
Die stabile Anziehungskraft der sich
globalisierenden konsumistischen Massenkultur basiert im wesentlichen
auf der Kombination zweier Aspekte: a) auf der eindimensionalen
Dominanz einer Definition des "guten Lebens" im Sinne
einer permanenten Steigerung des materiellen/dinglichen Lebensstandards,
sowie b) auf einem warenästhetisch inszenierten, imaginären
Gebrauchswertversprechen, das die insgeheimen Sehnsüchte
(als subjektiv sedimentierte "präreflexive" Restbestände
der "romantischen" Welterfahrung) der modernen "Massenindividuen"
aufgreift und scheinbar zu befriedigen vermag. Andererseits aber
hat die desaströse Rast- und Sinnlosigkeit des Weiterlaufens
der kapitalistischen Verwertungsmaschine in ihrem Wachstumswahn
längst ein Ausmaß erreicht, das die Identitätsgrundlagen
und Ideale des modernen Menschen als autonomes, vernünftiges,
einfühlsames, zur Realitätskontrolle befähigtes
Wesen fundamental erschüttert. Die konsumistische Massenkultur
des Habens und die ihr zugrundeliegenden Imperative des spätkapitalistischen
Reproduktionsprozesses unterminieren zunehmend die Würde
des modernen Menschen; sie funktionieren längst als "Angriff
auf unser Selbstbild als wirkliche Repräsentanten der Moderne,
die ihre Zwecke aus sich selbst heraus bestimmen, die die Dinge
beherrschen und nicht von ihnen beherrscht werden" (ebenda,
S. 284) (3).
Eine heute menschheitsgeschichtlich
auf der Tagesordnung stehende Umwälzung der modernen (kapitalistisch
durchformten) Lebensweise erfordert vor diesem Hintergrund, es
nicht bei Appellen an die ökologische Vernunft bewenden zu
lassen (die oftmals mit der Attitüde eines autoritären
Asketismus verknüpft sind) oder das Heil ausschließlich
in abgeschotteten Projekten zu suchen. Aufgabe einer wirklich
erneuerten Linken, die sich zunächst aus den Fängen
des überholten wachstumsfixierten Umverteilungsmonismus zu
lösen hätte, wäre es vielmehr, die spätkapitalistisch-massenkulturelle
Deformation und Falsifikation der modernen Lebensideale aufzuzeigen
und eine Idiosynkrasie gegen die konsumistische Massenkultur des
Haben-Müssens und der strukturell angelegten Überkonsumtion (4)
zu vertiefen und zu verbreitern. Es gilt folglich das verschüttete
progressive Erbe der "kulturellen Moderne" gegen die
kapitalistische Negation der Moderne selbst zu wenden. Die aktuelle
massenkulturelle Verfälschung der Ideale von privatem Glück,
autonomer Identitätsgewinnung, geistig-normativer Unabhängigkeit
etc. spricht ja nicht gegen deren bewahrenswerte sozialhistorische
Fotschrittlichkeit. Es gilt vielmehr, sie aus dem Gefängnis
der spätkapitalistischen Verdinglichung zu befreien. Nur
in einem solchen Kontext des reaktivierten Form-Substanz-Widerspruchs
der modernen Lebensweise könnte eine Bedürfnisrevolution
als notwendiges subjektives Korrelat einer gesellschaftlichen
und ökologischen Befreiungsrevolution eingeleitet werden,
die die Menschheit von den desaströsen Fesseln der kapitalistischen
Reproduktions- und Vergesellschaftungslogik befreit und sie gleichzeitig
gegenüber neodespotisch-fundamentalistischen Terrorismen
schützt. Es wird nicht mehr lange gut gehen, daß die
Menschheit, anstatt ihre moralischen, geistigen und strategischen
Ressourcen zur Bewältigung der globalen Probleme gemeinschaftlich
zu mobilisieren und zu bündeln, sich einerseits unter dem
Joch der globalen Profitlogik in nationaler Standortkonkurrenz
verzehrt und andererseits unter dem Diktat fundamentalistisch-neodespotischer
Strömungen in kulturellem Abgrenzungsterror und nationalistischer
Selbstdeformation versinkt. Anmerkungen:1) Wie auf der Jahrespressekonferenz der Deutschen Gesellschaft für Ernährung dargelegt wurde, werden die Kinder in Deutschland immer dicker. 23 Prozent der Fünf- bis Siebenjährigen haben Übergewicht, weitere acht bis zwölf Prozent sind sogar extrem dick, und 19 Prozent der Schulanfänger sind zumindest stark gefährdet, übergewichtig zu werden. In den letzten 20 Jahren habe die Fettmasse der Kinder dramatisch zugenommen. Besonders gefährdet seien Kinder aus sozial schwachen Familien mit niedrigem Bildungsniveau (vgl. Neue Osnabrücker Zeitung vom 18.06. 1999, S.8).Nach Einschätzung des Berufsverbandes der Ärzte für Kinder-/Jugendpsychatrie und Psychotherapie sind ca. eine Million Kinder und Jugendliche in Deutschland psychisch krank oder in ihrer Entwicklung gestört (vgl. Neue Osnabrücker Zeitung vom 15.05. 1999, S.4). Zur Jugendkriminalität vgl. Krauss 1998. 2) Die Zerrissenheit des spätkapitalistischen Subjekts zeigt sich in dem scharfen Kontrast zwischen dem erwerbstätigen Rationalisten/Asketen und dem privaten Romantiker/Hedonisten in ein und derselben Person. 3) In den aktuellen philosophischen und weltanschaulich-politischen Debatten geht es im Kern darum, ob das moderne Subjekt in seinen Souveränitätsansprüchen unkritisch affirmiert (neoliberale Systemapologetik), kapitalismuskritisch rehumanisiert (Ansätze zu einem erneuerten kritisch- humanistischen Diskurs) oder aber defätistisch perhorresziert und entsorgt" (postmoderne Ideologie) werden soll. Damit korrespondieren drei gegenläufige Willensmotive: der Wille zum Machterhalt, der (postrealsozialistisch" erneuerte) Wille zur Revolution und der Wille zur ("fröhlichen") Ohnmacht. Die erste und dritte Willensposition verhalten sich zueinander pseudokonträr; letztendlich laufen sie beide auf ein alternativloses Weiter so" hinaus. 4) Ein Indikator für die Sättigung mit notwendigen Mitteln zum Leben in den kapitalistischen Industrieländern ist der abnehmende Anteil des Lebensmittelverbrauchs am Gesamtverbrauch privater Haushalte. Selbst Zwei-Personen-Haushalte von Renten- und SozialhilfeempfängerInnen mit geringen Einkommen, die Ende der 50er Jahre knapp die Hälfte ihres Budgets für Nahrungsgüter ausgaben, verbrauchten in den 80er Jahren nur noch ein Viertel dafür" (Braun 1998, S.66). Nach dem Erreichen einer weitgehenden Sättigungsschwelle mit notwendigen Mitteln zum Leben erweisen sich zahlreiche Verfeinerungen z.B. von Haushaltsgeräten, die Produktion immer schnellerer Autos mit immer stärkeren PS-Zahlen, der modische Verschleiß von Textilartikeln, unzählige überflüssige Kinkerlitzchen als zunehmend irrational und unangemessen. Hinzu tritt noch der irrsinnige geplanten Verschleiß" zahlreicher Massenprodukte. Literatur:Andersen, Arne: Vom Industrialismus zum Konsumismus - Der Beginn einer neuen Phase der gesellschaftlichen Naturverhältnisse in den 1950er Jahren. In: Hermann Behrens, Gerd Neumann, Andreas Schikora (Hg.): Wirtschaftsgeschichte und Umwelt - Hans Mottek zum Gedenken. Umweltgeschichte und Umweltzukunft III. Forum Wissenschaft Studien Bd. 29, Marburg 1996, S.205-240.
Braun,
Anneliese: Arbeit ohne Emanzipation und Emanzipation ohne Arbeit?
Von der Notwendigkeit, Erwerbs- und Reproduktionsarbeit umzuorientieren.
Berlin 1998.
Hirsch,
Joachim, Roth, Roland: Das neue Gesicht des Kapitalismus.
Vom Fordismus zum Postfordismus. Hamburg 1986.
Krauss,
Hartmut: "Ökologische Frage", konsumistische Massenkultur
und Sozialstaatskrise als Knotenpunkte der spätkapitalistischen
Aporie. In: HINTERGRUND. Marxistische Zeitschrift für Gesellschaftstheorie
und Politik. Osnabrück II/97, S.6-26.
Krauss,
Hartmut: Jugendgewalt/Jugendkriminalität als sozialpathologische
Erscheinungsform im postfordistischen Kapitalismus. In: HINTERGRUND.
Marxistische Zeitschrift für Gesellschaftstheorie und Politik.
Osnabrück II/98, S.30-41.
Lutz,
Burkart: Der kurze Traum immerwährender Prosperität.
Eine Neuinterpretation der industriell-kapitalistischen Entwicklung
im Europa des 20. Jahrhunderts. Frankfurt am Main/New York 1984.
Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. Neuwied und Berlin 1970. Taylor, Charles: Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus. Frankfurt am Main 1995 (2. Auflage).
Taylor,
Charles: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen
Identität. Frankfurt am Main 1996 (2. Auflage). |
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GLASNOST, Berlin 1992 - 2019 |
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