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Beiträge zur Geschichte  









Hartmut Krauss

Einige Anmerkungen zum Werk Lenins aus kritisch-marxistischer Sicht

Mit seiner Rede "Zum Tode Lenins", gehalten auf dem II. Sowjetkongreß der UdSSR am 26. Januar 1924, legt Stalin den Grundstein für die Konstruktion und spätere Ausgestaltung des "Leninismus" als perfekt getarnte Legitimationsideologie der sowjetischen Partei- und Staatsführung. Kernaspekt dieser "Geburtsurkunde" des "Leninismus" ist ein kultischer Initiationsritus in Form der Einschwörung der Parteimitglieder auf das von Stalin "ausgedeutete" Vermächtnis Lenins. Verbunden mit der Formel "Wir schwören Dir, Genosse Lenin, daß wir dieses Dein Gebot in Ehren erfüllen werden!" benennt Stalin sechs Aspekte dieses Vermächtnisses:

1) Bewahrung der Reinheit der Partei; 2) sorgsame Hütung der Einheit der Partei; 3) Schutz und Festigung der Diktatur des Proletariats; 4) Festigung des Bündnisses der Arbeiter und Bauern; 5) Festigung und Erweiterung der Union der Republiken; 6) Festigung und Erweiterung der Kommunistischen Internationale und die Bewahrung der Treue zu deren Grundsätzen.

Es ist in diesem Kontext nicht möglich, die historische Blutspur des Stalinismus als Hochverrat und Treuebruch in allen sechs Punkten des selbstreklamierten Vermächtnisses zu verfolgen. Hervorzuheben ist aber, daß die Behauptung einer ungebrochenen Kontinuitäts- und Traditionslinie zwischen dem Lebenswerk Lenins und der sich anschließenden "Theorie" und Praxis des Stalinismus die zentrale Grundlage der realsozialistischen Legitimationsideologie bildet. Im Rahmen dieser ideologischen Diskursform wird Lenin zu einem unfehlbaren Genius mit übermenschlicher Geistes- und Schaffenskraft hochstilisiert, während seine konkreten Eigenschaften (Fähigkeiten, Tätigkeitsmerkmale, Charakterzüge etc.) in ihrer historischen Bedingtheit ausgeblendet bleiben. Nicht der "wirkliche" Lenin, sondern erst der selektiv preparierte Lenin-Mythos erweist sich innerhalb der stalinistischen/"realsozialistischen" Ideologie als funktional. Nur so kann der Umstand dauerhaft verschleiert werden, daß die Stalinsche Machteroberung eine "Konterrevolution unter dem Schutz der Roten Fahne" (Schneider 1992, S.219) gewesen ist.

Die Behauptung einer ungebrochenen Kontinuität zwischen dem Wirken Lenins und der sich anschließenden stalinistischen Entwicklungsetappe des vorgeblichen "Aufbaus des Sozialismus" ist in der bürgerlichen "Kommunismusforschung" und politischen Alltagsideologie mit umgekehrtem Wertungsvorzeichen übernommen bzw. "einfach-negatorisch" ins Gegenteil verkehrt worden1. D.h. unter Beibehaltung der Kontinuitätsthese wird der Heldengestalt des Lenin-Mythos das Bild vom "Erzverderber" Lenin entgegengesetzt, der für alle postmortalen Fehlentwicklungen und Schandtaten kausalmechanisch verantwortlich gemacht wird. Angesichts der Implosion des "realen Sozialismus" und der dadurch stimulierten bürgerlichen Triumphpropaganda finden sich zunehmend auch "fortschrittlich" drapierte Konjunkturritter, die auf der aktuellen Woge schwimmend zur vordergründig-indifferenten "Verurteilung" von progressivem Kulturerbe aufrufen (vgl. Hansen/Schulz 1994).

Eine wissenschaftlich-realistische und methodologiekritische Annäherung an die historische Gestalt Lenin muß demgegenüber mit der verbreiteten, auf vordergründige Suggestion und Analogiebildung zielenden Vorgehensweise brechen, retrospektiv 'Kontinuitäten' in die Geschichte 'hineinzulesen', d.h. den konkret-historischen Prozeß im Lichte seines Resultats teleologisch verzerrt zu rekonstruieren bzw. "von hinten glatt zu bügeln". Demnach sollten z.B. in Lenins Konzeptionen der revolutionären Partei und der 'Diktatur des Proletariats' der spätere Stalinismus bereits keimförmig angelegt sein. Dabei handelt es sich zumindest in folgender Hinsicht um ein grundsätzlich verfehltes Herangehen:

1) Im Sinne einer unverständigen Abstraktion wird der konkret-historische Handlungszusammenhang Lenins und die ihm innewohnende situationsspezifische Entscheidungslogik nicht wirklich untersucht, sondern so getan, als ob eine lineare Kausalität zur "postmortalen" Ereignisgeschichte bestehen würde. Schon der Umgang mit Lenins "Testament" seitens des bolschewistischen Führungszirkels verdeutlicht aber die Haltlosigkeit dieser Argumentation.

2) Die konkret-historisch vorgefundenen (bzw. tradierten) Verhältnisse determinieren nicht linear-mechanisch die nachfolgende gesellschaftliche Praxis, sondern eröffnen einen Alternativen enthaltenden Möglichkeitsraum mit unterschiedlichen Entwicklungsvarianten: Konservierung, Modifizierung, Bruch etc. Ein Spezifikum der Stalinschen Vorgehensweise besteht nun darin, sich auf tradiertes "Erbe" formal zu berufen und es gleichzeitig inhaltlich zu negieren und zu deformieren.

3) Es gibt keinen "Versicherungsschutz" gegen demagogische Entstellung, Konterkarierung und geistig-moralisch illegitime Ausschlachtung kontextspezifischer Aussagen, Handlungen, Beschlüsse etc.

Betrachtet man Lenin als "ganzheitlich" wirkende historische Gestalt mit einer phasenübergreifenden Identität und "zerlegt" ihn nicht mechanistisch in einzelne theoretisch-politisch Tätigkeitsaspekte (Lenin als Parteitheoretiker, Lenin als Revolutionsstratege, Lenin als Staatsmann, Lenin als Nationalitätenpolitiker etc.), dann erweist sich Lenin als schöpferischer, theoretisch und praktisch-politisch innovativer und zugleich partiell irrender, in seinen objektiv bedingten Erkenntnismöglichkeiten begrenzter Marxist, der die konkret-historisch vorgefundene gesellschaftlich-politische Widerspruchskonstellation in der Perspektive revolutionärer Veränderungsmöglichkeiten analysiert, strategische Schlußfolgerungen zieht und praktische "Taten" initiiert und anleitet. Dabei bildet sich Lenin insbesondere zum Theoretiker und Strategen der Handlungs- und Durchsetzungsfähigkeit der revolutionären Kräfte angesichts komplizierter "innerer" und "äußerer" Bedingungen, der die Machtbehauptungs- und konterrevolutionären Fähigkeiten der bürgerlich-imperialistischen Klassenkräfte adäquat in Rechnung zu stellen weiß. Wie Luk cs (1990, S.152) zutreffend hervorgehoben hat, ist das permanente Lernen ein wesentlicher Zug in Lenins Lebensführung gewesen: "Er hat sein Lernen von der Wirklichkeit nie als abgeschlossen angesehen, doch war das so Erworbene in ihm stets so geordnet und ausgerichtet, daß ein Handeln in jedem Augenblick möglich wurde." Hervorzuheben ist, daß Lenin im Wirkungsrahmen seiner politisch-theoretischen Biographie überaus erfolgreich gewesen ist. Das gilt a) für die Durchsetzung der "bolschewistischen Linie" im parteiinternen Streit der SDAPR, b) für den erfolgreichen Verlauf der Oktoberrevolution sowie c) für den siegreichen Ausgang des Krieges gegen die vereinigte Konterrevolution.

Der theoretischen und politisch-praktischen Durchdringung der konkret-historischen Widerspruchskonstellation nähert sich Lenin sukzessive anhand folgender Problemstellungen:

1) Entwicklung des Kapitalismus in Rußland und Formierungsprobleme der russischen Arbeiterbewegung;

2) Strukturveränderungen der kapitalistischen Systemreproduktion (Übergang zum "Monopolkapitalismus") und deren Auswirkungen auf die Klassenkampfentwicklung;

3) Entwicklungsmöglichkeiten und -perspektiven der russischen Revolution.

Im folgenden soll nun die Charakterisierung Lenins als historisch herausragende, zugleich schöpferische und partiell irrende marxistische Persönlichkeit anhand einiger relevanter Themen ein Stück weit verdeutlicht werden.

I. Lenins "Marxismus des subjektiven Faktors": Parteitheorie, Klassenbewußtseinskonzept und "Grundgesetz der Revolution"

Im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit dem russischen "Ökonomismus" kritisiert Lenin beharrlich die Annahme einer naturwüchsig-spontanen, quasi-automatischen revolutionären Bewußtwerdung der Arbeiterklasse. In Anknüpfung an Engels' Hinweis, "daß der Sozialismus, seitdem er eine Wissenschaft geworden, auch wie eine Wissenschaft betrieben, d.h. studiert werden will" (MEW 18, S.517), akzentuiert er die zentrale Funktion der revolutionären Theorie als subjektkonstituierendes Bildungsmittel des sich formierenden Proletariats:

"Ohne revolutionäre Theorie kann es auch keine revolutionäre Bewegung geben. Dieser Gedanke kann nicht genügend betont werden in einer Zeit, in der die zur Mode gewordene Predigt des Opportunismus sich mit der Begeisterung für die engsten Formen der praktischen Tätigkeit paart" (Lenin 1978,LW 5, S.379).

Die primäre Aufgabe der revolutionären Partei sieht Lenin unter diesem Blickwinkel in der Synthese von Wissenschaftlichem Sozialismus und Arbeiterbewegung, darin,

"in die spontane Arbeiterbewegung bestimmte sozialistische Ideale hineinzutragen, sie mit sozialistischen Überzeugungen, die auf dem Niveau der modernen Wissenschaft stehen müssen, zu verbinden, sie mit dem systematischen politischen Kampf für die Demokratie als ein Mittel zur Verwirklichung des Sozialismus zu verbinden, mit einem Wort, diese spontane Bewegung mit der Tätigkeit der revolutionären Partei zu einem unauflöslichen Ganzen zu verschmelzen" (Lenin 1960, LW 4, S.211).

Ausgehend von der historischen Erfahrungstatsache, daß die Arbeiterklasse im Rahmen ihrer spontanen Kämpfe nur ein systemimmanent-reformistisches ("trade-unionistisches") Bewußtsein hervorzubringen vermag, reflektiert Lenin den Bildungsprozeß von Klassenbewußtsein bzw. revolutionärem Bewußtsein - auf der Ebene des kollektiven Subjekts - als doppelseitige Aufgabenstellung: aus der Sicht der Arbeiterklasse als Aneignungsproblem; aus der Sicht der revolutionären Partei als Vermittlungsproblem. Organisations- bzw. Parteitheorie und (Entwicklungs)Theorie des proletarischen Klassenbewußtseins bilden bei Lenin dementsprechend eine "wechselwirkende" Einheit. Entgegen der situationsmodischen Diffamierung, die Leninsche Konzeption in ihrer orginären Gestalt inthronisiere die bolschewistische Partei "neuen Typs" als unfehlbare Instanz mit dem Ziel der permanenten Bevormundung/Beherrschung der Arbeiterklasse2, ist hier hervorzuheben, daß Lenin das Prinzip der Selbstkritik als unabdingbare Voraussetzung der "Vermittlungstätigkeit" der revolutionären Partei ansieht:

"Das Verhalten einer politischen Partei zu ihren Fehlern ist eines der wichtigsten und sichersten Kriterien für den Ernst einer Partei und für die tatsächliche Erfüllung ihrer Pflichten gegenüber ihrer Klasse und den werktätigen Massen. Einen Fehler offen zugeben, seine Ursachen aufdecken, die Umstände, die ihn hervorgerufen haben, analysieren, die Mittel zur Behebung des Fehlers sorgfältig prüfen - das ist das Merkmal einer ernsten Partei, das heißt Erfüllung ihrer Pflichten, das heißt Erziehung und Schulung der Klasse und dann auch der Masse" (Lenin 1983, LW 31, S.42).

Die stufenweise Entwicklung des proletarischen Klassenbewußtseins ist für Lenin an einen spezifischen Kommunikationsprozeß gebunden, in dessen Rahmen proletarische Erfahrungsreflektion und -artikulation einerseits sowie theoretische Wissens- und Informationsvermittlung andererseits eine produktive Synthese bilden. Dazu ist es aber erforderlich, "daß die Arbeiter sich nicht in dem künstlich eingeengten Rahmen einer 'Literatur für Arbeiter' abschließen, sondern daß sie es immer mehr lernen, sich die allgemeine Literatur zu eigen machen. Es wäre sogar richtiger, anstatt 'sich nicht abschließen' zu sagen: nicht abgeschlossen werden, denn die Arbeiter selbst lesen alles und wollen alles lesen, auch das, was für die Intelligenz geschrieben wird, und nur einige (schlechte) Intellektuelle glauben, 'für Arbeiter' genüge es, wenn man ihnen von den Zuständen in der Fabrik erzählt und längst bekannte Dinge wiederkäut" (Lenin 1978, LW 5, S.395).

Selbstbehinderndes Moment der Vermittlung von marxistischer Theorie und proletarischer Erfahrung ist die Wissenschafts- und Theoriefeindlichkeit innerhalb der Arbeiterklasse sowie der daraus hervorgehende Antiintellektualismus. Auf die Frage, in welcher Schicht der Arbeiterschaft der Antiintellektualismus am stärksten ausgeprägt ist, hat Mandel (1970, S.193) folgende Antwort gegeben: "Offensichtlich in jenen Schichten, die durch ihren sozialökonomischen Status am nachhaltigsten Konflikten mit der geistigen Arbeit ausgesetzt sind, also vor allem bei Arbeitern in den durch den technischen Fortschritt bedrohten Klein- und Mittelbetrieben, bei Arbeitern, die sich durch persönliche Anstrengung als Autodidakten aus der Masse hervorgehoben haben, und Arbeitern, die sich zur Spitze bürokratischer Organisationen vorgearbeitet haben... Diese Schichten waren auch die Hauptstützen der Mehrheitssozialdemokratie in den entscheidenden Jahren der deutschen Revolution 1919-1923."

Den Brennpunkt der Leninschen Konzeption bildet folglich die (epochenspezifische) Vermittlung von marxistischer Theorie und proletarischer ("präfordistischer") Klassenerfahrung angesichts a) der historischen und strukturellen Dominanz der bürgerlichen Ideologie; b) der politischen Spaltung der Arbeiterbewegung und c) der aufkeimenden und sich verfestigenden Differenzierung der Arbeiterklasse in "Arbeiteraristokratie" und Masse der "einfachen" Arbeiter. In scharfem Kontrast zur "attentistischen" Fortschrittsgläubigkeit des zeitgenössischen Vulgärmarxismus betont Lenin die Möglichkeit/Wahrscheinlichkeit des Widerspruchs zwischen objektiver gesellschaftlicher Krisenverschärfung einerseits und (disparatem) Entwicklungsstand des subjektiven Faktors andererseits als zentrale Herausforderung für die Tätigkeitsgestaltung der revolutionären Kräfte:

"Es wäre falsch zu glauben, daß die revolutionären Klassen immer über genügend Kraft verfügen, um einen Umsturz zu bewerkstelligen, wenn dieser auf Grund der gesellschaftlich-ökonomischen Entwicklung vollauf herangereift ist. Nein, die menschliche Gesellschaft ist nicht so vernünftig eingerichtet und nicht so 'bequem' für die fortgeschrittenen Elemente. Der Umsturz kann herangereift sein, allein die Kräfte der revolutionären Schöpfer dieses Umsturzes können sich als ungenügend erweisen, ihn zu bewerkstelligen - dann fault die Gesellschaft, und diese Fäulnis kann Jahrzehnte hindurch andauern" (Lenin 1982, LW 9, S.367).

Die wissenschaftliche Reflexion des Übergangsprozesses von der kapitalistischen zur sozialistischen Gesellschaftsform kann folglich nicht bei der Feststellung von objektiven Entwicklungsnotwendigkeiten stehen bleiben. In dieser Perspektive ist es bedeutsam, daß Lenin in seinem 'Grundgesetz der Revolution' die revolutionäre (gesamtnationale) Krise als subjekt-objekt-dialektischen Zusammenhang bestimmt hat, in dem die revolutionäre Subjektwerdung der Mehrheit der Arbeiterklasse als zentrales Konstitutionsmoment fungiert. Demnach "ist zur Revolution notwendig: erstens, daß die Mehrheit der Arbeiter (oder jedenfalls die Mehrheit der klassenbewußten, denkenden, politisch aktiven Arbeiter) die Notwendigkeit des Umsturzes völlig begreift und bereit ist, seinetwegen in den Tod zu gehen ..." (Lenin 1983, S. 71f.; Hervorh. v. Verf.).

Schon zuvor hatte Lenin (1984, S. 207) klargestellt, daß "nicht aus jeder revolutionären Situation eine Revolution hervorgeht, sondern nur aus einer solchen Situation, in der zu den ... objektiven Veränderungen noch eine subjektive hinzukommt, nämlich die Fähigkeit der revolutionären Klasse zu revolutionären Massenaktionen, genügend stark, um die alte Regierung zu stürzen (oder zu erschüttern), die niemals, nicht einmal in einer Krisenepoche, 'zu Fall kommt', wenn man sie nicht 'zu Fall bringt'."

Lenin unterscheidet folglich zwischen den objektiven (subjektunabhängigen) Merkmalen einer revolutionären Situation einerseits und bestimmten subjektiven Voraussetzungen (Bedingungen) andererseits, wobei erst durch das Vorhandensein der letzteren aus der objektiv gegebenen (potentiellen) revolutionären Situation ein revolutionärer Prozeß resultiert: dem subjektiven Faktor wird damit die 'conditio sine qua non' zugesprochen.

Lenins Überlegungen und Schlußfolgerungen markieren sowohl in politischer als auch in theoretischer Hinsicht einen Bruch mit dem zeitgenössischen Vulgärmarxismus und implizieren darüberhinaus eine Vertiefung bzw. Weiterentwicklung der Marxschen Theorie gerade auf dem Gebiet des "subjektiven Faktors". Wie Mandel, für den Lenin zusammen mit Rosa Luxemburg, Trotzki, Luk cs und Gramsci den "Marxismus des subjektiven Faktors" repräsentiert, zutreffend bemerkt hat, spricht Lenin offen aus, "was Marx nur angedeutet hat und seine Epigonen kaum verstanden, nämlich daß es weder einen 'automatischen' Umsturz der kapitalistischen Gesellschaftsordnung noch eine 'spontane' Ablösung dieser Gesellschaftsordnung durch eine sozialistische Gesellschaft geben kann" (Mandel 1970, S.153).

Allerdings sind auch die Grenzen und Schwachstellen der organisations- und bewußtseinstheoretischen Konzeption Lenins kritisch in Rechnung zu stellen:

1) Der Begriff des "proletarischen Klassenbewußtseins" als subjektive Voraussetzung der "historischen Mission der Arbeiterklasse" wird inhaltlich nicht genügend expliziert. Seine Wesensmerkmale im Verhältnis zum spontanen "nur-gewerkschaftlichen" Bewußtsein, zu "rechts- und linksopportunistischen" Einstellungen sowie zu retardierten Formen des "Arbeiterbewußtseins" werden nicht systematisch dargelegt. Ebenso bleibt der "selbsttranszendierende" Status des Klassenbewußtseins als (revolutionäre) Einsicht in die allgemeingesellschaftliche Not-Wendigkeit der Überwindung der klassenantagonistischen Zivilisation bei Lenin mitunter im Dunklen. Manchmal hat es den Anschein, "Klassenbewußtsein" würde verkürzt auf das handlungsrelevante Bekenntnis zur revolutionären Machtergreifung und postrevolutionären Machtbehauptung des Proletariats.

2) Lenins theoretische Bemühungen konzentrieren sich auf die Aufschlüsselung der Wechselbeziehungen zwischen Partei, Klasse und Masse sowie deren Gestaltung im Interesse der sozialistischen Revolution. Damit bleibt aber sein Reflexionshorizont im wesentlichen auf die kollektive Ebene der Subjektentwicklung beschränkt. Die "Individualgenese" des proletarischen Klassenbewußtseins, darin eingeschlossen das Verhältnis von "Gesellschaftserkenntnis" und "Selbsterkenntnis", wird nicht erfaßt. Entsprechend wird das Problem der Aneignung von Klassenbewußtsein "kognitivistisch" auf Wissensvermittlung bzw. Nachvollzug der wesentlichen Erkenntnisse des "Wissenschaftlichen Sozialismus" im individuellen Denken reduziert, während die emotional-motivationale Seite der proletarischen Bewußtseinsentwicklung ausgeblendet bleibt. Die Entwicklung einer Subjektivitätskonzeption auf materialistisch-dialektischer Grundlage steht also trotz Lenins "Marxismus des subjektiven Faktors" weiterhin aus.

3) Der Monopolkapitalismus/Imperialismus in seiner "präfordistischen" Gestalt und mit seiner konkret-spezifischen Widerspruchsdynamik ist die für Lenin erkenntnis- und praxisrelevante Realität. Entsprechend ist die Existenzweise für die Masse der LohnarbeiterInnen noch weitgehend ungebrochen durch den Charakter der Proletarität geprägt, d.h., so Engels, durch "die Unsicherheit der Lebensstellung, die Notwendigkeit, vom Lohn aus der Hand in den Mund zu leben, kurz das, was sie (die Arbeiter, H.K.) zu Proletariern macht (MEW 2, S.344). Vergleichsweise unkompliziert "funktioniert" deshalb auch noch der "Mechanismus" der spontanen ("trade-unionistischen") Interessenbildung und Formierung der Arbeiterklasse als Voraussetzung für die politische Agitation der revolutionären Partei. Lenins Reflexionshorizont bleibt folglich weitgehend durch den "Verelendungsdiskurs" bestimmt. Zudem erwächst aus der konkret-historischen Zuspitzung der kapitalistischen Systemwidersprüche (samt der kriegerischen Austragung der zwischenimperialistischen Interessenkonflikte) ein Aufschwung der spontanen Klassenkämpfe, der die Möglichkeit einer herannahenden Revolution als realistisch erscheinen läßt. Gerade auf dieser epochenspezifisch-realistischen Revolutionsperspektive und dem damit gegebenen Möglichkeitsfeld basiert aber die Leninsche Organisations- und Bewußtseinskonzeption als konkret-historische Weiterentwicklung des Marxismus.

II. Zum ambivalenten Charakter der Leninschen Imperialismustheorie

In seiner Imperialismusanalyse hat Lenin folgende qualitativen Wandlungsprozesse der kapitalistischen Systemreproduktion herausgearbeitet und damit die "klassische" Kapitalismusanalyse gemäß der objektiven Veränderungsprozesse fortgeschrieben:

1. die strukturelle Differenzierung des gesellschaftlichen Gesamtkapitals in Gestalt der Herausbildung von monopolistischen Großunternehmen mit der tendenziellen Fähigkeit zu dauerhafter Fixierung von Konkurrenzvorteilen in allen Phasen des Verwertungsprozesses (Verschmelzung von Bank- und Industriekapital);

2. die Verstärkung des Expansionsdranges der nationalstaatlich gestützten Monopolkapitale in Form zunehmender kolonialistischer Eroberungskonkurrenz und verstärkten Kapitalexports mit dem Effekt der Vertiefung zwischenimperialistischer Widersprüche bis hin zu kriegerischen Auseinandersetzungen;

3. die Herausbildung starker imperialistischer Macht-Staaten zwecks Absicherung der monopolistischen Expansion nach außen und Herrschaftssicherung angesichts einer starken sozialistisch orientierten Arbeiterbewegung nach innen;

4. die Ablösung des Liberalismus als dominierender Variante bürgerlicher Ideologie durch Chauvinismus, Rassismus und Militarismus;

5. die Entstehung des Opportunismus als sozialökonomisch bedingte Erscheinung innerhalb der internationalen Arbeiterbewegung.

Wie bereits Luk cs festgestellt hat, liegt die Bedeutung der Leninschen Imperialismustheorie - im Vergleich zu Hilferding ("Das Finanzkapital" 1910) oder Rosa Luxemburg ("Die Akkumulation des Kapitals" 1913) - weniger auf im engeren Sinne wirtschaftswissenschaftlichem Gebiet, sondern vielmehr darin, daß es Lenin gelungen ist, die ökonomische Theorie des Imperialismus restlos mit allen politischen Fragen der Gegenwart konkret zu verknüpfen" (Luk cs 1990, S.82). D.h. Lenins Imperialismustheorie ist das Resultat einer konkreten Analyse der konkret-historisch gegebenen Gestalt des Kapitalismus unter besonderer Berücksichtigung der aktuellen Handlungmöglichkeiten und -erfordernisse der revolutionären Kräfte. Aufgezeigt wird die aus dem Wesen des Monopolkapitals sich ergebende Widerspruchsdynamik am Vorabend des ersten Weltkriegs.

Unter dem Aspekt ihres universellen (allgemeintheoretischen und historisch-epochalen) Gültigkeitsanspruchs weist die Imperialismustheorie allerdings gravierende Mängel auf:

1) Mit der Herausarbeitung der Monopolbildung als prägender Strukturform des gesellschaftlichen Gesamtkapitals wird de facto nur eine, wenn auch wesentliche Seite innerhalb des "Selbstumwandlungsprozesses" der kapitalistischen Systemreproduktion erfaßt. Indem Lenin aber auf der Grundlage dieser "eindimensionalen" Sichtweise die These aufstellt, zwischen der ihm gegenwärtigen Form des Monopolkapitalismus und dem Sozialismus gäbe keine Zwischenstufe mehr, unterliegt er einem folgenschweren Irrtum. Ausgeblendet bzw. begrifflich unzureichend erfaßt bleiben nämlich jene grundlegenden Aspekte der ökonomisch-sozialen und politisch-kulturellen Umgestaltungs- und Veränderungsdynamik der Kapitalreproduktion, die sich später zur Entwicklungsform des "fordistischen Kapitalismus" verdichten. Im Einzelnen wären das die korrespondierenden Veränderungsprozesse in der Produktionstechnologie, im betrieblichen Arbeitsregime, in den Ausbeutungs- und Reproduktionsformen der Lohnarbeit, in der politisch-ideologischen Regulierung der Klassenbeziehungen etc., die schließlich entscheidend zur Restabilisierung des Kapitalismus und zur "Befriedung" der Arbeiterbewegung beigetragen haben.

2) Der zweite Schwachstelle der Leninschen Imperialismustheorie ist in der 'Überverallgemeinerung' bzw. linearen Fortschreibung historisch-spezifischer Situationsmerkmale des zeitgenössischen (Monopol-)Kapitalismus (1914-1918) zu sehen, die sich letztendlich in der Fehlbestimmung des historischen Platzes des Imperialismus als 'sterbender Kapitalismus' bzw. 'Vorabend der proletarischen Revolution' manifestiert. "Diese Sicht, die sich in den folgenden Jahren und Jahrzehnten als immer weniger haltbar erwies, weil sie die Lern- und Anpassungsfähigkeit des modernen Kapitalismus unterschätzte, wurde in KPD und KOMINTERN nicht nur nicht korrigiert, sondern sogar noch übersteigert. Hier wirkte neben dem revolutionären Aktivismus, der häufig den Wunsch für die Wirklichkeit nahm, ein Geschichtsverständnis hemmend, ... das tatsächliche oder scheinbare Gesetzmäßigkeiten gesellschaftlicher Entwicklung vom Geschichtssubjekt abkoppelte und dieses gleichsam als Vollstrecker solcher mit Notwendigkeit wirkender Gesetzmäßigkeit mißdeutete" (Kinner 1990, S. 336).

III. Lenins Beitrag zur Entwicklung der materialistisch-dialekischen Denkmethode

Wie Haug (1994, S.212) zutreffend formuliert hat, geht es "vom Standpunkt eines sich erneuernden Marxismus" darum, "Lenin aus dem Marxismus-Leninismus (als stalinistisch geformter Legitimationsideologie, H.K.) zurückzugewinnen". Dabei gilt es zunächst folgenden qualitativen Bruch deutlich zu machen: Während Stalin Theorie und Methode mechanistisch voneinander trennt und die Auffassung kanonisiert, daß die Methode dialektisch und die Theorie materialistisch sei3, ist für Lenins weltanschaulich-theoretische bzw. philosophische Position die untrennbare, d.h. zugleich dialektische und materialistische Einheit von menschlicher Praxis, Erkenntnistätigkeit und objektiver Realität grundlegend. "Die Tätigkeit des Menschen, der sich ein objektives Weltbild gemacht hat, verändert die äußere Wirklichkeit, hebt ihre Bestimmtheit auf (= verändert diese oder jene ihrer Seiten, ihrer Qualitäten) und nimmt ihr auf diese Weise die Züge des Scheins, der Äußerlichkeit und Nichtigkeit, macht sie zur an und für sich seienden (= objektiv wahren)" (Lenin 1981, LW 38, S.209). Lenins vielfach hervorgehobene Kompetenz zur "konkreten Analyse der konkreten Bedingungen" fällt nicht etwa vom Himmel der reinen Begabung, sondern ist, wie seine Lebensgefährtin N.K.Krupskaja (1959, S.333) bezeugt hat, einem intensiven und systematischen Studium geschuldet: "Das Ziel seiner philosophischen Studien war, sich eine Methode zu eigen zu machen, die die Philosophie in eine konkrete Anleitung zum Handeln umgestalten konnte."

Die in den "Philosophischen Heften" niedergelegten Studien, die überwiegend aus den Jahren 1914/1915 stammen und insbesondere der gedanklichen Durchdringung der wesentlichen Bestimmungsmerkmale der Dialektik in materialistischer Perspektive gewidmet sind, weisen einen unabgeschlossenen, improvisatorischen, heuristischen, begrifflich-experimentellen, ja "tastenden" Charakter auf4. Sie lassen sich deshalb keinesfalls als eine Sammlung "endgültig" ausgearbeiteter, "fertiger" Lehrsätze aufbereiten bzw. als Dogmen kanonisieren. Allerdings enthalten sie reichhaltiges (anregendes) Material a) zur Ausarbeitung einer materialistisch-dialektischen Systemtheorie als "ganzheitlich" orientierter Wissenschaft des "Gesamtzusammenhangs" sowie b) zur Entwicklung einer materialistisch-dialektischen Erkenntnis- bzw. Denkmethode.

Zu a): Logik, gefaßt als dialektische Logik, ist für Lenin nicht die Lehre von den äußeren Formen des Denkens, "sondern von den Entwicklungsgesetzen 'aller materiellen, natürlichen und geistigen Dinge', d.h. der Entwicklung des gesamten konkreten Inhalts der Welt und ihrer Erkenntnis, d.h. Fazit, Summe, Schlußfolgerung aus der Geschichte der Erkenntnis der Welt (Lenin 1981, LW 38, S.84f.). D.h. Lenin begreift Dialektik als materialistisch konstituierte Einheit von Ontologie und Logik, von Sein und Denken/Erkennen. Entsprechend entwirft er in seinem Konspekt zu Lassalles Buch über die Philosophie des Herakleitos einen Plan zur Rekonstruktion des geschichtlichen Entwicklungszusammenhangs von materiellem Sein (objektive Dialektik) und Widerspiegelung/Bewußtsein (subjektive Dialektik). Dabei nennt er folgende Wissensgebiete, "aus denen sich Erkenntnistheorie und Dialektik aufbauen sollen:

Geschichte der Philosophie

Geschichte der einzelnen Wissenschaften

Geschichte der geistigen Entwicklung des Kindes

Geschichte der geistigen Entwicklung der Tiere

Geschichte der Sprache NB:

+ Psychologie

+ Physiologie der

Sinnesorgane" (ebenda, S.335)5.

Wie Jantzen (1990, S.196) bereits zutreffend hervorgehoben hat, strebt Lenin damit etwas ganz anderes an als die Dogmatisierung der Dialektik in Gestalt der drei Grundgesetze. Ihm geht es vielmehr um "die Historisierung der Dialektik als Forschungsprogramm zur Erfassung der Selbstbewegung der Welt" bzw. um das, "was man heute modern 'Theorie der Selbstorganisation der Welt' nennt".

Zu b): Wie Lenin in enger Anlehnung an Hegel hervorhebt, enthüllt der Begriff (bzw. die Erkenntnis) im Sein (in den unmittelbaren Erscheinungen) das Wesen - "dies ist wirklich der allgemeine Gang aller menschlichen Erkenntnis (aller Wissenschaft) überhaupt" (Lenin 1981, LW 38, S.315). Da sich die "objektive Dialektik" der Dinge, Prozesse, Erscheinungen etc. in ihrer "Wesentlichkeit" nicht unmittelbar (sinnlich-konkret) dem menschlichen Bewußtsein "offenbart", bedarf es einer transempirischen "Rekonstruktion des Wesentlichen" im Prozeß der kognitiven Verarbeitung der dialektischen Wirklichkeit. Die "objektive Dialektik" ist folglich durch die "subjektive Dialektik" als Erkenntnismethode bzw. Leitfaden zur gedanklichen Rekonstruktion der Wesensbestimmungen des "Weltgeschehens" zu komplettieren. In seinem "Konspekt zur Wissenschaft der Logik. Die Lehre vom Begriff" entwirft Lenin anhand seiner "Elemente der Dialektik" folgende Konstitutionsprinzipien einer materialistisch-dialektischen Denkmethode:

1) Objektivität: D.h. Rekonstruktion der Wesensbestimmungen des ausgegliederten Erkenntnisgegenstandes ohne subjektive "Zutaten" und spekulative Vorannahmen, idealistische Setzungen etc. Lenin fordert: "das Ding selbst soll in seinen Beziehungen und in seiner Entwicklung betrachtet werden" (ebenda, S.212).

2) Totalitätsorientierung: Eingedenk der Hegelschen Aussage "Das Wahre ist das Ganze" ist der Erkenntnisgegenstand "umfassend" und "allseitig" in seiner inneren und äußeren Beziehungsstruktur zu erfassen. Es gilt folglich die "ganze Totalität der mannigfaltigen Beziehungen dieses Dings zu den anderen" zu reflektieren; also den Erkenntnisgegenstand in der Komplexität seiner realen Zusammenhänge zu studieren.

3) Entwicklungsorientierung: Die innere und äußere Struktur des Erkenntnisgegenstandes ist als geronnener Prozeß sowie als Ausgangsniveau zukünftiger Veränderungsprozesse zu rekapitulieren. Das Ding/die Erscheinung ist folglich als Produkt seiner/ihrer Selbstbewegung, d.h. in seiner/ihrer Gewordenheit (vollzogenen Höherentwicklung) und Veränderungsperspektive (Aufhebung/Vergänglichkeit) zu denken.

4) Widerspruchsorientierung: Die Entwicklungorientierung konkretisiert sich in der Aufdeckung der zugrundeliegenden (bewegungsverursachenden) Widersprüche, d.h. in der Erfassung der "innerlich widersprechenden Tendenzen (und # Seiten) in diesem Ding". Lenin bestimmt das Ding/die Erscheinung "als Summe und Einheit der Gegensätze" und betont den "Kampf resp. Entfaltung dieser Gegensätze, der widersprechenden Bestrebungen etc." (ebenda, S.213). Damit ist für ihn der "Kern der Dialektik" bezeichnet.

5) Analyse/Synthese: Aus der strukturanalytischen "Totalitätsorientierung" folgt die "Vereinigung von Analyse und Synthese - das Zerlegen in einzelne Teile und die Gesamtheit, die Summierung dieser Teile" (ebenda).

6) Unabschließbare Selbstoptimierung des Erkenntnisprozesses: In einer Reihe von "Elementen der Dialektik" umreißt Lenin die menschliche Erkenntnis als "unendlichen Prozeß der Erschließung neuer Seiten, Beziehungen etc.", als Aufsteigen "von den Erscheinungen zum Wesen und vom weniger tiefen zum tieferen Wesen" (ebenda), zur Optimierung der Zusammenhangserkenntnis u.s.w.

IV. Lenins historische Tat: Die Oktoberrevolution und der Ziel-Mittel-Widerspruch Sowjetrußlands

Die Oktoberrevolution, die ohne Lenins theoretisch-analytischen und praktisch-organisatorischen Einsatz wohl nicht zustande gekommen wäre, ist die Realisierung einer (unter spezifischen Voraussetzungen sich entwickelnden) konkret-historischen Möglichkeit jenseits des zeitgenössischen orthodox-marxistischen Erwartungshorizonts. Indem Lenin als erster klar erkannte, daß eine "nur" bürgerliche Revolution in Rußland weder imstande war die Agrarfrage zu lösen (vollständige Befreiung der Bauern von feudalen Fesseln), noch die drohende nationale Katastrophe abzuwenden (Ausscheiden aus dem imperialistischen Krieg), vermochte er auch die Dynamik der revolutionären Massenstimmung adäquat einzuschätzen und die politische Praxis der bolschewistischen Partei entsprechend auszurichten. Nur gestützt auf Lenins situationsanalytische Begabung und die damit korrespondierende handlungsstrategische Flexibilität konnten also die Bolschewiki die revolutionsnotwendige Hegemoniefähigkeit zu erlangen. "Diese Hegemoniefähigkeit der Bolschewiki zumindest im städtischen Proletariat plus Lenins Definitions- und Entscheidungskompetenz unterstreichen den Stellenwert, den einzelne Persönlichkeiten zeitweise erreichen können" (Becker/Zöller 1994, S.48f.).

Allerdings zeigte sich rasch die kolossale "postrevolutionäre" Problemstruktur Sowjetrußlands. Folgende "Knotenpunkte" sind hier zu nennen:

* Die ererbte sozialökonomische und kulturelle Rückständigkeit.

* Das Ausmaß der Kriegszerstörungen infolge des 1. Weltkriegs, später dann des Bürgerkriegs und der ausländischen konterrevolutionären Intervention.

* Die Nichtidentität der Interessen des revolutionären Proletariats und der Interessen der Bauern.

* Das Ausbleiben revolutionärer Umwälzungen im Westen, während Lenin und die Bolschewiki von der Revolution in ganz Europa ihre "Rettung aus all diesen Schwierigkeiten" erhofft hatten.

* Die sich phasenweise zuspitzenden Fraktionierungen der KPR (B) als Folge unterschiedlicher politisch-ideologischer und stategischer Orientierungen.

Die Eroberung der politischen (Staats-)Macht durch die revolutionären Arbeiter und Bauern unter Führung der bolschewistischen Partei ist angesichts dieser spezifischen Bedingungen nicht die unmittelbare logisch-historische Vorstufe für den Aufbau des Sozialismus, sondern zunächst die strukturelle Voraussetzung für die Möglichkeit eines gegenüber Westeuropa und Nordamerika alternativen Übergangs, "um die grundlegenden Voraussetzungen der Zivilisation zu schaffen...Wenn zur Schaffung des Sozialismus ein bestimmtes Kulturniveau notwendig ist..., warum sollten wir also nicht damit anfangen, auf revolutionärem Wege die Voraussetzungen für dieses bestimmte Niveau zu erringen, und dann schon, auf der Grundlage der Arbeiter- und Bauernmacht und der Sowjetordnung, vorwärtsschreiten und die anderen Völker einholen" (Lenin 1982a, LW 33, S.464).

Angesichts dieser Konstellation sah sich die KPR (B) als erklärte Avantgarde der Revolution mit einem tiefgreifenden Ziel-Mittel-Widerspruch der gesellschaftlichen Entwicklung Sowjetrußlands konfrontiert, der folgende konfligierenden 'Seiten' beinhaltete: Einerseits als geistig-moralischer Zielhorizont der Aufbau einer sozial gerechten, ausbeutungs- und herrschaftsfreien, die Selbstentfaltung der 'assoziierten' Individuen fördernden Gesellschaft; andererseits die ökonomische, politische und kulturelle Rückständigkeit und damit das Fehlen adäquater 'Entwicklungsmittel' des Aufbaus und der Selbstorganisation einer sozialistischen Gesellschaft. Als fehlende 'Entwicklungsmittel' sind hier nicht nur entsprechende Produktivkräfte (z.B. materiell-technische Produktionsvoraussetzungen; Qualifikationen etc.) anzuführen, sondern ebenso das Nichtvorhandensein einer funktionalen politischen Kultur; insbesondere der archaische, amorphe Zustand der societe civile (Zivilgesellschaft) im Sinne Gramscis, sowie ein Zustand "halbasiatischer Kulturlosigkeit", der den 'subjektiven Faktor' der russischen Gesellschaft entscheidend prägte: "Der zurückgebliebene Bauer, der halbgebildete Arbeiter, der stumpfsinnige, initiativlose Beamte, der auf asiatische Weise handelnde Kaufmann und der lebensfremde Intellektuelle - das waren die hauptsächlichen Typen, mit denen die Sowjetmacht arbeiten mußte" (Plimak 1990, S. 45).6 Als schöpferischer Marxist und revolutionärer Realist erkannte Lenin, daß der 'nichtklassische' Charakter der russischen Revolution eine 'nichtklassische' strategische Antwort, eine Modifizierung herkömmlicher Orientierungsmuster erfordert. Bedeutsam ist hier vor allem die Einsicht, daß es unter den spezifischen Bedingungen Sowjetrußlands einer 'Zwischenperiode' bedarf, um die allseitige strukturelle Rückständigkeit zu überwinden und die 'zivilisatorischen' Voraussetzungen für den Übergang zum Sozialismus zu schaffen. Drei aufeinander aufbauende und inhaltlich korrespondierende strategische Antworten in Verarbeitung des skizzierten Ziel-Mittel-Widerspruchs formuliert Lenin zwischen Frühjahr 1918 und März 1923:

1.) In Auseinandersetzung mit den 'linken Kommunisten' arbeitet Lenin in seinen Schriften "Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht" (Lenin 1971a) und "Über 'linke' Kinderei und Kleinbürgerlichkeit" (Frühjahr 1918, Lenin 1971b) die Notwendigkeit heraus, in Anbetracht der 'kolossalen' Problemstruktur Sowjetrußlands handlungsstrategische Zugeständnisse in Gestalt von Abweichungen vom idealtypischen Modell des 'Kommune-Staates' zuzulassen; was nichts anderes bedeutet, als die praktisch erzwungene Revision von Orientierungen, die Lenin noch in "Staat und Revolution" ausgearbeitet hatte:

a) Die Bildung der Roten Armee erfolgt - unter Einbeziehung alter Militärspezialisten - als Wehrpflichtigenarmee anstelle der Schaffung einer Volksmiliz, die ursprünglich der bewaffnete Arm der Revolution sein sollte (vgl. Bettelheim 1975, S. 231ff.).

b) Die Gewinnung bürgerlicher Spezialisten auf 'bürgerliche Art', d.h. gegen hohe Bezahlung, wird von Lenin zwar als Rückschritt, aber als unabdingbar erachtet: "Ohne die Anleitung durch Spezialisten der verschiedenen Zweige des Wissens, der Technik und der Praxis ist der Übergang zum Sozialismus unmöglich ... Wir mußten ... zu dem alten, bürgerlichen Mittel greifen und uns mit einer sehr hohen Bezahlung der 'Dienste' der bedeutendsten bürgerlichen Spezialisten einverstanden erklären ... Es ist klar, daß eine solche Maßnahme ein Kompromiß, eine Abweichung von den Prinzipien der Pariser Kommune und jeder proletarischen Macht ist, die fordern, daß die Gehälter dem Lohn des Durchschnittsarbeiters angeglichen werden ... " (Lenin 1971a, S. 339f.).

c) Infolge des niedrigen Entwicklungsniveaus der 'Arbeitskultur' sowie der Erfordernisse der maschinellen Großindustrie betont Lenin die Notwendigkeit der Einzelleitung der sowjetischen Betriebe. "Wir müssen es lernen, den stürmischen ... Versammlungsdemokratismus der werktätigen Massen zu verbinden mit eiserner Disziplin während der Arbeit, mit der unbedingten Unterordnung unter den Willen einer Einzelperson, des sowjetischen Leiters, während der Arbeit" (ebenda, S. 365; Hervorh. i. Original).

d) Gegenüber den linken Kommunisten, die sich abstrakt an die 'klassische', 'reine' Form des revolutionären Übergangs zum Sozialismus klammern, hebt Lenin hervor, daß - unter der ausschlaggebenden Bedingung der 'Diktatur des Proletariats' a) der Staatskapitalismus angesichts der heterogenen ökonomischen Struktur Rußlands ein 'Entwicklungspartner' im Kampf gegen die Kleinbourgeoisie ist und b) einen gewaltigen Schritt vorwärts bedeutet, da er ökonomisch unvergleichlich höher steht "als unsere jetzige Wirtschaftsweise".7

2.) In Reaktion auf die Krise des 'kriegskommunistischen' Regulierungsmodells nach dem militärischen Sieg über die 'innere' und 'äußere' Konterrevolution und unter dem Eindruck von Bauernaufständen, Streiks und Massendemonstrationen bis hin zur 'Kronstädter Meuterei' setzt sich Lenin für die Durchsetzung der 'Neuen Ökonomischen Politik' (NÖP) ein, die einen radikalen Bruch mit dem 'kriegskommunistischen' Voluntarismus und Utopismus darstellt. Den Wesenskern der NÖP bildet die Rekonstruktion des Bündnisses zwischen Arbeiterklasse und werktätiger Bauernschaft auf erneuerter sozialökonomischer Grundlage. Um den ökonomischen Interessen der Bauern zu entsprechen und die Agrarproduktion zu reorganisieren, wurden mit dem Dekret vom 21.03.1921 die Ablieferungspflicht abgeschafft und durch die Naturalsteuer ersetzt. Ferner wurde die Handelsfreiheit der Bauern auf lokaler Ebene hergestellt. Entgegen der Logik des 'Kriegskommunismus' wurden die staatlichen Betriebe auf wirtschaftliche Rechnungsführung umgestellt und angesichts des Scheiterns der 'proletarischen Naturalwirtschaft' auf die Ausnutzung der Ware-Geld-Beziehungen und des Handels orientiert. In Reaktion auf die nicht verstummende orthodox-dogmatische Kritik an der NÖP hob Lenin hervor, daß der Kapitalismus im Vergleich zum Sozialismus ein Übel sei. Im Vergleich zum Mittelalter, gegenüber der zersplitterten Kleinproduktion und dem damit zusammenhängenden Bürokratismus sei er hingegen ein Segen. "Insofern wir noch nicht imstande sind, den unmittelbaren Übergang von der Kleinproduktion zum Sozialismus zu verwirklichen ... insofern müssen wir uns den Kapitalismus zunutze machen (besonders indem wir ihn in das Fahrwasser des Staatskapitalismus leiten) als vermittelndes Kettenglied zwischen der Kleinproduktion und dem Sozialismus, als Mittel, Weg, Behelf, Methode zur Steigerung der Produktivkräfte" (Lenin 1982b, S. 364).

3.) In seinen letzten Artikeln und Briefen, aufgezeichnet zwischen dem 23. Dezember 1922 und dem 2. März 1923, entwik kelt Lenin weitreichende Gedanken über die Aufgaben des Aufbaus des Sozialismus in der Sowjetunion. Folgende wesentlichen Aspekte dieser Leninschen Sozialismusperspektive sind hervorzuheben:

a) Lenin unterbreitet konkrete Vorschläge, um den bürokratischen Entartungstendenzen im Partei- und Staatsapparat gezielt entgegenwirken zu können. Dabei geht es ihm insbesondere um die Herausbildung eines neuen Typs von Leitungskadern, der folgende Anforderungsdimensionen in sich vereint: hohe Moral, charakterliche Festigkeit, umfassende Bildung, fachliche Kompetenz, Feingefühl im Umgang mit Menschen, administratives Vermögen. Was das Tempo der Herausbildung dieses neuen Kaderniveaus anlangt, rät Lenin zu Geduld: "Für den Anfang sollte uns eine wirkliche bürgerliche Kultur genügen, für den Anfang sollte es uns genügen, wenn wir ohne die besonders ausgeprägten Typen vorbürgerlicher Kultur auskommen, d.h. der Beamten- oder der Leibeigenschaftskultur usw. In Kulturfragen gibt es nichts Schädlicheres als Übereile und Leichtfertigkeit"(Lenin 1982c, S. 474).

b) Die zweite zentrale Aufgabe, die ebenso wie die 'Umgestaltung des Apparats' eine ganze Epoche umfaßt, sieht Lenin in der kulturellen Arbeit für die Bauernschaft. Die systematische Höherentwicklung des Kulturniveaus der Bauernschaft (als der übergroßen Masse) ist eine Entwicklungsnotwendigkeit im Interesse der Heranführung der Landbevölkerung an den Sozialismus. Dabei kommt den Genossenschaften eine zentrale strategische Bedeutung zu, da sie eine organisatorische Form "des Übergangs zu neuen Zuständen" darstellen, die möglichst einfach, leicht und zugänglich für den Bauern ist"(ebenda, S. 454). Die Verwandlung des russischen Klein- und Mittelbauern in einen 'zivilisierten Genossenschafter', der ein Händler ist, der Kulturansprüchen genügt (d.h. "ein aufgeweckter und des Schreibens kundiger Händler zu sein") ist für Lenin der Schlüssel, um die gesellschaftliche Tätigkeit für den Aufbau des Sozialismus in Sowjetrußland voranzutreiben. Insgesamt handelt es sich hier um einen Transformationsprozeß, der eine ganze Umwälzungsperiode in der Entwicklung der Volksmasse umfaßt. In diesem Kontext thematisiert Lenin ein ganzes Spektrum von Maßnahmen, um aus der "halbasiatischen Kulturlosigkeit" herauszukommen.

c) In direkter Ablehnung der Positionen Stalins in der Nationalitätenfrage wendet sich Lenin vehement gegen den 'großrussischen Chauvinismus' als fortwirkendes Erbe des Zarismus und plädiert für eine umfassende Unterstützung der Entwicklungsinteressen der nichtrussischen Völker und Nationen8.

d) Vor dem Hintergrund des geringen politisch-ideologischen und intellektuellen Niveaus der Parteibasis sowie der gravierenden zahlenmäßigen Schwäche der Partei9 sah Lenin die Stabilität der KPR(B) bedroht durch die Disharmonie der Charaktere innerhalb des bolschewistischen Führungskerns. Dabei berücksichtigte Lenin, "daß die Eigenschaften der einen oder anderen Persönlichkeit, multipliziert mit der ungeheuren Macht des zentralisierten Staats- und Parteiapparates, eine Größe von sozialem Ausmaß ergaben" (Plimak 1990, S.29). Im Ergebnis dieser Überlegungen gelangte Lenin zu jener ebenso knappen wie berühmten Skizze der Qualitäten und personalen Eigenschaften von Stalin, Trotzki, Sinowjew, Kamenew, Bucharin und Pjatakow, antizipierte die alsbald reale Gestalt annehmende Gefahr der Spaltung der Partei und empfahl in seiner Ergänzung zum Brief vom 24. Dezember 1922 am 4. Januar 1923 die Ablösung Stalins von der Funktion des Generalsekretärs.

Lenins strategische Überlegungen zur Verarbeitung des Ziel-Mittel-Widerspruchs Sowjetrußlands sind also primär darauf gerichtet, vermittels einer gezielten Zurückdrängung bürokratischer Auswüchse und Verselbständigungstendenzen im Partei- und Staatsapparat sowie einer systematischen Anhebung des Kulturniveaus der Bevölkerungsmehrheit die Masse der Werktätigen zur aktiv-demokratischen Selbstverwaltung zu befähigen und damit zum Subjekt des Aufbaus einer neuen (perspektivisch: sozialistischen) Gesellschaft werden zu lassen.

V. Lenin als Wegbereiter Stalins oder Stalin als Zerstörer der Leninschen Entwicklungsperspektive?

Im Gegensatz zur "Kontinuitätsthese" stellt das Phänomen des Stalinismus m.E. eine Totalrevision der Leninschen Verarbeitungsstrategie des Ziel-Mittel-Widerspruchs der sowjetischen Gesellschaft im symbolisch-theoretischen Gewand des 'Leninismus' dar. D.h. wir haben es mit einer zugespitzten Form der Verkehrung von 'Wesen' und 'Erscheinung' zu tun: Der Oberflächenschein spiegelt das Wesen nicht nur verhüllt, sondern als dessen direkten Gegensatz wider. Abgesehen von der pro-leninistischen Erscheinungsoberfläche ist der Stalinismus als eigen-artige 'strategische Antwort' auf die Entwicklungswidersprüche Sowjetrußlands zu begreifen. Dabei werden die in der 'kolossalen' Problemstruktur Sowjetrußlands wurzelnden Gefahren, vor denen Lenin warnt, zu einer unmittelbaren 'materiellen' Quelle des Stalinismus:

1.) Die von Lenin als zwangsläufig angesehene, aber zugleich als Problem empfundene 'Einschränkung' der Prinzipien des 'Kommune-Staates' wird bei Stalin willkürlich vorangetrieben und ausgebaut. Überzentralisierung, Hypertrophie der Staatsmacht, Festigung und Ausdehnung der Bürokratie werden zu Eckpfeilern des stalinistischen Regimes. Die Rückständigkeit auf ökonomischem, sozialem, politischem und kulturellem Gebiet führt so im stalinistischen System schließlich dazu, "daß der Staat ... sowohl die Gesellschaft als auch das Individuum gleichsam 'absorbiert'. Er formuliert die Aufgaben für das Individuum und für die Gesellschaft und fordert von ihnen die widerspruchslose Ausführung seiner Beschlüsse, wobei er aufrichtig der Meinung sein kann, daß diese im Grunde auf bürokratischem Wege zustande gekommenen Beschlüsse die Interessen der Individuen und der Gesellschaft am adäquatesten widerspiegeln" (Migranjan 1990, S. 42). Diese Verfestigung einer überzentralisierten, 'abgehobenen', den Massen entfremdeten Staatsmacht kulminiert letztendlich in der bonapartistischen Inbesitznahme der Staatsmacht durch Stalin und dessen 'Personenkult' als äußerliche Kehrseite.

2.) Während Lenin immer wieder die Förderung von Selbstverwaltungskompetenz und Masseninitiative betont und sich für den Vorrang der Überzeugungsmethode ausspricht, kommt es unter Stalin zur Systematisierung und Verabsolutierung von Zwangs-, Terror- und Kommandomethoden, die zur 'sozialistischen Norm' erhoben werden: Die 'Bürgerkriegsmethode' wird zum generellen Kompensator der fehlenden 'Entwicklungsmittel' für den umittelbaren Aufbau des Sozialismus.

3.) Die qualitative Höherentwicklung des Kulturniveaus der Bevölkerung ist für Lenin der 'Hebel', um deren Status als Subjekt des Vergesellschaftungsprozesses zu fördern. Demgegenüber bedeutet 'Kulturrevolution' im funktionalen Horizont des Stalinismus: Befähigung der Massen zur 'Umsetzung' befehlsadministrativ verfaßter und überwachter 'Vorgaben'. Befehle sollen verstanden und befolgt werden können, Befehlsverweigerer gehören bestraft. Andererseits soll die in der russischen Tradition angelegte demütig-apologetische Gehorsamshaltung des Volkes zur Macht nicht wirklich überwunden, sondern der stalinistischen Herrschaftspraxis dienstbar gemacht werden.

4.) Die Notwendigkeit einer Übergangsperiode zur Schaffung der 'zivilisatorischen' Voraussetzungen für den Aufbau des Sozialismus wird im Stalinschen 'Entwicklungsmodell' auf voluntaristische Weise negiert: An die Stelle der Verwandlung des russischen Bauern in einen 'zivilisierten Genossenschaftler' tritt die 'Zwangskollektivierung der Landwirtschaft' und die Methode des 'Anpeitschens'. Dieser "durch die Stalinsche Führung brutal ausgebeutete Enthusiasmus des Volkes führte - wie Doping - zu zeitweiligen Fortschritten in der Gesellschaft, aber um den Preis der nachfolgenden Zerstörung des Organismus und einer schrecklichen Enttäuschung in der Zukunft" (Wodolasow 1990, S. 213).

5.) Entgegen dem Prinzip der 'Kollektivität der Leitung' und den Leninschen Kriterien der Kaderselektion wurden die hohen Funktionäre im Partei- und Staatsapparat nach dem Prinzip der unbedingten Unterordnung bzw. der persönlichen Ergebenheit ausgewählt. Unter direktem Einfluß des aggressiv-polemischen Anklagetons Stalins und seiner Methode des 'bösen Vorsatzes' breitete sich in der Partei eine Atmosphäre der Verdächtigungen, des gegenseitigen Mißtrauens und Denunziantentums aus, in der jeder als potentieller 'Diversant', 'Spion' und 'Schädling' anzusehen war. (Plimak spricht in diesem Zusammenhang von 'lumpenproletarischen' Kampfmethoden gegen die Opposition, die im Rahmen der KOMINTERN gewissermaßen 'internationalisiert' wurden.)

Auch in der Frage der revolutionären Gewalt besteht ein krasser Gegensatz bzw. ein konterrevolutionärer Bruch zwischen Lenin und Stalin. Lenins Ausgangspunkt ist die von den "Begründern des modernen Sozialismus" gewonnene historische Erkenntnis, "daß eine Revolution nur dann erfolgreich sein kann, wenn der Widerstand der Ausbeuter gebrochen wird" (Lenin 1980, S.58). In diesem Sinne ist Lenin nachdrücklicher Befürworter revolutionärer Gewalt. Andererseits kann in seiner Sicht aber "auch kein Zweifel daran bestehen, daß die revolutionäre Gewalt nur in bestimmten Entwicklungsetappen der Revolution, nur unter bestimmten und besonderen Bedingungen eine notwendige und gesetzmäßige Methode der Revolution war, während die Organisation der proletarischen Massen...ein viel wesentlicheres, ständiges Merkmal dieser Revolution und Voraussetzung ihrer Siege war und bleibt" (Lenin 1976a, S.74). Bezugnehmend auf den konkret-historischen Verlauf der russischen Revolution akzentuiert Lenin den re-aktiven Charakter revolutionärer Gewaltanwendung in Abhängigkeit vom Entfaltungsgrad konterrevolutionärer Aktivitäten:

"Nach der Revolution vom 25.Oktober (7.November) 1917 haben wir nicht einmal die bürgerlichen Zeitungen verboten, und von Terror konnte gar keine Rede sein. Wir haben nicht nur viele Minister Kerenskis, sondern auch Krasnow, der gegen uns Krieg führte, freigelassen. Erst nachdem die Ausbeuter, d.h. die Kapitalisten, ihren Widerstand verstärkten, sind wir an die systematische Unterdrückung dieses Widerstandes, bis zur Anwendung von Terror gegangen. Das war die Antwort des Proletariats auf solche Handlungen der Bourgeoisie wie ihre Verschwörung im Verein mit den Kapitalisten Deutschlands, Englands, Japans, Amerikas, Frankreichs zur Wiederherstellung der Macht der Ausbeuter in Rußland...Eine der letzten Verschwörungen, die eine "Änderung", nämlich den verstärkten Terror gegen die Bourgeoisie in Petrograd, erforderlich machte, war die Verschwörung der Bourgeoisie im Verein mit den Sozialrevolutionären und Menschewiki zur Preisgabe Petrograds, die Besetzung von Krasnaja Gorka durch Verschwörer aus den Reihen der Offiziere und die Bestechung der Angestellten in der Schweizer Botschaft neben vielen russischen Angestellten durch die englischen und französischen Kapitalisten usw." (Lenin 1976b, S.507f.).

Was in diesem Kontext immer wieder verblüfft, ist die ausgeprägte Amnesie vieler Diskutanten bzgl. der konkreten Prämissen, die der Einführung des "Roten Terrors" am 2. September 1918 zugrunde lagen. So waren es eben nicht Monarchisten, sondern Sozialrevolutionäre, die im Juni 1918 W.Wolodarski, ein Präsidiumsmitglied des Petrograder Sowjets, ermordeten und am 30.August 1918 ein Attentat auf Lenin verübten, bei dem dieser erheblich verwundet wurde.

Im übrigen wäre m.E. im Lichte der historischen Tatsachen auch folgender Einschätzung Lenins Rechnung zu tragen:

"Der Terror wurde uns aufgezwungen. Man vergißt, daß der Terrorismus durch die Invasion der allmächtigen Entente ausgelöst wurde. Ist das etwa kein Terror, wenn die Flotte der ganzen Welt ein hungerndes Land blockiert? Ist das etwa kein Terror,

wenn Vertreter des Auslands, gestützt auf ihre diplomatische Unantastbarkeit, weißgardistische Aufstände organisieren?... Wenn wir versucht hätten, auf diese von den internationalen Räubern geschaffenen, durch den Krieg vertierten Truppen mit Worten, mit Überzeugung, mit irgendwelchen anderen Mitteln als mit Terror einzuwirken, so hätten wir uns nicht einmal zwei Monate gehalten, so wären wir Toren gewesen..." (Lenin 1961, S.211f.).

Während also Lenin revolutionäre Gewaltanwendung aus dem realen Erfahrungshorizont komplexer konterrevolutionärer Terror-, Sabotage- und Militäraktionen rechtfertigt und praktiziert, besitzt der stalinistische Terror im Zuge der Zwangskollektivierung sowie in Form der Massenrepressalien der 30er Jahre eine gänzlich andersartige gesellschaftlich-historische Bedeutung. Unter dem Deckmantel mißbräuchlich verwendeter und sinnentstellter revolutionärer Losungen, die aus einem disparaten historischen Kontext "zwangstransplantiert" werden, ist die Stalinsche Gewaltpolitik integrales Mittel zur Etablierung eines neuen Herrschaftssystems. Für die Legitimation dieses Systems ist aber nicht das "Leninsche Erbe", sondern die konkret-historische "imperialistische Einkreisung" und Bedrohung der probate "Plausibilitätslieferant". M.a.W.: Der kontinuierlich-vielgestaltige westlich-kapitalistische Widerstand gegen die freie Entwicklung einer alternativen Übergangsgesellschaft in Sowjetrußland, wie er letztlich im kriegerischen Antibolschewismus des deutschen Faschismus kulminiert, ist selbst als eine "genetische Quelle" bzw. äußere Voraussetzung des Stalinismus zu begreifen. Wenn im Zeichen eines pauschalierenden Antibolschewismus versucht wird, Lenin die Schuld für die Schmach des Stalinismus anzulasten, dann geht es immer auch um die Verschleierung dieses Tatbestandes.

VI. Fazit

Den theoretischen (geistig-moralischen) sowie praktisch-politischen Bruch zwischen Lenin und Stalin zu betonen bedeutet freilich nicht, die Schwachstellen in Lenins Perspektive der Möglichkeitsbedingungen des Sozialismus in Sowjetrußland zu übersehen bzw. in Abrede stellen zu wollen. Ich möchte deshalb abschließend zwei problematische Aspekte der Leninschen Sichtweise ansprechen:

1) Noch in seinen späten Schriften differenziert Lenin nicht genügend zwischen 'Verstaatlichung' und 'Vergesellschaftung'. Das wird z.B. darin deutlich, daß Lenin 'Staatseigentum' und 'Eigentum der Arbeiterklasse' unvermittelt gleichsetzt und damit eine wesentliche Quelle von potentiellen Interessenwidersprüchen ungenügend reflektiert. So heißt es in seiner Abhandlung "Über das Genossenschaftswesen" vom 6.Januar 1923: "In der bei uns bestehenden Gesellschaftsordnung unterscheiden sich genossenschaftliche Betriebe von privatkapitalistischen als kollektive Betriebe, aber sie unterscheiden sich nicht von sozialistischen Betrieben, wenn sie auf dem Grund und Boden errichtet und mit Produktionsmitteln ausgerüstet sind, die dem Staat, d.h. der Arbeiterklasse, gehören" (Lenin 1982d, LW 33, S.459).

2) Angesichts der Rückständigkeit Rußlands auf ökonomischem Gebiet neigt Lenin zu einer tendenziell unkritischen Haltung gegenüber der modernen großkapitalistischen Produktionstechnologie und Betriebsorganisation, denen eine gesellschaftsunspezifische (systemneutrale) Rationalität zugesprochen wird. Zwar akzentuiert Lenin die ausbeutungsintensivierende Funktion des Taylorismus als ein "wissenschaftliches" System zur Schweißauspressung der Lohnarbeiter (vgl. LW 18, S.588), aber er sieht in den von Taylor entwickelten Zeit- und Bewegungsstudien auch ein "vortreffliches Beispiel für technischen Fortschritt im Kapitalismus, zum Sozialismus hin" (LW 39, S.142). Ausgeblendet bleibt hierbei die später von Gramsci in den Gefängnisheften untersuchte Rückwirkung der tayloristischen Arbeitsprozesse auf die psychische Konstitution der Lohnarbeiter sowie das den "Fordismus" kennzeichnende materielle und soziokulturelle "Milieu" der tayloristischen Betriebsorganisation: hohe Kompensationslöhne; Anhebung der Konsummöglichkeiten; aktive "Umerziehung" der Werktätigen (Sexualmoral; Anti-Alkoholkampagnen; Werbung etc.).

Ein kritisch-marxistischer Umgang mit dem Werk Lenins setzt nicht nur die Zurückweisung des stalinistischen Leninkults sowie der konjunkturellen Leninverdammung voraus, sondern ebenso den Bruch mit der orthodox-parteikommunistischen Manier, Lenin als unmittelbar gültige Instanz in Gegenwartsfragen "anzurufen", d.h. Lenin-Zitate als Autoritätsbeweise zu instrumentalisieren. Demgenüber ist festzustellen, daß Lenin (wie auch Marx und Engels) nicht als Lehrmeister für die Gegenwart fungieren kann. Vielmehr gilt es, Lenins kritisch-revolutionäre Eigenschaften unter grundlegend veränderten Bedingungen anzueigenen und weiterzuentwickeln. Im einzelnen sind hier folgende Aspekte anzuführen:

1) Lenins solide und umfassende theoretische Ausbildung als Voraussetzung für eine schöpferische weitertreibende Analyse der Wirklichkeit;

2) Die Fähigkeit, die 'konkrete Analyse der konkreten Bedingungen' mit einer schonungslos selbstkritischen Kurskorrektur zu verbinden; d.h. Lenin streitbar-antidogmatisches Herangehen;

3) Die umfassende und illusionslose Analyse des bürgerlich-kapitalistischen Herrschaftssubjekts und seiner reaktionären Wesensnatur;

4) Die Bereitschaft, Massenstimmungen aufzunehmen und rechtzeitig zu verarbeiten und

5) Die Geduld und Beharrlichkeit, aus einer zunächst isolierten bzw. minoritären Position für die Durchsetzung seiner Überzeugungen und Positionen zu streiten, d.h. "gegen den Strom zu schwimmen".



© Hartmut Krauss, Osnabrück 1994





Literaturangaben:

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1 Es liegt auf der Hand, daß vom Standpunkt der bürgerlich-kapitalitischen Gesellschaft als "höchst möglicher" Entwicklungsstufe der menschlichen Zivilisation die Behauptung einer linearen Kontinuität zwischen Marx/Engels, Lenin, Stalin und dem "gesetzmäßigen" Zerfall des "realen Sozialismus" - im Interesse des Nachweises der Nichtexistenz von gesellschaftlich-historischen Entwicklungsalternativen - äußerst dienlich ist.

2 Die im Kontext der Stalinschen Konstruktion des "Leninismus" vollzogene verfälschende Dogmatisierung der Leninschen Parteitheorie und deren Verunstaltung zu einer apologetischen Lehre der nachrevolutionären Machtausübung der kommunistischen Partei ist m.E. strikt zu trennen von Lenins authentischer Konzeption, die den Wechselwirkungsprozeß von revolutionärer Parteitätigkeit und proletarischer Bewußtseinsentwicklung unter epochenspezifischen kapitalistischen Bedingungen zum zentralen Inhalt hat. Gegenüber Rosa Luxemburgs "Ultrazentralismus"-Vorwurf hat Mandel folgenden m.E. zutreffenden Einwand vorgebracht: "Der zentrale strategische Plan, den Lenin in Was tun? aufstellt, ist der einer die elementaren, spontanen, zersprengten und 'nur' lokalen oder sektoralen Widerstandsbewegungen, Proteste und Revolten zusammenfassenden Partei-Agitation. Der Nachdruck der Zentralisation liegt eindeutig auf dem politischen und nicht auf dem organisatorischen Gebiet. Die formal-organisatorische Zentralisation hat nur zum Zweck, die Verwirklichung dieses strategischen Plans zu ermöglichen" (Mandel 1970, S.167).

Zur Stalinschen Verfälschung der Leninschen Konzeption vgl. auch Sauermann 1993.

3 "Diese Weltanschauung (der marxistisch-leninistischen Partei, H.K.) heißt darum dialektischer Materialismus, weil ihr Herangehen an die Naturerscheinungen, ihre Methode der Erforschung der Naturerscheinungen, ihre Methode der Erkenntnis dieser Erscheinungen die dialektische ist, und weil ihre Deutung der Naturerscheinungen, ihre Auffassung der Naturerscheinungen, ihre Theorie materialistisch ist" (Stalin 1979, S.250). Segeth (1977, S.20) zitiert einige sowjetische Stimmen, welche die geistig lähmenden Auswirkungen dieser Stalinschen Aufspaltung von Theorie und Methode reflektieren: "Unter der Überschrift 'Marxistische dialektische Methode' wurden, schreibt I.D. Andreev ...'dem Wesen nach nur die von Stalin formulierten Grundzüge der Dialektik dargestellt, und das fast ausschließlich aus ontologischer Sicht'. 'Die dialektische Methode wurde fälschlich mit der Theorie der dialektischen Entwicklung der objektiven Welt identifiziert', schreibt G.A. Podkorytov, 'und diese Interpretation der dialektischen Methode orientierte die Philosophen und die Vertreter der Einzelwissenschaften auf die Aneignung nur des wissenschaftlich-weltanschaulichen Aspekts der marxistischen Methodologie. Der ganze Reichtum der von der Wissenschaft erarbeiteten Denk- und Erkenntnisverfahren geriet aus dem Blick. Das führte zu einer Herabsetzung der methodologischen Problematik der wissenschaftlichen Forschung'".

4 Im Vorwort zum Band 38 der Lenin-Werkausgabe heißt es: "Die philosophischen Konspekte, Fragmente und Aufzeichnungen lassen darauf schließen, daß Lenin beabsichtigte, eine spezielle Arbeit über die Dialektik zu schreiben" (S.IX).

5 Nebenstehend notiert Lenin: "Die griechische Philisophie hat alle diese Momente angedeutet".

6 Wie Hofmann (1970, S. 37) hervorhebt, sind am zaristischen Rußland bedeutsame geschichtliche Prozesse vorbeigegangen, "welche die neuere westeuropäische Gesellschaft zutiefst geprägt haben ... Hierzu gehört die Reformation und, mit ihr verbunden, die Säkularisierung und Rationalisierung der Religion, ferner die Individualisierung des Denkens durch den Humanismus, die umfassende Bewegung der Aufklärung, die Heraufkunft des politischen und ökonomischenLiberalismus und die Emanzipation des homo oeconomicus, der Übergang zum parlamentarischen Verfassungsstaat und damit die Rationalisierung der Beziehungen von Staat und Staatsbürgern, die Relativierung der Staatsgewalt durch das Verhältnis konkurrierender Parteien und durch den turnusmäßigen Wechsel der Regierung."

7 Die formationsstrukturelle Heterogenität Sowjetrußlands ergibt sich aus der Koexistenz von Elementen verschiedener gesellschaftlicher Wirtschaftsformen. Im einzelnen zählt Lenin (1971a, S.394) folgende Elemente auf: "1. die patriarchalische Bauernwirtschaft, die in hohem Grade Naturalwirtschaft ist; 2. die kleine Warenproduktion (hierher gehört die Mehrzahl der Bauern, die Getreide verkaufen); 3. der privatwirtschaftliche Kapitalismus; 4. der Staatskapitalismus; 5. der Sozialismus."

8 Unter den Umständen, "daß wir einen Apparat als eigenen bezeichnen, der uns in Wirklichkeit noch durch und durch fremd ist und ein bürgerlich-zaristisches Gemisch darstellt, ... ist es ganz natürlich, daß sich die 'Freiheit des Austritts aus der Union', mit der wir uns rechtfertigen, als ein wertloser Fetzen Papier herausstellen wird, der völlig ungeeignet ist, die nichtrussischen Einwohner Rußlands vor der Invasion jenes echten Russen zu schützen, des großrussischen Chauvinisten, ja im Grunde Schurken und Gewalttäters, wie es der typische russische Bürokrat ist. Kein Zweifel, daß der verschwindende Prozentsatz sowjetischer und sowjetisierter Arbeiter in diesem Meer des chauvinistischen großrussischen Packs ertrinken wird wie die Fliege in der Milch" (Lenin 1971c, S. 653).

9 Als "ein Tropfen im Volksmeer" (Lenin) "besaß die Partei nur etwa 500.000 Mitglieder und umfaßte somit weniger als ein halbes Prozent der Gesamtbevölkerung ... Über das Niveau der politischen Bildung stellte der Bericht der Revisionskommission auf dem XIII. Parteitag fest, daß der Anteil der 'politischen Analphabeten' in den landwirtschaftlichen Gebieten 80 bis 90 Prozent und in den industriellen Gouvernements bis zu 50 Prozent betrug. Ebenso konstatierte der organisatorische Bericht des Zentralkomitees auf dem XIII. Parteitag vom Mai 1924: 'Um das politische Wissensniveau der Parteimitglieder ist es schlecht bestellt: 60 Prozent sind ungeschult'" (Meyer 1974, S. 520f.).

Quelle: LENIN - Zwischen Heiligsprechung und Verdammung. Zur Kritik des stalinistischen Leninkults und seiner einfachen Negation im postsozialistischen Zeitgeist. Osnabrueck 1994. Hrsg.: Arbeitskreis kritischer Marxistinnen und Marxisten. c/o Hintergrund-Redaktion, Zum Rott 24, 49078 Osnabrueck, Tel. 0541-444229, Fax 0541-445373










 

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