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Beiträge zur Theorie  










Hartmut Krauss

"Bedingtheitsdiskurs" versus "Begründungsdiskurs". Zum konzeptionellen Kern des Widerstreits zwischen traditioneller und Kritischer Psychologie

Klaus Holzkamp zum Gedenken

Kennzeichnend für die Kritische Psychologie (KP) als eine besondere Ausarbeitungsvariante materialistisch-dialektisch orientierter Subjektwissenschaft ist von Beginn an ihre einzelwissenschaftliche Ausrichtung als intradiziplinäre Alternative zur traditionellen "mainstream"-Psycholgie gewesen. Um diesem Selbstanspruch zu genügen, reichte es nicht aus, die theoretischen, kategorialen und methodischen Bornierungen, versteckten weltanschaulichen Prämissen, konzeptionell bedingten Ausblendungen etc. der traditionellen Psychologie 'ideologiekritisch' aufzudecken - also die "herrschende" Psychologie als "Psychologie der Herrschenden" zu entlarven -, sondern es ging darüberhinaus insbesondere um den Auf- und Ausbau einer grundlegend andersartigen, nämlich "kritisch-emanzipatorischen" Psychologie.

Diese Einheit von Kritik und eigenständig-alternativer Gegenstandserschließung als konstitutives Bewegungsprinzip der KP kann im folgenden nicht chronologisch-detailliert, etwa anhand der Rekapitulation der wichtigsten Veröffentlichungen, nachgezeichnet werden. Herausgearbeitet werden soll aber im folgenden der konzeptionelle Wesenskern im Widerspruchsverhältnis von traditioneller und KP. Im Anschluß daran werde ich einige Überlegungen zur Vertiefung/Präzisierung des "Begründungsdiskurses" zur Diskussion stellen.


Grundcharakteristika der traditionell-psychologischen Gegenstandsverfehlung

Die Entstehung der KP selbst ist als das Produkt einer spezifischen Widerspruchskonstellation mit folgenden elementaren "Seiten" anzusehen, nämlich: a) dem Zustand der im westdeutschen bürgerlichen Wissenschaftsbetrieb institutionalisierten akademischen Psycholgie Mitte der 60er bis Anfang der 70er Jahre; b) den Herausforderungen der systemoppositionellen Studentenbewegung an das "wissenschaftliche Establishment" einschließlich der "Hochschul-psychologen" und c) der individuell-standortspezifischen Verarbeitung dieser Kollision seitens ihres Begründers Klaus Holzkamp (vgl. Holzkamp 1972). Gewissermaßen als entwicklungslogische Prämisse in diese Ausgangssituation "eingelagert", besaß die kritische Auseinandersetzung mit den bestimmenden theoretischen und methodischen Inhalten der institutionell dominanten traditionellen Psychologie einen herausragenden Stellenwert während der Konstituierungsphase der KP(1). Zunächst sollen deshalb jene Züge der "frühen" kritisch-psychologischen Fach-Kritik knapp skizziert werden, die als "über-greifende" Fundierungen auch der späteren Fokussierung der traditionellen Psychologie im "Bedingtheitsdiskurs" anzusehen sind.

Als erstes hervorstechendes Grundmerkmal der traditionellen Psychologie ist zunächst deren Konzeptualisierung und methodische Reproduktion des individuellen Subjekts als abstrakt-isoliertes Individuum anzuführen. So wird in den gängigen psychologischen Theorien der einzelne Mensch vermittels einer "unverständigen Abstraktion" aus seiner komplexen Einbindung in die jeweils konkret-historisch geformten gesellschaftlichen Verhältnisse herausgelöst und damit im Prinzip als "gesellschaftliches Individuum" begrifflich ausgelöscht. D.h.: Gerade der seiner elementaren gesellschaftlichen Vermitteltheit/Sozial-bezüglichkeit entkleidete Mensch, das "a-soziale" Individuum, wird in der herkömmlichen "bürgerlichen Psychologie"(2) als das "eigentliche", "konkrete" Individuum "als solches" vorgestellt. Holzkamp hat diesen Sachverhalt als "Verkehrung von Konkretheit und Abstraktheit menschlicher Verhältnisse in der bürgerlichen Psychologie" akzentuiert und darauf hingewiesen, daß dieser "a-sozial" konzipierte Mensch "zwar als konkreter Gegenstand der empirisch-psychologischen Forschung erscheint" (1972b, S.103), tatsächlich aber eben nicht als der wirkliche lebendige Mensch in je konkreter gesellschaftlich-historischer Lage begriffen werden kann, also als etwas "empirisch" Gegebenes, sondern als bloßes Gedankending zu fassen ist. "Die Menschen, über die die Psychologie Aussagen macht, sind natürlich tatsächlich konkrete, historische Individuen, nur wird, sofern sie zum Gegenstand der Psychologie werden, weitgehend von dem abgesehen, was ihre Eigenart als Menschen in einer bestimmten gesellschaftlich-historischen Situation ausmacht" (ebenda, S.103f.).

Die Verfehlung der Eigenart des gesellschaftlichen Menschen als Subjekt seines konkret-historisch bestimmten Lebensprozesses ist in der Grundstruktur des nomothetischen Selbstverständnisses der traditionell-psychologischen Forschung systematisch angelegt. Kernaspekt der nomothetischen Wissenschaft ist die Formulierung von Gesetzesaussagen auf der Grundlage experimentell festgestellter Verknüpfungen zwischen (vom Experimentator) festgelegten Bedingungen und dadurch hervorgerufenen Wirkungen, "wobei die Ausgangsbedingungen' unabhängige Variable' oder in der Psychologie auch 'Predikatoren', die Effekte'abhängige Variablen' bzw. 'Kriterien' genannt werden" (Holzkamp 1972a, S.48). Um zu möglichst "reinen" Gesetzesaussagen/Zusammenhangs-feststellun-gen zu gelangen, ist der nomothetische Forschungssprozeß in besonderem Maße auf die möglichst weitgehende Ausschaltung von unkontrollierten Störbedingungen ausgerichtet. Die Zusammenhangs-Behauptungen sind deshalb "konditional" zu formulieren: "Bestimmte Ausgangsbedingungen führen zu bestimmten Effekten, sofern keine störenden Bedingungen vorliegen" (ebenda, S.48f.). Daraus ergibt sich der dominant bedingungsanalytische Charakter der nomothetischen Psychologie. Worin liegen nun die systematischen Gegenstandsverfehlungen der nomothetischen Experimentalpsychologie im einzelnen?

(1) Die theoretische Ausblendung der gesellschaftlichen Einbindung/Ver-mitteltheit des Individuums wird experimentell "blind" reproduziert. Die Einheitlichkeit, Konsistenz , "Gesetzmäßigkeit" etc. der traditionellen Psychologie trotz der vielschichtigen Heterogenität/Individualtät der konkret-empirischen Menschen erweist sich als trügerischer Schein. Denn: "Sie erforscht die Menschen nicht unter den verschiedenartigen und uneinheitlichen Bedingungen, unter denen sie tatsächlich im Alltag leben, sondern sie schafft im Experiment künstlich einheitliche Bedingungen, in die die Menschen als "Versuchspersonen" gestellt sind" (ebenda, S.50).

(2) Die für das traditionell-psychologische Experiment charakteristische künstliche Setzung einheitlich-realitätsabstrakter Bedingungen impliziert zugleich die "nachhaltige" Entsubjektivierung der Versuchsperson bzw. deren Degradierung zum bloßen Forschungsobjekt. Herauszuheben ist hier nämlich der Umstand, daß die Versuchsperson den vom Experimentator fremdgesetzten Bedingungen insofern passiv ausgeliefert ist, als sie ja nur auf dessen Vorgaben "bedingungsmechanistisch" reagieren kann und soll; sich andernfalls aber "nicht gemäß der Instruktionen" verhalten und entsprechend aus der Datenauswertung ausgeschlossen würde. Die experimentalpsychologische Konstellation läßt sich demnach aus der Perspektive der entsubjektivierten Versuchsperson als "hermetische Entfremdungssituation" aufschlüsseln: Sie ist fremdgesetzten,damit kaum durchschaubaren und unveränderlichen Bedingungen ausgesetzt, über die sie in einem freien, rationalen symmetrischen Dialog nicht mitentscheiden/-verfügen kann.

(3) Die versuchsstrukturelle Suspendierung a) der Gesellschaftlichkeit und b) der Subjekthaftigkeit des Individuums sowie dessen "Zurechtstutzung" zu einer Norm-Versuchsperson (Norm-Vp) bedeutet de facto eine Reduzierung des gesellschaftlich-historischen Menschen auf einen ahistorisch-reflexhaften Organismus. Das Konzept der "Norm-Vp" besitzt damit eine verborgene anthropologische Qualität. "Wenn man", so Holzkamp (1972a, S.54f.), "Lebewesen, die eine Geschichte haben, die - der Möglichkeit nach - auf reflektierte Weise Subjekte dieser Geschichte sein können, die - ebenfalls der Möglichkeit nach - sich bewußt eine ihren Bedürfnissen gemäße, nicht entfremdete Welt schaffen können und die schließlich in freiem, symmetrischen Dialog vernünftig ihre Interessen vertreten können, als "Menschen" bezeichnet, wenn man andererseits Lebewesen, die in einer fremden, naturhaften Umgebung stehen, die keine "Geschichte" haben, die auf bestimmte Stimuli lediglich mit festgelegten begrenzten Verhaltensweisen reagieren können, "Organismen" nennen will, so kann man feststellen, daß im Konzept der Norm-Vp. restriktive Bestimmungen enthalten sind, durch welche Individuen, die in der außerexperimentellen Realität sich - der Möglichkeit nach - wie "Menschen" verhalten können, im Experiment dazu gebracht werden sollen, sich wie "Organismen" zu verhalten."

Dem abstrakt-individualistischen und "organismischen" Menschenbild der traditionellen Psychologie korrespondiert als zweites Grundmerkmal eine naturalistische Gesellschaftsauffassung. In dieser Sichtweise wird 'Gesellschaft' als historisch gewordene und durch menschliche Tätigkeit hergestellte/veränderbare Wirklichkeit auf naturhaft vorgegebene 'Umwelt' verkürzt, der gegenüber das Subjekt schicksalhaft ausgeliefert erscheint. Indem so die vernünftige Gestaltbarkeit der als naturhaft-unhistorisch mißdeuteten 'Umwelt' radikal ausgemerzt wird, erfährt die Entsubjektivierung der gesellschaftlichen Individuen eine weitere "gesellschaftstheoretische" Ergänzung. Hinzu kommt die systematische Ausblendung der konkreten herrschaftsstrukturellen Zusammenhänge und Widerspruchskonstellationen. Auf diese Weise bleibt in der traditionell-psychologischen Forschung die dem Subjekt vorgegebene, "übergreifende" Beschaffenheit der objektiven Lebensbedingungen außerhalb der Betrachtung;; "man schafft sich Hilfskonstruktionen , um auf verschiedene Weise die objektiven unabhängigen Realitätsbeschaffenheiten aus der Psychologie 'heraushalten' zu können (man spricht höchstens in quasi 'inoffizieller' Alltagssprache o.ä. von der außerpsychologischen Lebenswirklichkeit des Individuums" (Holzkamp 1978a, S.167).

Die undialektische Konfrontation des abstrakt-isolierten Individuums mit der als naturhaft-ahistorisch mißdeuteten gesellschaftlichen Lebensumwelt verbindet die traditionelle Psychologie mit der Einnahme eines fiktiven pseudoneutralen Standpunkts "außerhalb" von Gesellschaft und Geschichte. Damit wird aber implizit geleugnet, daß das erkennende Subjekt nicht kraft voluntaristischer Entscheidung seine eigenen gesellschaftlichen Einbindungen abzustreifen vermag, sondern stets (kognitiv, mental und intentional verankerter) Teil der zu erkennenden Wirklichkeit bleibt. "Aber der Mensch", so Marx (MEW 1, S.378), "das ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät." Die selbstvergessene/unreflektierte Parteilichkeit der traditionellen Psychologie ist demgegenüber bereits in der inadäquaten Weise ihrer Gegenstandsauffassung angelegt. Sie "unterliegt nämlich, indem sie durch Verkürzung und Verkehrung menschlicher Lebenstätigkeit auf 'private' Beziehungen in einer naturhaften Umwelt in der bürgerlichen Ideologie befangen ist, zwangsläufig, und ob sie das nun merkt und will, oder nicht, dem Interesse des Kapitals an der Erhaltung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse" (Holzkamp 1978b, S.204).


Zur kritisch-psychologischen Gegenstandserschließung: Die funktional-historische Analyse als alternativer Forschungsansatz

Vermittels ihrer integralen Wesenszüge (Konfrontation des abstrakt-isolierten, "organismischen" Individuums mit einer naturhaft-ahistorischen Lebensumwelt vom Standpunkt "außerhalb) ontologisiert die traditionelle Psychologie im Prinzip die existenzielle Grundsituation der Menschen im Kontext der bürgerlich-kapitalistischen Lebensverhältnisse. D.h. die formationsspezifische Fremdbestimmung und konkurrenzförmige Entgegensetzung/Isolierung der Menschen als Resultat ihres Ausschlusses von der bewußten Regelung des gesamtgesellschaftlichen Lebensprozesses wird als "allgemein-menschliche" bzw. "natürliche" Daseinsbestimmung fehluniversalisiert.

Um fortan aber einer tautologischen Entlarvung der "Bürgerlichkeit" der bürgerlichen Psychologie ad infinitum zu entgehen, wurde es erforderlich, das Stadium der "bloßen" Ideologiekritik zu überwinden und ein eigenes kategorial-methodisches Konzept zur wissenschaftlichen Erfasssung der menschlichen Subjektivität zu entwickeln. Als tragfähiger Ansatz erwies sich hierbei die von Marx im Kapital 'paradigmatisch' angewandte logisch-historische Methode, die es nun auf die einzelwissenschaftliche Spezifik des psychologischen Erkenntnisgegenstandes zu übertragen galt(3). Aufgrund der doppelten Bestimmtheit des konkreten individuellen Menschen als zugleich natürliches und gesellschaftliches Wesen, wurde es erforderlich, "das Verhältnis zwischen seiner Natürlichkeit und seiner Gesellschaftlichkeit im Hinblick auf verschiedene Momente der Lebenstätigkeit als innerer Zusmmenhang logisch-historisch herauszuanalysieren. Also muß(te) auch biologisches, ethologisches, anthropologisches, ethnologisches Material durchgearbeitet werden, um das Mensch-Welt-Verhältnis aus seiner biologischen Gewordenheit zu erfassen" (Holzkamp 1978c, S.252). In Anlehnung an A.N. Leontjews "historisches Herangehen an die Untersuchung der menschlichen Psyche" (vgl. Leontjew 1980), das sich im näheren als innere Einheit von a) naturgeschichtlicher, b) gesellschaftlich-historischer und c) individualgeschichtlicher Analyse beschreiben läßt, gelangte die KP zur funktional-historischen Analyse als für sie charakteristisches methodologisches Verfahren. Mit Blick auf die elementare Geschichtlichkeit des psychologischen Erkenntnisgegenstands (menschliche Psyche) stellte Holzkamp (1979, S.45) fest: "Menschliche Individuen in ihrer Subjektivität sind doppelt historisch bestimmt: Bestimmt durch die formations-, klassen- und standortspezifischen gesellschaftlichen Realisierungsbedingungen ihrer Individualentwicklung und bestimmt durch ihre 'artspezifischen' Möglichkeiten zur individuellen Vergesellschaftung" (alle Sperrungen entfernt, H.K.). Angesichts dieser forschungsstrategischen Prämissen galt es nun folgende Problemebenen zu vermitteln:

1) Die Rekonstruktion der Gewordenheit des menschlichen Bewußtseins aus naturhistorischen Entwicklungsprozessen; d.h. insbesondere die Erfassung der Herausbildung der psychischen Tätigkeitsregulation auf menschlichem Spezifitätsniveau aus tierischen (bzw. subhumanen) Vorformen.

2) Die präzise Herausarbeitung der allgemeinen menschlichen Spezifika des Bewußtseins- und Tätigkeitsniveaus; damit gleichzeitig die wissenschaftliche Erfassung des Qualitätsumschlags biologisch-naturgeschichtlicher Entwicklungsprozesse in menschlich-gesellschaftliche Entwicklungsprozesse.

3) Die wissenschaftliche Durchdringung der Formations-, Klassen- und Standortspezifik der objektiv-gesellschaftlichen Verhältnisse und Strukturen in ihrer Gewordenheit und in ihrer jeweils spezifischen bewußtseinsstrukturierenden und -formierenden Bedeutung.

4) Das wissenschaftliche Begreifen der individualgeschichtlichen Hineinentwicklung in die konkret-historischen gesellschaftlichen Verhältnisse auf der Basis des erarbeiteten Verständnisses bezüglich der genetisch fixierten (artspezifischen), nicht mehr unterschreitbaren, spezifisch-menschlichen Möglichkeiten zur individuellen Vergesellschaftung.

Im Rahmen der konkreten Forschungen zur historischen Gewordenheit und Entwicklung des menschlichen Bewußtseins- und damit korrespondierenden Tätigkeitsniveaus(4) sind seitens der KP insbesondere zwei herausragende Wendepunkte hervorgehoben worden: a) das Tier-Mensch-Übergangsfeld (Beginn vor ca. 10 Millionen Jahren bis zur Ausbildung erster konsistenter steinzeitlicher Kulturepochen in Europa vor ca. 40.000 Jahren) und b) die Entstehung von Klassengesellschaften (hier insbesondere die Genese der bürgerlich-kapitalistischen Klassengesellschaft).

Die Spezifizierung der logisch-historischen Methode zur funktional-historischen Analyse bildet das Basisprinzip der wissenschaftlichen Rekonstruktion der widerspruchsvermittelten Gewordenheit und Selbstbewegungsdynamik des Psychischen: Die Genese psychischer Teilfunktionen bzw. die niveaurelevante Umstrukturierung (Veränderung) der psychischen Tätigkeitsregulation wird aus Entwicklungsnotwendigkeiten(5), d.h. not-wendig progressiv zu lösenden Entwicklungswidersprüchen, abgeleitet. Entwicklungswider-sprüche treten immer dann auf, wenn das historisch gewordene und sich verändernde Verhältnis zwischen psychisch regulierter Lebenstätigkeit des Subjekts und (über)lebensre-levanten Umweltbedingungen sich in einer Weise diskrepant entwickelt, so daß die Aufrecherhaltung des erreichten Niveaus der Lebenstätigkeit gefährdet wird: Höherentwicklung wird zurVoraussetzung für die Aufrechterhaltung bzw. Verbesserung der Lebenstätigkeit. Eine solche Auffassung objektiver Entwicklungsprozesse schließt ein, daß "'Entwicklungsnotwendigkeit' kein teleologischer Begriff ist und auch keine kausale historische Zwangsläufigkeit voraussetzt, sondern lediglich 'konditional' die Bedingungen benennt, die erfüllt sein müssen, sofern Entwicklung und nicht Stagnation und Verfall eintritt" (Holzkamp-Osterkamp 1975, S.352).

Im Hinblick auf die Rekonstruktion qualitativer Umbrüche und daraus hervorgehender Prozesse der Höherentwicklung der psychischen Tätigkeitsregulation in der Phylogenese hat Holzkamp in seiner "Grundlegung der Psychologie" in verallgemeinernder Perspektive fünf Analyse-Schritte herausgearbeitet:

1) Feststellung der konkret-elementaren "Ausgangsbeschaffenheit" der zu untersuchenden psychischen Dimension/Teilfunktion. "Es soll...genau die 'Position' bestimmt werden, die beim qualitativen Umschlag dialektisch 'negiert' wird (Holzkamp 1983, S.79).

2) Bestimmung der objektiven Umweltveränderungen in ihrer Bedeutung als Entwicklungsanforderung für das lebendige Tätigkeitsubjekt ('Übersetzung des 'äußerlichen' Umwelt-Organismus-Widerspruchs in einen inneren Entwicklungswiderspruchs des psychischen Tätigkeitssubjekts).

3) Aufweis des Wechsels der Ausgangsfunktion von Merkmalen, wie sie im ersten Schritt erfaßt wurden und sich nun im Kontext der aktiven Verarbeitung des Entwicklungswiderspruchs neugestalten/umbilden. "Von größter Wichtigkeit ist dabei, daß bei dem qualitativen Sprung durch Funktionswechsel die dialektische Negation nur im Bereich einer - der bestimmenden Funktion der früheren Stufe noch untergeordneten - Partialfunktion erfolgt, quasi im Dienste der besseren Systemerhaltung auf dieser Stufe steht, daß also die qualitativ spezifische Funktion hier noch nicht für den Gesamtprozeß bestimmend geworden ist" (ebenda).

4) Aufdeckung des Dominanzwechsels zwischen der alten und neuen Funktion, "womit durch einen zweiten qualitativen Sprung die qualitativ spezifische Funktion auch die für die gesamte Systemerhaltung bestimmende Funktion wird" (ebenda, S.80).

5) Feststellung der Umstrukturierung und qualitativen Veränderung des (lebendigen) Systems in seiner Gesamtheit. "Hier ist sowohl zu zeigen, welche älteren Dimensionen im neuen Zusammenhang funktionslos werden, als auch, wie sich die Funktion früherer Dimensionen neu bestimmt, und wie sich unter der neuen Leitfunktion spezifische strukturelle und funktionale Differenzierungen in der weiteren Entwicklung ergeben" (ebenda).

Grenzen der funktional-historischen Analyse und die "phänomenologische Wende" der KP

Im selbstreflektierenden Rückblick zeigte sich, daß mit Hilfe der funktional-historischen Analyse zwar die naturgeschichtliche Entwicklung des Psychischen bis zur Herausbildung des gesellschaftlich-historischen Spezifitätsniveau der psychischen Tätigkeitsregulation angemessen rekonstruierbar war, mit Erreichen der Dominanz dieser neuen Niveaustufe aber eine kategorialanalytisch-methodologische Erweiterung vorgenommen werden mußte. So ist es, wie Holzkamp (1984, S.36) ausdrücklich hervorgehoben hat, "falsch, die funktional-historisch gewinnbaren psychischen Qualifizierungen der gesellschaftlichen Natur des Menschen mit den gesellschaftlichen Allgemeinbestimmungen des Psychischen gleichzusetzen." Der Kern des Problems liegt hier in der qualitativ andersartigen Vermittlung zwischen gesellschaftlicher und individueller Reproduktion vor und nach dem Dominanzwechsel von der phylogenetischen zur gesellschaftlich-historischen Entwicklung. Innerhalb des anthropogenetischen Prozesses vor dem Dominanzwechsels blieb zunächst die natürliche Lebensgewinnungsform bestimmend; die Anfänge gesellschaftlicher Lebensgewinnung vermittels kooperativer Mittelherstellung/-benutzung als Basis vorsorgender Realitätskontrolle verharrten noch im Zustand marginaler "Inseln" der Existenzerhaltung. D.h. eine den Individuen gegenüber sich vollziehende Verselbständigung übergreifender gesellschaftlicher Strukturen fand noch nicht statt und insofern ist hier auch von einer subjektiv transparenten (ein-deutig/unmittelbaren) Einheit zwischen kooperativ-gesellschaftlichen und individuellen Lebensnotwendigkeiten auszugehen. Ein qualitativ neues Verhältnis zwischen gesellschaftlicher und individueller Lebensgewinnung entstand dann nach dem Dominanzwechsel: Einerseits ist der evolutionär-biologische Konstituierungsprozeß der 'gesellschaftlichen Natur' des Menschen als Potenz zur individuellen Vergesellschaftung.(Aneignungskompetenz) abgeschlossen, andererseits kommt es nun zur Verselbständigung der gesellschaftlichen Strukturen gegenüber den Individuen vermittels der gleichzeitigen Ausdifferenzierung und Verdichtung von Arbeitsteilungsprozessen sowie der damit korrespondierenden gesamtgesellschaftlichen Synthese von zunehmend komplexer werdenden Bedeutungsstrukturen. Infolgedessen ist eine grundlegende Durchbrechung der ein-deutig/unmittelbaren Beziehung zwischen individueller und gesellschaftlicher Reproduktion zu konstatieren: "'Gesellschaft-lichkeit'als dominante Lebensgewinnungsform ist also ein den jeweils individuellen bzw. vom Individuum überschaubaren sozial-kooperativ Zusammenhang nach allen Seiten raumzeitlich weit überschreitendes 'in sich' lebensfähiges 'Erhaltungssystem', das zwar global, durchschnittlich o.ä., durch die Beiträge der Gesellschaftsmitglieder reproduziert wird, wobei aber keineswegs mehr ein eindeutiger Zusammenhang zwischen dem jeweils aktuellen Beitrag des einzelnen und der Systemerhaltung des gesellschaftlichen Ganzen besteht" (ebenda S.38; alle Sperrungen entfernt .H.K.). Die gesamtgesellschaftliche Vermitteltheit der individuellen Lebenstätigkeit wird auf diese Weise - aufgrund der Inkongruenz des gesamtgesellschaftlichen Zusammenhangs mit der unmittelbaren Lebenswelt des individuellen Subjekts - zu einer von vornherein nichttransparenten (mehr-deutigen) Problemkonstellation.

Um hier nun zu einer weiterführenden Gegenstandserschließung zu gelangen, ist an dieser Stelle das kategorialanalytisch-methodologische Verfahren der KP phänomenologisch bzw. phänomenanalytisch zu ergänzen. Was ist hierunter zu verstehen? Im Zentrum der phänomenologischen Analyse steht die abstraktive ("überhistorische") Herausarbeitung der existenziellen Grundstruktur des Mensch-Welt-Zusammenhangs in Absehung von formationsspezifischen, sozialstrukturellen, kulturellen u.ä. inhaltlichen Charakteristika. Als strukturelles Kernmoment ist in dieser Perspektive die durchgängige Intentionalität subjektiver Existenz herausgearbeitet worden. 'Intentionalität' bedeutet Gerichtetheit des Subjekts "auf etwas, das als vom jeweiligen Gerichtetsein unabhängig gemeint wird" (Graumann 1985, S.41). Dieses konstitutive Intentionalitätsverhältnis impliziert nun folgende subjektwissenschaftlich relevante Aspekte:

a) Intentionalität ist aktives Verhalten des raumzeitlich situierten Subjekts zur äußeren, ausschnitthaft gegebenen Welt.

b) Das Subjekt ist als aktiv sich verhaltendes 'Intentionalitätszentrum' mit anderen (mit-menschlichen) Subjekten/'Intentionalitätszentren' konfrontiert, so daß sich eine elementare, jeweils konkret situierte subjekthaft-intentionale Reziprozität ergibt. "Durch diese reziproke Struktur ist unsere Erfahrung genuin 'sozial', genauer 'intersubjektiv' konstituiert" (Holzkamp 1984, S.8).

c) Intentionalität und intersubjektive Reziprozität sind auch als Selbstbezüglichkeit realisierbar: Ich kann mich selbst zum Gegenstand von Veränderungsaktivitäten machen sowie mich als intentionales Subjekt reflektieren. "In dieser Rückbezogenheit und Dezentrierung bedeutet Intentionalität also immer auch die 'Reflexivität ' unserer intersubjektiven Welt- und Selbstbeziehung" (ebenda).

d) Zwar "übersteigt" die objektive Realität stets den ja nur nur subjektiv-ausschnitthaft gegebenen unmittelbaren Erfahrungs- und potentiellen Intentionalitätsraum und insofern sind die intentionalen Handlungsmöglichkeiten grundsätzlich beschränkt, d.h. die Realität wird unhintergehbar immer auch in ihren Widerständigkeiten erfahren. Innerhalb dieses standortspezifisch-situativ begegnenden Weltausschnitts mit seinen konkreten (kognitiv-praktischen) Erfahrungs- und Handlungsräumen aber "ist die Intentionalität eine Möglichkeitsbeziehung zur Welt und zu mir selbst, in welcher die Dimensionen und die Reichweite meiner Handlungsalternativen zwar durch den situativen Möglichkeitsraum selegiert bzw. begrenzt sind, in der ich aber im 'Verhalten Zu' notwendig Alternativen habe und in diesem Sinne 'frei' bin" (ebenda).

e) Durch das der "intentionalen Möglichkeitsbeziehung zur Welt, zu anderen und zu mir selbst" innewohnende Moment der Zeitlichkeit erhält die "Selbsterfahrung den Grundzug der phänomenalen 'Geschichtlichkeit', in welcher mir meine Vergangenheit als Inbegriff realisierter oder vertaner Möglichkeiten und meine Zukunft als Inbegriff (mehr oder weniger) offener Möglichkeiten gegeben sind" (ebenda, S.9).


'Bedingtheitsdiskurs' vs. 'Begründungsdiskurs': Zur Entfaltung der kritisch-psychologischen Grundbegrifflichkeit

Vermittels der kategorialanalytischen Einarbeitung dieser phänomenologischen Einsichten in die elementaren Konstituenten der subjektiven Welt- und Selbsterfahrung (die gewissermaßen das Grundgerüst der unreduzierbaren 'Eigensinnigkeit' des menschlichen Subjekts bilden) sieht sich die KP in der Lage, a) die Wesensmerkmale der Vermittlung zwischen gesamtgesellschaftlicher Reproduktion und individueller Lebenstätigkeit adäquat aufzuschlüsseln und somit b) die 'mechanische' bzw. linear-deterministische 'Ableitung' individueller Subjektivitätsmerkmale aus "äußeren" (gesamtgesellschaftlichen) Struktur- und Prozeßcharakteristika zu vermeiden. Damit ist auch der Status erreicht, von dem aus das Verhältnis der KP zur traditionellen Psychologie als Konfrontation von 'Bedingheitsdisurs' und 'Begründungsdiskurs' reformuliert werden kann.

Der 'Bedingheits-Diskurs', der als theoretisch-forschungsstrategisches Paradigma der traditionellen Psychologie zugrunde liegt, kann als einzelwissenschaftliche Spezifikation der mechanistisch-deterministischen Auffassung des Mensch-Welt-Zusammenhangs angesehen werden. Danach wird das individuelle Subjekt - unter Ausklammerung zentraler Vermittlungsebenen - grundsätzlich als von den äußeren Bedingungen in Bewegung gesetzte und "ausgerichtete" abhängige Größe (Variable) betrachtet. D.h. die äußeren Einwirkungen konstituieren die bloß "reaktiv" aufgefaßte Lebenstätigkeit des Individuums. "Das Subjekt selbst in seinen Intentionen, Handlungsentwürfen, Arten des Weltzugangs, etc....hat innerhalb solcher Vorstellungen keinen Platz" (Holzkamp 1996, S.53). In der Perspektive dieser radikalen Entsubjektivierung des individuellen Menschen gerät die Hypothesenbildung über empirische Bedingungs-Ereignis/Ver-haltens-Zusammenhänge in Form von Wenn-dann-Aussagen zum Fokus traditionell-psychologischer Wissenschaft. Hervorzuheben ist zudem, daß die für die traditionell-psychologische Experimentalsituation typische Fremdsetzung von Bedingungen (unter Ausschaltung der Möglichkeit der Bedingungsherstellung durch die Individuen selber) als strukturelle Entsprechung zur Erfahrung von Herrschaft unter bürgerlich-kapitalistischen Lebensverhältnissen zu dechiffrieren ist. "So gesehen stünde der Forscher als von den Versuchspersonen als bloßen 'Objekten' getrenntes 'Subjekt' der Verfügung über die Bedingung anderer hier damit strukturell auf der Seite der herrschenden Klasse, das 'Ich' oder das 'Man' des Forschers wäre mithin eine Besonderung und Mystifizierung des Standpunkts der Herrschenden" (Holzkamp 1983, S.529).

Während also die traditionelle Psychologie die Weltbeziehungen von Individuen als linear-deterministische Bedingungs-Verhaltens/Ereignis-Zusammen-hänge modelliert, begreift die KP das Subjekt-Tätigkeit-Wirklichkeit-Verhältnis als Bedeutungs-Begründungszusammenhang. Für diese Sichtweise sind zunächst folgende Aspekte fundamental:

  1. Das individuelle Subjekt ist nicht "bedingter" Re-Akteur, sondern aktiv-selbstregulativer Konstrukteur seiner Beziehungen zur "äußeren" Welt/Wirklichkeit.
  1. Die individuellen Wirklichkeitsbezüge sind nicht linear-deterministisch festgelegt, sondern als relativ offene Möglichkeitsbeziehungen zu erfassen (s.o.).

Die vom Subjekt 'objektiv' vorgefundene gesellschaftliche Realität ist demnach nicht als kausal-mechanisch 'einwirkender' Bedingungszusammenhang zu verstehen, sondern als Ensemble von Bedeutungen in ihrer Eigenschaft als kognitiv-praktische Vergegenständlichungen vorangegangener Lebenstätigkeit zu begreifen. Vom Standpunkt des Subjekts aus betrachtet sind die gesellschaftlich-historisch erarbeiteten Bedeutungskonfigurationen (produzierte Gegenstände, Handlungsnormen, Theorien, Informationssysteme etc.) potentielle Gebrauchswerte bzw. verallgemeinerte Handlungsmöglichkeiten, die realisiert oder auch desavouiert werden können. Folglich findet keine unmittelbare Determination der individuellen Lebenstätigkeit durch die "bedeutungshaften" gesellschaftlichen Lebensbedingungen statt; diese fungieren vielmehr als "Prämissen" innerhalb von subjektiv konstruierten Begründungszusammenhängen. D.h. es ist stets das individuelle Subjekt selbst, daß "in Verfolgung seiner Lebensinteressen einen für es selber funktionalen Zusammenhang zwischen subjektiv relevanten Lebensumständen ("Prämissen") und Handlungsintentionen herstellt" (Markard 1994, S.63). Für die damit als Kernbereich einer kritisch-psychologischen Subjekttheorie ausgewiesene Dimension der "Prämissen-Gründe-Zusammen-hänge"(6)lassen sich darüberhinaus folgende Wesenszüge herausheben:

1) Die 'subjektiven Handlungsgründe', die immer in "erster Person" "je meine" Gründe darstellen, sind stets inhaltlich bzw. funktional rückgebunden an die grundlegenden Lebensinteressen und Bedürfnisse des Subjekts nach erweiteter Realitätskontrolle bzw. nach Optimierung der Lebensqualität durch Verfügung über die dazu erforderlichen Bedingungen. Zwar "kann ich mit der Handlung (...) im Widerspruch zu meinen objektiven Lebensinteressen stehen, nicht aber im Widerspruch zu meinen menschlichen Bedürfnissen und Lebensinteressen, wie ich sie als meine Situation erfahre. In dem Satz, daß der Mensch sich nicht bewußt schaden kann, liegt sozusagen das einzige materiale Apriori der Individualwissenschaft" (Holzkamp 1983, S.350).

2) Wenn menschliches Handeln für die KP prinzipiell nicht 'bedingt', sondern in soeben skizziertem Sinn subjektiv begründet' und 'funktional' ist, dann resultieren die interindividuellen Unterschiede/Diskrepanzen der psychischen Konstitution aus der Unterschiedlichkeit/Diskrepanz der 'Prämissen', die den differierenden Begründungszusammenhängen zugrunde liegen. Dabei sind die 'Prämissen' im näheren zu bestimmen als die gesellschaftlich-historisch konstituierten, "lage- und positionsspezifischen Lebensbedingungen der Individuen" (ebenda, S 352f.). Als Prämissen sind aber nicht nur a) die konkreten äußeren Lebensbedingungen zu betrachten, sondern ebenso b) die personalen Bedingungen, wie sie als 'realbiographisches' Entwicklungsresultat aus früheren Auseinandersetzungen mit den äußeren Lebensbedingungen hervorgegangen sind. Hinzu tritt c) als weiterer 'phänomenaler' Aspekt der Umstand, daß die 'äußeren' und 'personalen' Lebensbedingungen nicht in ihrem "bloßen" So-Sein die subjektive Befindlichkeit/Handlungsfähigkeit bestimmen, sondern "vom Subjekt als seine 'Situation', seine persönlichen Eigenschaften und Fähigkeiten, sein Vergangenheits- und Zukunftsbezug etc. erfahren, emotional bewertet, in motivierte oder erzwungene Handlungen umgesetzt werden" (ebenda, S.353). Damit ergeben sich aufgrund der Komplexität und virtuellen Widersprüchlichkeit zwischen den "Systemkomponenten" im 'Prämissen-Gründe-Zusammenhang (intentions- und bedürfnisfundierte Handlungsgründe einerseits/Binnenverhältnis zwischen äußeren, personalen und phänomenalen Aspekten der Lebensbedingungen andererseits) potentiell gravierende Probleme bzw. Einschränkungen bezüglich der Konstitution von Handlungsmöglichkeiten.

3) Da das Verhältnis der Individuen zur standortspezifisch vorgegebenen Bedeutungsstruktur/Prämissenlage grundsätzlich als Möglichkeitsbeziehung zu begreifen ist, die in der menschlich-spezifischen Fähigkeit zu bewußtem Verhalten zur Welt, zu anderen und zu sich selbst gründet, ist die elementare Alternativität menschlicher Handlungslogik zu akzentuieren: "Auch noch so eingeschränkte Handlungsalternativen bleiben immer noch Alternativen, und zu noch so gravierenden Unterdrückungsverhältnissen, objektiver Scheinhaftigkeit, ideologischer Beeinflussung etc. kann sich das Individuum als Subjekt bewußt 'verhalten'. Die totale Eliminierung dieser Möglichkeiten ist gleichbedeutend mit der Auslöschung der menschlichen Existenz" (ebenda, S.345). Diese radikale Alternativität menschlicher Handlungsbegründung verknüpft Holzkamp mit einer spezifischen Gewichtung des Freiheitsbegriffs: "'Frei' ist ein Individuum in dem Grade, wie es an der vorsorgenden gesellschaftlichen Verfügung über seine Lebensbedingungen teilhat, damit seine Bedürfnisse in 'menschlicher' Qualität befriedigen kann" (ebenda, S.354). Es ergibt sich somit für das Individuum grundsätzlich eine doppelte Möglichkeitskonstellation, die sich im Kern auf eine polare Entscheidungssituation zuspitzt: Entweder begnügt es sich mit der Nutzung der gewährten/eingeschränkten Handlungsspielräume unter den bestehenden (Herrschafts-)Verhältnissen in ihrer standortspezifischen Besonderung, oder es realisiert in begründeten Handlungen die zweite Möglichkeit der Verfügungserweiterung, "wobei die damit erreichbaren Erweiterungen 'menschlicher' Bedürfnisbefriedigung und Daseinserfüllung, nicht in ihrer absoluten Ausprägung, sondern als Richtungsbestimmungen der Verbesserung meiner Befindlichkeit über den gegebenen Zustand hinaus, die inhaltliche Basis der Handlungsbegründungen bleiben" (ebenda, S.355). Egal, für welche der beiden Alternativen sich der Einzelne unter einer jeweils konkret-historischen Prämissenkonstellation entscheidet, er bleibt immer als Subjekt für seine Handlungen verantwortlich.

4) In Abhängigkeit von der gewählten Alternative angesichts der subjektiv relevant gewordenen "doppelten Möglichkeit" sind nun von Holzkamp zwei Grundkategorien ausgearbeitet worden, um die daraus hervorgehenden divergierenden Gestaltungsformen des Psychischen begrifflich zu differenzieren: 'restriktive Handlungsfähigkeit' als psychischer Funktionskomplex im Rahmen der Nutzung bestehender (herrschaftlich gewährter und damit prinipiell beschränkter) Handlungsspielräume, und 'verallgemeinerte Handlungsfähigkeit' als psychischer Funktionskomplex im Rahmen der aktiven Verfügungserweiterung bestehender Handlungsspielräume (was die konflikthafte Auseinandersetzung mit herrschenden Instanzen "gesetzmäßig" impliziert). Im folgenden wird ein skizzenhafter Überblick über die wesentlichen Funktionsaspekte dieser beiden alternativen Gestaltungsvarianten psychisch regulierter Lebenstätigkeit unter bürgerlich-kapitalistischen Herrschaftsverhältnissen gegeben:

RESTRIKTIVE HANDLUNGSFÄHIGKEIT

Kognitiver Funktionsaspekt: "Deuten"

  • Durch die Fixierung auf die unmittelbare Lebenslage/-praxis wird die reale gesamtgesellschaftliche Vermitteltheit der individuellen Existenz im Denken eliminiert/negiert.
  • Die Möglichkeit der Verfügungserweiterung durch aktive Veränderung der Lebensumstände bleibt ausgeblendet.
  • Mit der 'Unmittelbarkeitsfixierung' einher geht die Verselbständigung der Wahrnehmungsebene im 'deutenden' Erkenntnisprozeß. Daraus resultiert ein Verhaftetbleiben im sinnlich-"unmittelbaren" Oberflächenschein der Dinge/Verhältnisse/Gegebenheiten.
  • Als unmittelbarkeitsfixiertes, anschauliches Denken ist das Deuten geschichtsloses und statisches Denken; als erscheinungsfixiertes Denken erweist es sich als zusammenhangsblind bzw. pseudokonkret: das unmittelbar Erfahrene wird als "das Ganze" fehluniversalisiert.
  • Zu konstatieren ist eine inhaltlich-strukturelle Konvergenz des individuellen Denkens mit den herrschenden (bürgerlichen-ideologischen) Denkformen.

Emotional-motivationaler Funktionsapekt: dissoziierte Emotionalität; innerer Zwang

  • Essentieller Widerspruch zwischen kognitiver (deutender) und emotionaler Weltbegegnung/Realitätsbeziehung als Grund für die aktive Abspaltung/Ver-drängung von "gefährlichen" emotionalen Wertungen, die das oberflächlich-unmittelbarkeitsfixierte Realitätsbild konterkarieren und somit 'Unbehagen' signalisieren. "Aus dieser 'Dynamik' der 'Entschärfung' der Emotionalität durch subjektive Verkennung ihres realen Charakters als Handlungsbereitschaft resultiert einerseits eine scheinhafte Verinnerlichung der Emotionalität als von den realen Lebensbedingungen isolierter,bloß 'subjektiver' Zustand des je einzelnen Individuums und andererseits eine 'Entemotionalisierung', d.h. Zurückgenommenheit und Unengagiertheit des Handelns" (Holzkamp 1983, S.404).
  • Die mit der Anpassung an gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse stets implizierte subjektive Übernahme/Umsetzung selbstnegierender Herrschaftsinteressen muß im Rahmen der Stabilitätswahrung restriktiver Handlungsfähigkeit 'aktiv' verleugnet werden, "d.h. daß die äußeren Zwänge in ihrer 'Verinnerli-chung'... für das Subjekt von motiviert verfolgbaren Anforderungen nicht mehr unterscheidbar sein dürfen. Der so als Moment des 'Unbewußten' sich herausbildende 'innere Zwang' ist mithin eine 'motivationsförmige' subjektive Mystifizierung der Tatsache der Unterdrückung durch die herrschenden Verhältnisse, durch deren Akzeptieren man an der eigenen Unterdrückung aktiv beteiligt ist" (ebenda, S.413).

Selbstreflexiver Funktionsaspekt: verdrängte Selbstfeindschaft

  • Indem das Individuum durch das Arrangement mit den Herrschenden/Mächtigen seine Handlungsfähigkeit abzusichern bestrebt ist, verletzt es damit 'objektiv' zugleich aber immer auch seine eigenen Lebensinteressen. Die Begründung einer solchen Handlungsweise gegenüber sich selbst und anderen impliziert dann allerdings - aufgrund des Ausschlusses bewußt selbstschädigenden Verhaltens - notwendig die Verdrängung, Verleugnung, Rationalisierung etc. der Mitverantwortung an der selbstnegierenden Handlungsweise.

Sozialregulativer Funktionsaspekt: 'Instrumentalität' zwischenmenschlicher Beziehungen

  • Der Verzicht auf die Überwindung herrschaftlich gesetzter Handlungsbeschränkungen, der immer auch als Preisgabe von kollektiven Gegenmachterfahrungen in widerständigen Gemeinschaftsformen zu sehen ist, schließt die Zurückgeworfenheit des Subjekts auf seine subordinierte 'Privatexistenz', also seine relative Vereinzelung, ein. Aufgrund dieses Verzichts auf gemeinsame Verfügungserweiterung im allgemeinen Interesse der Verbesserung der menschlichen Lebensmöglichkeiten erscheint dann im individualistischen Nützlichkeitshorizont bestenfalls die Verbündung von Partialinteressen gegen die Partialinteressen anderer als "vernünftig". Indem darüberhinaus das Arrangement mit den Herrschenden als Zentralmoment der restriktiven Handlungsfähigkeit immer auch die Durchsetzung der eigenen Partialinteressen auf Kosten anderer bedeutet, sind folglich "die Beziehungen zu anderen Menschen durch die wechselseitige Instrumentalisierung des jeweils anderen für die eigenen Interessen charakterisiert" (ebenda, S.375).


VERALLGEMEINERTE HANDLUNGSFÄHIGKEIT

Kognitiver Funtionsapekt: "Begreifen"

  • Die "erscheinende" Alltagsrealität wird in ihrer Bestimmtheit durch die bürgerlich-kapitalistischen Klassenverhältnisse erfaßt.
  • Die gesellschaftlichen Lebensbedingungen werden in ihrem historischen Charakter als gewordene und veränderbare Strukturen erkannt.
  • Die Durchbrechung der "erscheinenden Unmittelbarkeit" der Lebenslage sowie die 'alltagsdialektische' Realisierung des Gesellschaftlich-Allge-meinen im Besonderen der individuellen Lebensumstände fundiert ein 'begreifendes Möglichkeitsdenken' in Verbindung mit der Einsicht in die Einbezogenheit der eigenen Existenz und ihres 'Standpunkts' in den gesellschaftlich-historischen Prozeß.
  • Kennzeichnend ist eine inhaltlich-strukturelle Konvergenz des individuellen Denkens mit gesellschaftskritisch-emanzipatorischen Denkformen.

Emotional-motivationaler Funktionsaspekt: (re-)integrierte Emotionalitä; verallgemeinerte Motivation

  • Durchbrechung der tendenziellen Gegensätzlichkeit von 'Gefühl' und 'Verstand' und damit Überwindung der bloßen 'Innerlichkeit' der Emotionalität vermittels der Nutzung/Wiedergewinnung der eigenen Emotionen als Erkenntnisquelle sowie "Erfassung der in den emotionalen Wertungen liegenden subjektiven Handlungsnotwendigkeiten in Richtung auf die gemeinsame Verfügungserweiterung" (Holzkamp 1983, S.410). Das schließt ein die "Gewinnung von Entschiedenheit, Fülle und Angstfreiheit gegenwärtiger Emotionalität" (ebenda).
  • Aufgrund der Kognizierung der Möglichkeit zur Verfügungserweiterung im gemeinsamen Kampf mit anderen gegen bestehende Handlungsrestriktionen und der in diesem Kontext vollziehbaren (Re-)Integration der Emotinalität gelingt dem Einzelnen die motivierte Übernahme von zugleich überindividuell und subjektiv bedeutsamen Zielen in Form einer 'verallgemeinerten Motivation'.

Selbstreflexiver Funktionsaspekt: begreifende Selbsterkenntnis

  • Das individuelle Subjekt erlangt mit der Erkenntnis der historischen Gewordenheit und Veränderbarkeit der objektiven gesellschaftlichen Strukturen zugleich auch Einsichten in die Eingebundenheit/Geprägtheit des eigenen Selbst in die/durch die zu erkennende Wirklichkeit. Auf diese Weise gewinnt es "eine ne-ue Perspektive auf sich selbst als gestalt- und entwickelbare, zur 'Selbstüber-schreitung' potentiell befähigte Persönlichkeit. Begreifende Selbsterkenntnis impliziert somit immer auch die Einsicht in die 'Selbsthervorbringungskom-petenz' des individuellen gesellschaftlichen Menschen" (Krauss 1996, S.129).

Sozialregulativer Funktionsaspekt: 'Intersubjektivität' zwischenmenschlicher Beziehungen

  • Da die subjektive Realisierung der Möglichkeit der Verfügungserweiterung stets den kooperativen (wenn auch oftmals nur rudimentären und konflikthaften) Zusammenschluß mit anderen zwecks Herstellung kollektiver Gegenmachtstrukturen beinhaltet, werden hier prinzipiell die Grenzen der individuellen Subjektivität überschritten bzw. die Schranken der "Privatexistenz" durchbrochen. Diese Assoziierung mit anderen im Interesse der Durchsetzung/Verallgemeinerung der Verfügung über die gesellschaftlichen Lebensbedingungen birgt auch die Möglichkeit der strukturellen 'Entfeindung' bzw. 'Entinstrumentalisierung' des Mit-Menschen sowie dessen Anerkennung als gleichraniges, von mir unterschiedenes, aber über gemeinsame Interessen verbundenes Subjekt, dessen Höherentwicklung/Fähigkeitserweiterung unsere "gemeinsame Sache" befördert.

In seinen letzten, erst posthum veröffentlichen Arbeiten hat Klaus Holzkamp die 'alltägliche Lebensführung' als subjektwissenschaftlich relevantes Forschungsfeld bestimmt, auf dem die kritisch-psychologischen Kategorien empirisch zu vermitteln und weiter auszudifferenzieren sind. Im Gegensatz zur traditionellen Psychologie, in deren 'Standardversuchsanordnung' der alltägliche Weltbezug des Individuums ausgemerzt ist, und das als Versuchsperson zurechtgestutzte Subjekt einem verstümmelten Torso gleicht, "dessen Erfahrungs- und Handlungsmöglichkeiten in der realen Welt quasi gekappt worden sind" (Holzkamp 1996, S.18), rückt Holzkamp das individuelle Subjekt "innerhalb einer bestimmten Scene seiner .alltägliche Lebensführung" ins analytische Zentrum der Psychologie. Auch von sozialwissenschaftlicher Seite, so vom (ehemaligen) Münchner Forschungsprojekt "Flexibilisierte Arbeitsverhältnisse und die Organisation der individuellen Lebensführung" ist die alltägliche Lebensführung bereits als eine aktive Bewältigungsleistung des Individuums hervorgehoben worden, die darin besteht, die unterschiedlichen (insbesondere reproduktionsnotwendigen) Tätigkeitsanforderungen zeitlich zu koordinieren und zu einem subjektiv sinnvollen und relativ harmonischen Ganzen zu synthetisieren. Diese subjektive Bewältigungsleistung muß als ein fragiles, d.h. stets aktiv zu modifizierendes 'Fließgleichgewicht' angesehen werden, das es beständig gegen Störungen verschiedenster Art abzusichern gilt. Im einzelnen sind hier folgende Anforderungsebenen zu unterscheiden:

  • a) die "Ebene der zeitlichen Organisation des Alltags als Synchronisations-, Koordinations- und Planungsleistung";
  • b) die "Ebene der sachlich-arbeitsteiligen Organisation des Alltags als Abstimmungs- und Aushandlungsleistung bezüglich der individuellen Optionen wie der Verteilung von Aufgaben und Ressourcen"; sowie
  • c) die "Ebene der sozialen Organisation des Alltags als Aushandlungs- und Abstimmungsleistung zur Regulierung von Beziehungen und sozialen Kontakten" (Holzkamp 1995, S.822).

Entscheidend ist nun allerdings, daß die soziologische Subjektorientierung (vgl. hierzu Holzkamp 1995, S.831ff.) bei aller Bezugnahme auf die Subjektivität der Individuen (hier: der Interviewten) prinzipiell nicht den "Standpunkt dritter Person" verläßt. Dh.: "Der Standpunkt/die Perspektive der Subjekte kommen als selbständige begriffliche und methodologische Instanz nicht vor" (Holzkamp 1996,S.67). Die Realitätssicht der Betroffenen wird so in soziologischer Sichtweise, wenn überhaupt, in Termini der Sozialstruktur, bestenfalls noch in Termini der Bedeutungsstruktur erfaßt; ausgeblendet bleibt aber in jedem Fall die Dimension der 'subjektiven Handlungsgründe' als zweiter grundlegender Vermittlungsebene zwischen Individuum und Gesellschaft (s.u.). "Daraus ergibt sich nun für uns, daß erst mit unserer Explikation der Vermittlungsebene der subjektiven Handlungsgründe(7) die 'alltägliche Lebensführung' tatsächlich als eine Aktivität vom Standort und aus der Perspektive der Subjekte in ihrer Vermittlung mit der Gesellschaftsstruktur wissenschaftlich aufweisbar und analysierbar ist. Dies bedeutet aber, daß das Konzept der 'alltäglichen Lebensführung', wenn man es adäquat entwickelt, sich als eine spezifisch psychologische Grundkategorie verdeutlicht" (ebenda, S.68).

Anmerkungen zum Status und zum theoretischen Kern der KP als materialistisch-dialektisch orientierter Subjektwissenschaft

Die KP repräsentiert eine einzelwissenschaftliche Ausarbeitungsvariante materialistisch-dialektisch orientierter Subjekttheorie, die mit dem Anspruch auftritt, erst die kategorialen und methodologischen Grundlagen für eine genuin wissenschaftliche Psychologie im Entwicklungsinteresse der Menschen geschaffen zu haben. Obwohl nun in der Tat der 'elaborierte', d.h. grundbegrifflich und methodologisch systematisch entfaltete Charakter des kritisch-psychologischen Theorieaufbaus besticht und die KP m.E. - neben und im Kontext mit der Kulturhistorischen Schule der früheren sowjetischen Tätigkeitspsychologie - den differenziertesten subjektwissenschaftlichen Ansatz verkörpert, sind doch folgende 'konstitutionellen' bzw. statusbedingten Grenzen zu reflektieren:

1) 'Naturgemäß' fungiert die traditionelle Psychologie mit ihren charakteristischen Bornierungen, Ausblendungen, Einseitigkeiten, verdeckten ideologischen Implikationen, wissenschaftsinstitutionellen Zwängen etc. als herausragendes negatorisches/reinterpetatives Bezugssystem der KP. Da aber, wie Holzkamp (1983, S.345) richtig bemerkt, das Problem des Verhältnisses zwischen der Determination/'Bedingtheit' und der Subjektivität/Freiheit der menschlichen Lebenstätigkeit ein disziplinübergreifendes human- und gesellschaftswissenschaftliches Kernproblem darstellt, ist die einzelwissenschaftliche "Fixierung" auf die traditionelle Psychologie grundsätzlich zu problematisieren. Nimmt man nämlich die Trivialität traditionell-psychologischer Theorien sowie deren weitgehende Mißachtung der 'Subjekthaftigkeit' menschlicher Lebenstätigkeit zum Maßstab, dann ist zu fragen, ob nicht die kritisch-reinterpretative Auseinandersetung z.B. mit philosophischen und geschichtswissenschaftlichen Diskursen über die Stellung und die Handlungsmöglichkeiten des Menschen in der Welt ein lohnenderes bzw. mindestens ebenbürtig relevantes 'Geschäft' ist. Die Entwicklung einer Kritischen Psychologie wäre in dieser Perspektive als eine kontingent und vorläufig anzusehende Realisierungsform materialistischer-dialektischer Subjektwissenschaft unter der zeit- und standortspezifischen Prämissenlage ihrer InitiatorInnen zu betrachten. Allein aber angesichts der gegenstandsspezifischen Komplexität erscheint es mir zukünftig angemessener zu sein, die einzelwissenschaftliche Fixierung in Richtung auf die Inangriffnahme einer interdisziplinär orientierten und fundierten 'Kritischen Subjektwissenschaft' zu überwinden, wobei der gesamte Fonds an kritisch-psychologischen Erkenntnissen in unreduzierter Form einzubringen bzw. zu rezipieren wäre.

2) Die KP begreift sich zum einen als marxistisch orientierte Wissenschaft, wobei sie "von der inneren Einheit und Vereinbarkeit sowie der wechselseitigen Durchdringung der verschiedenen Bestandteile des Marxismus ausgeh(t). Wir heben uns damit eindeutig ab von...Auffassungen, in welchen LENINS Beitrag zur Weiterentwicklung der marxistischen Theorie geleugnet wird, weiterhin unvereinbare Divergenzen der Positionen von MARX und ENGELS behauptet werden und in der Konsequenz allein MARX, speziell der MARX der Kritik der politischen Ökonomie im 'Kapital' als legitime Grundlage anerkannt und die interpretierende Durchdringung des Textes von MARX' 'Kritik' als hinreichende Voraussetzung für die Lösung aller relevanten Probleme betrachtet wird" (Holzkamp 1983, S.33). Zum anderen sieht Holzkamp die KP "als Beitrag in die philosophisch-gesellschaftstheoretische Ebene materialistischer Dialektik hinein" (ebenda). Insofern wäre sie "der Versuch eines inneren Ausbaus der materialistischen Dialektik in Richtung auf eine mit deren Mitteln empirisch forschende marxistische Individualwissenschaft" (ebenda, S.34). Neuerdings hat Markard (1997, S.71) insbesondere drei Bezüge der KP auf die von Marx begründete Theorie hervorgehoben:

  1. die Spezifizierung und Anwendung des logisch-historischen Verfahrens zur Fundierung psychologischer Grundbegriffe, 'Kategorien':
  2. der Bezug auf die Resultate Marxscher und marxistisch gesellschaftstheoretischer Analysen, d.h. die Nutzung und Konkretisierung gesellschaftstheoretischer Erkenntnisse für die Aufschlüsselung individueller Erfahrungen, und
  3. die Nutzung und Konkretisierung v.a. in der Warenanalyse enthaltener psychologischer Bedeutungsmomente wie 'objektive Gedankenformen'."

Auffällig ist in diesem 'grundlagentheoretischen' Kontext nun allerdings der vollständige Verzicht der KP auf eine explizite Kritik an der "parteimarxisti-schen" Verflachung, Deformierung und legitimationsideologischen Instrumentalisierung der theoretischen Konzepte von Marx, Engels und Lenin, wie sie insbesondere innerhalb der "kommunistischen Weltbewegung" einschließlich der "realsozialistischen Staatsparteien" zu konstatieren war(8). Als Kehrseite dieser Selbstbeschränkung fehlt zudem eine inhaltliche Auseinandersetzung der KP mit jenen marxistischen TheoretikerInnen, die vom "Parteimarxismus" marginalisiert und/oder verfemt waren , deren Werke (z.B. Lukács und Gramsci) aber gerade subjekttheoretisch relevante Ideen enthalten (vgl. hierzu Krauss 1998).

3) Mit der von der KP begrifflich als "doppelte Möglichkeit" gefaßten elementaren Alternativität menschlicher Lebensgestaltung unter antagonistischen Gesellschaftsbedingungen rückt konsequenterweise die Frage nach der subjektiven Entscheidungslogik (angesichts der bipolaren Möglichkeitskonstellation) ins Zentrum der subjektwissenschaftlichen Theoriebildung. Warum (aus welchen Gründen) verwirft oder realisiert das konkret-historisch positionierte Individuum die Möglichkeit der Verfügungserweiterung? Die KP hat hierauf im wesentlichen mit ihrem Konzept des 'Motivationswiderspruchs' geantwortet. Danach ist Motivation als der emotional-antizipatorische Aspekt der Handlungsplanung und -ausführung prinzipiell dadurch charakterisiert, "daß in die antizipatorische Wertung der zu erreichenden zukünftigen Situation hier notwendig zwei widersprüchliche Bestimmungen eingehen, die Wertung der zukünftigen Lebensqualität und die Wertung der auf dem Weg dorthin'erwarteten' Anstrengungen und Risiken: Nur soweit sich bei der kognitiv-emotionalen Verarbeitung dieser widersprüchlichen Bestimmungsmomente im Ganzen eine positive Wertigkeit der antizipierten Aktivität ergibt, die die Wertigkeit der gegenwärtigen Situation übersteigt, kann die Aktivität tatsächlich 'motiviert' vollzogen werden" (Holzkamp 1983, S.300; alle Sperrungen entfernt, H.K.) Unter antagonistischen Lebensverhältnissen manifestiert sich dieser allgemeine Motivationswiderspruch im Widerstreit zweier sich ausschließender Wertungen: a) der positiv-antizipato-rischen Wertung der mit der angestrebten Verfügungserweiterung in Aussicht stehenden Erhöhung/Verbesserung der Lebensqualität (Optimierungsantizipati-on) und b) der negativ-antizipatorischen Wertung der erwarteten aggressiven Abwehr- und Gegenmaßnahmen der verfügungsbehindernden Herrschaftsinstanzen (Risikoantizipation). Dem so gefaßten 'Motivationswiderspruch' liegt innerhalb der kritisch-psychologischen Theorieentwicklung Ute Osterkamps 'Kon-fliktmodell' zugrunde(9). Danach "müssen Konflikte in ihrer 'menschlichen' Spezifik generell im Prozeß der Erlangung und Gefährdung von Handlungsfähigkeit in der Teilhabe und Kontrolle der allgemeinen und damit individuellen Lebensbedingungen entstehen und bewältigt werden" (Holzkamp-Osterkamp 1978, S.277). Die Pole menschlicher Konflikte werden generell so gekennzeichnet: "Auf der einen Seite bestimmte emotionale Handlungsbereitschaften, die durch die Kognition und Bewertung von Möglichkeiten zur in der Erfüllung gesellschaftlicher Anforderungen erreichbaren langfristigen Lebensverbesserung entstanden sind; auf der anderen Seite die emotional bewertete Antizipation von durch die Realisierung dieser Handlungsbereitschaften drohendem Verlust der Handlungsfähigkeit und Existenzsicherung" (ebenda, S.280.) Innerhalb bürgerlich-kapitalistischer Verhältnisse"muß sich der Mensch in Abhängigkeit von seiner konkreten Lebenslage objektiv entscheiden, wieweit er die aus Einsicht in allgemeingesellschaftliche Notwendigkeiten entstandene emotionale Bereitschaft zu einem Beitrag zur Erhöhung gesellschaftlicher Realitätskontrolle und damit Verbesserung der Kontrolle über seine eigenen Lebensbedingungen tatsächlich in Handlungen realisieren oder aufgrund des Risikos des Entzugs seiner Existenzgrundlage durch die herrschende Klasse oder ihrer Agenten auf diesen Beitrag verzichten soll" (ebenda, S.279).

Obwohl nun das 'Konfliktmodell' sowie das Konzept des 'Motivations-widerspruchs' subtile Einsichten in psychische Regulierungszusammenhänge der antagonistisch vergesellschafteten Menschen beinhalten, so sind doch m.E. folgende Einseitigkeiten, Reduktionen und Erklärungsmängel zu konstatieren:

a) Im Kontext des 'Konfliktmodells' und des 'Motivationswiderspruchs' wird der Prozeß der Gewinnung adäquater Einsichten in die subjektiv relevanten gesellschaftlichen Zusammenhänge angesichts eines in sich antagonistisch strukturierten Ensembles von "ideologischen" Bedeutungen (Ideen, Theorien, Programme, Erklärungen, Handlungsaufforderungen etc.) auf eigentümliche Weise entproblematisiert. D.h. es wird unterstellt, daß das individuelle Subjekt bereits über hinreichende Kognitionen/Einsichten in allgemeingesellschaftliche Notwendigkeiten, Herrschaftszusammenhänge, Widerspruchkonstellationen etc verfüge, um sodann vermittels dieser unterstellten kognitiven "Ausrüstung" zu entscheiden, ob es kämpft (sich auflehnt, protestiert etc.) oder sich anpaßt bzw. in Unterwerfung verharrt .Der Einzelne imponiert somit als "wissender Risikoabwäger" bzw. - im Falle des Verzichts auf Verfügungserweiterung - als "aufgeklärter Feigling"(10).

b) Die "Entwichtigung" des Prozesses der Gewinnung adäquater Einsichten ist m.E. einerseits "reinterpretationsbedingt": In dem Maße, wie die Freudsche Psychoanalyse in ihrer Fixierung auf "unbewußte Triebimpulse" u.ä. den kognitiven (rationalen) Funktionskomplex des Psychischen ausblendet, schlägt diese "Einseitigkeit" in spezifischer Form auf das kritisch-psychologische Konfliktmodell durch. Zum anderen wäre aber auch das kritisch-psychologische Bedeutungskonzept - z.T. im Rekurs auf Leontjew - folgendermaßen zu erweitern bzw. zu präzisieren:

  • Bedeutungen sind nicht nur gesellschaftlich erarbeitete Vergegenständlichungen von Handlungs- und Denkmöglichkeiten, sondern auch Verkörperungs- bzw. Ausdrucksmöglichkeiten von persönlichem Sinn.
  • Eine elementare Dimension von ("ideologischen") Bedeutungen bilden je-ne "Funktionseinheiten" von intern korrespondierenden Aussagen, Werturtei-len und Normen (Handlungsaufforderungen), die sich in antagonistisch strukturierten Gesellschaften wechselseitig negieren/konterkarrieren.
  • Angesichts der antagonistischen Prägung der gesellschaftlichen Bedeutungssysteme ist die reale Kompliziertheit der Suche nach adäquaten Bedeutungen als untrennbar-durchgängiger Aspekt der 'Konfliktbewältigung' herauszuheben: "Der persönliche Sinn...kann unter diesen Bedingungen keine ihn adäquat verkörpernden objektiven Bedeutungen finden und beginnt dann gleichsam in fremder Kleidung zu leben ...Dies schafft auch die Möglichkeit, in sein Bewußtsein entstellte oder phantastische Vorstellungen und Ideen hineinzutragen,...die in der realen praktischen Lebenserfahrung keinerlei realen Boden haben" (Leontjew 1982, S.149).

c) Die subjektive Wertung des erlebten Widerspruchs zwischen individuellem Streben nach verbesserter Realitätskontrolle und der Erfahrung herrschaftlicher Restriktion kann man nicht auf - sekundär vermittelte - "Sanktionsangst" im Falle der Realisierung von Aktivitäten gegen die verfügungsbehindernden Instanzen reduzieren bzw. zentrieren. Vielmehr ist hier die ganze Palette negativer Emotionsqualitäten wie Zorn, Wut, Empörung etc. in ihrer tätigkeitsregulierenden (darin eingeschlossen: Angst kompensierenden bzw. neutralisierenden) Funktion im Kontext des relativ offenen und "reversiblen" Suchprozesses nach adäquaten ("widerspruchslösenden") Bedeutungen in Rechnung zu stellen (vgl. Krauss 1996, S.120ff.).

d) Die im kritisch-psychologischen 'Konfliktmodell'/'Motivationswider-spruch' (über-)akzentuierten Zusammenhänge sind m.E. angemessener als Teilmomente der "übergreifenden" subjektiven Verarbeitung des antagonistischen Entwicklungswiderspruchs der Persönlichkeit zu begreifen. In diesem Konzept der subjektiven Widerspruchsverarbeitung habe ich versucht, wesentliche Einsichten/Kategorien der kulturhistorischen Tätigkeitspsychologie sowie der KP zu integrieren und im Hinblick auf die subjektive "Entscheidungslogik" unter antagonistischen Lebensbedingungen zu fokussieren (vgl. Krauss 1996). An Stelle einer ausgefalteten Rekapitulierung meines Konzepts möchte ich hier lediglich folgendes Schema einfügen:

Antagonistischer Entwicklungswiderspruch der Persönlichkeit und allgemeine Zusammenhänge der subjektiven Widerspruchsverarbeitung

Schaubild

4) Wie in den vorangegangenen Ausführungen aufgezeigt wurde, wird im 'Bedingtheitsdiskurs' der traditionellen Psychologie das subjektive Verhalten als durch äußere Einflüsse unmittelbar verursacht angesehen, d.h. als von außen kausal-mechanisch determiniert betrachtet. Demgegenüber insistiert der kritisch-psychologische 'Begründungsdiskurs' darauf, "daß Handeln in seiner menschlichen Besonderheit nicht unmittelbar durch die Lebensumstände bedingt ist, sondern durch mentale Aktivitäten und Intentionsprozesse, wie inneres Sprechen, Selbstkommentare etc. vermittelt, in welchen man sich zu seinen widersprüchlichen Erfahrungen wiederum bewußt verhalten kann, um so sein Handeln und seine Interessen, wie man sie jeweils wahrnimmt, zu begründen" (Holzkamp 1994, S.13).

Auch im Interesse der Entwicklung einer Psychologie, die den Subjektstandpunkt nicht nur nicht ausblendet, sondern im Gegenteil ins Zentrum rückt, kann man freilich - übrigens im Sinne der "Durchhaltung" einer kritischen Perspektive auch gegenüber dem Subjekt - den 'Außenstandpunkt nicht vollständig desavouieren.

Erstens ist der 'Außenstandpunkt' ontologisch nicht transzendierbar. Zwar kann ich mich systematisch darum bemühen, den Standpunkt/die Prämissenlage sowie die subjektiven Handlungsgründe des Anderen zu rekonstruieren bzw. verstehend nachzuvollziehen. Aber ich vermag natürlich nie gänzlich mich in den Anderen "hineinzuversetzen" und meinen eigenen Standpunkt außerhalb des Anderen aufzugeben. Es verbleibt somit immer eine unaufhebbare Erfahrungs- und Erlebnisdifferenz zwischen mir und dem /den Anderen.

Zweitens ist der 'Außenstandpunkt' auch als Artikulation des Subjektstandpunkts des Anderen mir gegenüber zu begreifen. Mit seinem "Standpunkt außerhalb" signalisiert mir der Andere seine Beschaffenheit als eigensinniges Intentionalitätszentrum, das ich als abgrenzungs- und auseinandersetzungsfähige Einheit in Rechnung zu stellen habe; wobei dieser zwischenmenschlich-intentionale "Aufprall" überhaupt erst - nämlich im Falle der zumindest partiellen wechselseitigen Anerkennung - die Möglichkeit für die Herstellung eines 'inter-subjektiven Beziehungsmodus' zu stiften vermag.

Wie bereits angesprochen, liegt nach Holzkamp das einzige materiale Apriori der Individualwissenschaft darin, "daß der Mensch sich nicht bewußt schaden kann" (1983, S.350). Desweiteren wird der notwendige soziale Bezug der subjektiven Handlungsgründe auf den 'verallgemeinerten Anderen" betont. "Da ich mich...aufgrund der Strukturen der gesellschaftlichen Denkformen in deren Aneignung/Realisierung niemals anders denn als 'Fall von' verallgemeinertem Anderen (verallgemeinertem Nutzer/Produzenten) denken kann...unterliegen auch 'meine' Handlungsgründe dem eigenen Anspruch nach ihrer Verallgemeinerbarkeit, sind also subjektiv-intersubjektive Handlungsgründe. Sofern also meine Handlungen für mich tatsächlich 'begründet' sind, müssen diese Gründe prinzipiell auch 'für Andere' einsehbar, also intersubjektiv verständlich sein" (ebenda/alle Sperrungen entfernt, H.K.).Und weiter heißt es: "'Unverständlich-keit ' bedeutet damit lediglich, daß für mich die 'Prämissen', aus denen sich die Verständlichkeit, Begründetheit, subjektive Funktionalität der Handlungen ergeben würden, nicht bekannt, verborgen etc. sind, was einschließt, daß, wenn ich diese Prämissen kennen würde, die faktische Verständlichkeit/Begründetheit der Handlungen auch für mich einsehbar wäre (ebenda, S.351).

M.E. greift dieser kritisch-psychologische Teildiskurs bezüglich der intersubjektiven 'Nachvollziehbarkeit'/'Verständlichkeit' von subjektiven Handlungsgründen im Kontext antagonistischer Lebensverhältnisse zu kurz. Zum einen ist nämlich in aller Deutlichkeit darauf zu verweisen, daß der individuelle Mensch zwar nicht sich selbst, wohl aber anderen (Mit-)Menschen bewußt schaden kann bzw. seine gesellschaftlich durchformte Bedürftigkeit/Sinnhaftigkeit oftmals auf Kosten, zu Lasten und zum Schaden anderer realisiert. Andererseits ist der auf der Erscheinungsebene zwar "unvernünftig", "irrational", "unerklärlich" etc. anmutende, aber im Hinblick auf die "binnenlogische" Schlüssigkeit durchaus "rationale" Charakter jener reaktionär-antihumanen Bedeutungmomente (Ideologeme) zu berücksichtigen, die von konkreten Individuen als Handlungsprämissen selegiert worden sind(11). Von elementarer Relevanz wäre es deshalb, eine radikale begriffliche Unterscheidung zwischen "verstehendem"/"ratio-nalem" Nachvollziehen von Handlungsgründen im Lichte der Rekonstruktion der (ja stets mehrere alternative Handlungsmöglichkeiten implizierenden) subjektiven Prämissenlage und dem moralischen Akzeptieren jener rekonstruierten Handlungsgründe vorzunehmen. Auf diese Weise könnte auch der prinzipielle Subjektstandpunkt mit einer subjektkritischen (hinterfragenden) Perspektive verbunden werden. Die begriffliche Differenzierung zwischen 'rationalem Verstehen' und ' moralischem Akzeptieren' ist dabei als notwendiges Implikat einer intersubjektiven Beziehungsform zu sehen, in welcher das Verhältnis zwischen mir und dem/den Anderen im Spiegel des Allgemeininteresses(12) reflektiert und begründbar reguliert wird. Als Teilaspekt einer progressiven Widerspruchsverarbeitung schließt dieser Beziehungsmodus folglich die kritische Konfrontation des Subjekts mit dem Maß der humanen Verallgemeinerbarkeit von Handlungsgründen im Sinne des Marxschen kategorischen Imperativs ein, alle unmittelbaren Verhaltensweisen/Handlungen zu unterlassen, die zur Konstituierung/Stabilisierung/Perpetuierung von Verhältnissen beitragen, "in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist" (Marx 1988, S.385).

© Hartmut Krauss, Osnabrück 1998





Anmerkungen

1 Aus meiner Sicht lassen sich rückblickend drei Entwicklungsabschnitte der KP unterscheiden: Erstens die Konstituierungsphase (1967-1973), in der die wissenschafttstheoretisch-ideologiekritische Auseinandersetzung mit der traditionellen Psychologie bestimmend war (vgl. Holzkamp 1972); zweitens die erste Ausarbeitungsphase der KP (1973-1983), vom Erscheinen der "Sinnlichen Erkenntnis" bis zur "Grundlegung der Psychologie" und drittens die zweite Ausarbeitungsphase (1983 bis heute), in der die kategorial-methodischen Prinzipien der "Grundlegung" auf konkrete Problemfelder wie 'Lernen', 'Rassismus/Diskriminierung', 'psychologische Praxis', und 'alltägliche Lebensführung' angewendet werden.

2 "Als 'bürgerlich' wird Sozialwissenschaft dann bezeichnet, wenn sie die kapitalistische Gesellschaft nicht als qualitativ spezifisch, aus einer strukturell anderen Gesellschaftsform historisch entstanden und in bestimmten prinzipiellen Antagonismen und Begrenztheiten nur durch Transformation in eine strukturell andere Gesellschaftsform aufhebbar begreift, sondern die bürgerliche Gesellschaft insofern mit 'Gesellschaft überhaupt' identifiziert, als sie ihre Übel als quasi naturgegeben hinnimmt bzw. die Möglichkeit ihrer optimalen Entwicklung ohne qualitativ-strukturelle Veränderungen voraussetzt" (Holzkamp 1972c, S.199).

3 "Es handelt sich hier nicht um eine Übertragung des Marxschen Vorgehens auf ein anderes, diesem fremdes und äußerliches Gebiet. Die Methodik der Erforschung von Entwicklungsprozessen konkreter Individuen, da diese Entwicklungen Teilmoment gesellschaftlicher Entwicklung sind, kann nur eine Spezifizierung der allgemeinen gesellschaftsanalytischen Methodik sein, und zwar deswegen, weil sie im Prinzip den gleichen Gegenstand, die gesellschaftliche Entwicklung, hat, der hier nur in einem bestimmten, quasi mikroskopischen Aspekt thematisiert ist (Holzkamp 1978c, S.255).

4 Hervorzuheben sind insbesondere folgende Veröffentlichungen: Klaus Holzkamps "Sinliche Erkenntnis - Historischer Ursprung und gesellschaftliche Funktion der Wahrnehmung"; Ute Holzkamp-Osterkamps zweibändige "Grundlagen der Motivationsforschung" und Volker Schurigs zweibändige "Naturgeschichte des Psychischen" sowie sein Buch "Die Entstehung des Bewußtseins"

5 "Die historische Methode unter den Prämissen des historischen und dialektischen Materialismus begreift ihren Erkenntnisgegenstand in seiner Entstehung aus den objektiven Notwendigkeiten des wirklichen materiellen Lebensprozesses: unter naturgeschichtlichem Aspekt den Notwendigkeiten der organismischen Lebenserhaltung, unter gesellschaftlich-historischem Aspekt den Notwendigkeiten der Erhaltung und Entfaltung des gesamtgesellschaftlichen Lebens und unter individualgeschichtlichem Aspekt den Notwedigkeiten der Lebenserhaltung und-entfaltung des individuellen gesellschaftlichen Menschen" (Holzkamp/Schurig 1980, S.XXVI).

6 Entscheidend ist hierbei, daß 'Bedingungen/Prämissen' und 'Gründe' nicht dichotomisch gegenübergestellt, sondern als vom Subjekt aktiv vermittelt begriffen werden: "Menschliche Handlungen/Befindlichkeiten sind also weder bloß unmittelbar-äußerlich 'bedingt', noch sind sie Resultat bloß 'subjektiver' Bedeutungsstiftungen o.ä., sondern sie sind in den Lebensbedingungen 'begründet'" (Holzkamp 1983, S.348).

7 Für die Konstituierung der 'subjektiven Handlungsgründe' ist die 'phänomenale' Gegebenheit des permanenten inneren Zwiegesprächs als wesentliches Merkmal menschlicher Subjektivität von fundamentaler Bedeutung. Dieser "innere Selbstumgang ist sozusagen das Medium, das den Hintergrund und Kontext für meine gesamte Lebenstätigkeit bildet - wobei die Veräußerlichung und Vergegenständlichung meines inneren Sprechens in lauten Sprachäußerungen nur eine - wenn auch zentrale - Funktion des inneren Sprechens darstellt" (Holzkamp 1996, S.63).

8 Ökonomistische und mechanistische ("außendeterministische") Positionen, wie sie Holzkamp exemplarisch-kritisch gegenüber dem ehemaligen "Projekt Klassenanalyse" herausgearbeitet hat, waren im kommunistischen "Parteimarxismus" (z.B der DKP und SEW) - übrigens auf deutlich niedrigerem Niveau als bei Bischoff u. a. - dominante Einstellungsmuster.

9 Zum Stellenwert des 'Konfliktmodells' für die Entfaltung der KP vgl. Holzkamp 1984, S.29ff.

10 Hätte der Einzelne die gesellschaftliche Realität in ihrer antagonistischen Strukturiertheit, Gewordenheit

11 Hätte der Einzelne die gesellschaftliche Realität in ihrer antagonistischen Strukturiertheit, Gewordenheit, Aufhebungsnotwendigkeit und -möglichkeit wirklich begreifend durchdrungen und daraus hervorgehend zudem ein neues handlungsstrategisches Wissensniveau erreicht, dann würde sich auch seine vormals "kleinmütige" Risikoeinschätzung bezüglich der aggressiven Resistenz der Herrschenden qualitativ ermäßigen. "Wissen, Erkenntnis, die - wenngleich auch nur partiell - helfen, den Alltag, die Vergangenheit, die absehbare Zukunft mitsamt den Bedrohungen und den Ursachen der Bedrohungen zu durchschauen, zu begreifen, damit allererst gestaltbar zu machen, sind immer auch psychische Gratifikationen, weil sie jenen utopischen "Kern" in der aufklärungsresistenten psychischen Struktur anrühren, der trotz aller Deformationen eher ahnt, denn davon weiß, daß die Welt zu erkennen und zu gestalten besser ist als bloßes Erleiden" (Ahlheim 1993, S.227).

12 Zur Verdeutlichung verweise ich exemplarisch auf jene säkularen und religiösen Bedeutungen als "Generatoren" subjektiver Begründungsmuster, in denen die Gleichwertigkeit menschlicher Lebensrechte grundlegend negiert und die Unversehrtheit des Anderen auf z.T. grausame Weise 'begründet' mißachtet wird. So fungieren rechtsextremistisch-rassistische ebenso wie islamistisch-fundamentalistische Bedeutungsvarianten als Prämissen in sich schlüssiger ("vernünftiger") Begründungmuster für die Ermordung angeblich "fremdrassiger", "ungläubiger" etc. in jedem Falle aber "minderwertiger" Menschen (vgl. Krauss 1992.und Krauss 1997). Auch die im Kontext der spätkapitalistischen "Konsum- und Ellenbogengesellschaft" nahegelegten Normen der Lebensführung und Selbstpräsentation initiieren massenhaft die Reproduktion jener hedonistisch-egozentrischen Begründungsmuster (einschließlich delinquentem Erlangen von 'Statussymolen'), die in sich schlüssig den/die Anderen in seiner/ihrer Eigenwertigkeit und Subjekthaftigkeit/Leidensfähigkeit gar nicht mehr wahrzunehmen vermögen. Nicht nachgiebig-"verstehende" Akzeptanz, sondern massive (Re-)Konfrontation mit der Eigensinnigkeit der negierten/verletzten Mitmenschen scheint mir hier die adäquate Interventionstrategie zu sein (vgl. Huisken 1996 und Norddeutsche Antifagruppen.o.J.).

13 "Das Allgemeininteresse bestimmt sich generell dadurch, daß es als allgemeines nicht gegen die Interessen bestimmter Personen oder Gruppen gerichtet sein kann. Das Allgemeininteresse ist damit immer - gleichviel wie es sich näher konkretisiert - ein Interesse an der Überwindung der Unterdrückung des Menschen durch den Menschen, d.h. gerichtet auf die Verfügung der Menschen über ihre eigenen Angelegenheiten, die damit sich nicht fremden konträren Interessen unterwerfen und der Willkür der Mächtigen ausliefern wollen" (Holzkamp 1980, S.210).

Literatur:

Ahlheim, Klaus: Wider den sozialpädagogischen Gestus - Rechtsextremismus als Herausforderung an die Pädagogik. In: Argumente gegen den Haß. Über Vorurteile, Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus. Band II: Textsammlung. Ausgewählt von: Klaus Ahlheim, Bardo Heger, Thomas Kuchinke. Herausgegeben von der Bundeszentrale für politische Bildung und der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung, Bonn 1993, S.221-227.

Graumann, Carl Friedrich: Phänomenologische Analytikund experimentelle Methodik in der Psychologie - das Problem der Vermittlung. In:Braun, Karl-Heinz, Holzkamp, Klaus: Subjektivitätals Problem psychologischer Methodik. 3. Internationaler Kongreß kritische Psychologie, Marburg 1984, Frankfurt; New York 1984, S.38-59.

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Holzkamp, Klaus: Die kritisch-emanzipatorische Wendung des Konstruktivismus (1972b). In: Holzkamp 1972, S.99-146.

Holzkamp, Klaus: Kritischer Rationalismus als blinder Kritizismus (1972c). In: Holzkamp 1972, S.173-205.

Holzkamp, Klaus: Die Überwindung der wissenschaftlichen Beliebigkeit psychologischer Theorien durch die Kritische Psychologie. In: Holzkamp, Klaus: Gesellschaftlichkeit des Individuums. Aufsätze 1974-1977. Köln 1978a, S.129-201.

Holzkamp, Klaus: Kann es im Rahmen der marxistischen Theorie eine Kritische Psychologie geben? In: Holzkamp, Klaus: Gesellschaftlichkeit des Individuums. Aufsätze 1974-1977. Köln 1978b, S.202-230.

Holzkamp, Klaus: Das Marxsche "Kapital" als Grundlage der Verwissenschaftlichung psychologischer Forschung. In: Holzkamp, Klaus: Gesellschaftlichkeit des Individuums. Aufsätze 1974-1977. Köln 1978c, S.245-255.

Holzkamp, Klaus: Zur kritisch-pschologischen Theorie der Subjektivität I. Das Verhältnis von Subjektivität und Gesellschaftlichkeit in der traditionellen Sozialwissenschaft und im Wissenschaftlichen Sozialismus. In: Forum Kritische Psychologie 4 (Argument-Sonderband AS 34), Berlin 1979, S.10-54.

Holzkamp, Klaus: Individuum und Organisation. In: Forum Kritische Psychologie 7 (Argument-Sonderband AS 59), Berlin 1980, S.208-225.

Holzkamp, Klaus: Grundlegung der Psychologie, Frankfurt/Main; New York 1983.

Holzkamp, Klaus: Kritische Psychologie und phänomenologische Psychologie. Der Weg der Kritischen Psychologie zur Subjektwissenschaft. In: Forum Kritische Psychologie 14 (Argument Sonderband AS 114), Berlin 1984, S.5-55.

Holzkamp, Klaus: Verborgene Begründungsmuster in traditionellen Lerntheorien? In: Forum Kritische Psychologie 34, Berlin; Hamburg 1994, S.13-17.

Holzkamp, Klaus: Alltägliche Lebensführung als subjektwissenschaftliches Grundkonzept. In: Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften 212, Berlin; Hamburg 1995, S.817-846.

Holzkamp, Klaus: Manuskripte zum Arbeitsprojekt "Lebensführung". In: Forum Kritische Psychologie 36, Berlin; Hamburg 1996, S.7-112.

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Markard, Morus: Zum Empiriebezug von "Begründungsmustern" als "implikativen" Zusammenhangsaussagen. In: Forum Kritische Psychologie 34, Berlin; Hamburg 1994, S.61-66.

Markard, Morus: Kritische Psychologie muß marxistisch sein! In: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung Heft 30, Frankfurt am Main 1997, S.69-81.

Marx, Karl: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. MEW Band 1. Berlin 1988, S.378-391.

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GLASNOST, Berlin 1992 - 2019