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Beiträge zur Theorie  









Hartmut Krauss

Zwischen Subjektivismus und Objektivismus. Zum Erkenntnisgehalt der theoretischen Konzeption Pierre Bourdieus.


Der französische Sozialwissenschaftler Pierre Bourdieu (geb. 1930) ist hierzulande vor allem durch sein materialreiches Werk „Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft“ bekannt geworden, in dem die Interdependenz zwischen sozialstruktureller Positionierung, der Ausprägung klassenspezifischer Geschmacksdispositionen und sich darauf gründender symbolischer Lebensführungsstile anhand der französischen Gesellschaft der 60er und 70er Jahre behandelt wird. In jüngerer Zeit ist Bourdieu darüberhinaus einer politisch interessierten Teilöffentlichkeit auch außerhalb des engeren wissenschaftlich-akademischen Sektors als scharfer Kritiker des Neoliberalismus1 sowie als Inspirator einer neuen „Internationale der Intellektuellen“2 bekannt geworden. Damit hat er das lange von ihm selbst gepflegte Ideal weltanschaulicher Neutralität im Namen der „Wertfreiheit“ als Credo „gelehrter Enthaltsamkeit“ hinter sich gelassen und plädiert nun - unter den veränderten Vorzeichen eines ‚postrealsozialistischen‘ Globalisierungsprozesses - für ein kritisches Eingreifen gegen die marktradikale ‚Entfesselung‘ des Kapitalismus3.


Aber nicht wegen dieser ‚Wende‘ zur gesellschaftskritischen Parteinahme ist die Auseinandersetzung mit Bourdieus Auffassungen im Rahmen der vorliegenden (subjekt-)wissenschaftlichen Fragestellung nach dem Verhältnis zwischen objektiver Determination und subjektiver Autonomie bzw. zwischen „sozialer Lage“ und „Bewußtseinsentwicklung“ von Interesse, sondern in erster Linie aufgrund der folgenden theoretischen Konzeptionsinhalte:

a) der Behandlung des Gegensatzes zwischen Subjektivismus und Objektivismus als herausragender Spaltungslinie in den Sozialwissenschaften;

b) der Formulierung einer eigentümliche Theorie der Praxis; sowie

c) der Theoretisierung des Verhältnisses zwischen sozialräumlicher Klassenstruktur, Habitusformen und subjektiver Lebensführungspraxis.


Welchen Beitrag leisten die theoretischen Überlegungen Bourdieus zur Aufdeckung des widersprüchlichen Verhältnisse zwischen subjektiv-eigensinniger Lebenstätigkeit und gesellschaftlicher Bestimmtheit in der Perspektive der Möglichkeitsreflexion subjektiver (kollektiver und individueller) Bewegung auf „höhere“ Tätigkeitsniveaus4.



1. 'Subjektivismus' und 'Objektivismus' als gegensätzliche Erkenntnismodi in den Sozialwissenschaften


Kennzeichnendes Merkmal der philosophischen und gesellschaftswissenschaftlichen Entwicklung in Frankreich nach 1945 ist ein besonders ausgeprägter, zudem einem „Konjunkturzyklus“ folgender Gegensatz zwischen zwei elementaren erkenntnisstrategischen Positionen: Zum einen eine Sichtweise, die den menschlichen individuellen und/oder kollektiven Akteur (‚das Subjekt‘) begrifflich-thematisch in den Vordergrund stellt, und zum anderen eine Sichtweise, in der die objektiven gesellschaftlichen Strukturen als das primär Relevante ins Zentrum gerückt werden. Dominierte Anfang des 20. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg die Schule Durkheims mit ihrer Lehre vom Zwang der sozialen Tatsachen, denen gegenüber das Subjekt buchstäblich als das gesetzmäßig „Unterworfene“ erscheint und folglich erkenntnistheoretisch von lediglich sekundärem Interesse ist, avancierte nach 1945 angesichts der Erfahrung von Kriegszerstörung, Besatzung und Kollaboration mit den Nazis, aber auch in Anbetracht der stalinistischen Schreckensherrschaft, der Mensch in seiner existenziellen Grundbefindlichkeit zum Zentralthema. „Zwei Studienfreunde, Jean-Paul Sartre und Maurice Merleau-Ponty, taten sich zusammen, um angesichts der Alternative von Sozialismus und Barbarei einen Humanismus des leibhaftig existierenden und selbstbewußt handelnden Individuums zu begründen...Die Begriffe Existentialismus und Phänomenologie standen obenan. ‚Der Mensch ist zur Freiheit verdammt‘, schrieb der eine, ‚wir sind zum Sinn verurteilt‘ der andere nicht weniger apodiktisch“(Köhler 1991, S.39). Nach dem Verblühen des existentialistischen Humanismus in den 60er Jahren reaktivierte fortan der Strukturalismus das Durkheimsche Postulat des Zwangscharakters der sozialen Tatsachen gegenüber dem nunmehr „zeichensystemisch“ ausgelieferten Subjekt, das auf den Status eines kombinierenden Operators differentieller Sprach- bzw. symbolischer Ordnungselemente reduziert wird5.


Aus diesem philosophisch-sozialwissenschaftlichen Kontext heraus betrachtet Bourdieu die Spaltung zwischen Subjektivismus und Objektivismus mit ihrer jeweils spezifischen Verabsolutierungstendenz von (unvermittelten) Teilwahrheiten als den grundlegendsten und verderblichsten Gegensatz innerhalb der Sozialwissenschaften. Um hier zu einer adäquaten Problemlösung zu gelangen, wird eine zweifache Aufgabenstellung anvisiert: Erstens die Überwindung dieses Antagonismus bei gleichzeitiger Aufbewahrung der Errungenschaften beider Erkenntnisweisen und zweitens die Herausarbeitung der gemeinsamen Grundannahmen, die beide wissenschaftlichen Erkenntnisweisen im Gegensatz wiederum zur praktischen Erkenntnisweise als der Grundlage der „normalen“ Erfahrung der Sozialwelt charakterisieren.


Der subjektivistische Erkenntnismodus, der nahezu ausschließlich subjektive Erscheinungen (Wahrnehmungen, Bewußtseinszustände, Absichten, kognitive Repräsentationen etc.) fokussiert, wie sie der Alltagserfahrung konkreter Individuen unmittelbar gegeben sind, manifestiert sich für Bourdieu in der Ethnomethodologie, der interaktionistischen Soziologie, der Handlungssoziologie von A. Touraine, der voluntaristischen Freiheitsphilosophie Sartres und nicht zuletzt in der Sozialphänomenologie (Hauptvertreter: A. Schütz im Anschluß an die Phänomenologie E. Husserls). Kritikwürdig an diesen Ansätzen ist die Reduzierung sozialwissenschaftlicher Erkenntnis auf wissenschaftlich-deskriptive Reformulierung vorwissenschaftlicher Erfahrung und damit der Verzicht auf die De-Zentrierung der scheinbaren alltagspraktischen Unmittelbarkeit. Somit kann die subjektivistische Erkenntnisweise „nicht über eine Beschreibung dessen hinweggelangen, was das ‚erlebte‘ Erfahren der Sozialwelt als solches charakterisiert, d. h. nicht über eine Auffassung dieser Welt als einer evidenten oder fraglos gegebenen. Daß dem so ist, liegt daran, daß diese Erkenntnisweise die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit solcher Erfahrung ausschließt, nämlich nach der Deckungsgleichheit der objektiven Strukturen mit den einverleibten, welche die für das praktische Erfahren der vertrauten Welt typische Illusion unmittelbaren Verstehens verschafft und zugleich jede Frage nach ihren eigenen Bedingungen der Möglichkeit ausschließt“ (1993, S.50). Zudem suggeriert der subjektivistische Erkenntnismodus mit seiner ihm eigentümlichen Selbstbegrenzung auf Reformulierung von Alltagserfahrung eine irreale Quasi-Identität von alltäglich-praktischen und wissenschaftlich-theoretischen Erkenntnissen. „Wie die Ethnomethodologie zu postulieren, daß die Wissenschaft nur eine Konzeptualisierung der gemeinsamen Erfahrung, der Alltagserfahrung, sein kann, die selbst wiederum auf dem Sprachvermögen, d. h. auf der Alltagssprache aufbaut, heißt zudem, die Wissenschaft von der Gesellschaft einer Bestandsaufnahme des krud Gegebenen , kurz, der herrschenden Ordnung, gleichzustellen“ (1976, S.150). Indem im Rahmen der subjektivistischen Erkenntnisweise letztendlich die alltäglichen Primärerfahrungen unkritisch-distanzlos reproduziert werden, wird nicht nur der Schein der „Naturgegebenheit“ der für das Alltagshandeln relevanten Realitätsausschnitte befestigt, sondern darüberhinaus die sinnlich-konkret nicht unmittelbar einsichtige gesamtgesellschaftliche Vermitteltheit des subjektiven Lebensstandorts ausgelöscht. Auf diese Weise verflüchtigt sich auch die mehrdimensionale, z.B. „klassenwidersprüchlich“ konstituierte Sinnstruktur der Lebenspraxis. Da nämlich die Phänomenologie die Frage nach den gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen des Glaubens an die ‚unmittelbare‘ Wirklichkeit außer Acht läßt, befestigt sie die darin beschlossene ‚Kontingenz- bzw. Möglichkeitsauslöschung‘, d. h. das „Aussetzen des Zweifels hinsichtlich der Möglichkeit, daß die Welt der natürlichen Einstellung auch anders sein könnte“ (1976, S.151). Aufgrund dieser Aussparung der Frage nach den Voraussetzungen der „Unmittelbarkeitserfahrung“ überverallgemeinert die phänomenologische Analyse die spezifische Sozialerfahrung, wie sie in prämodern-traditionalen Gesellschaften zustande kommt, „die in einfache Reproduktionsszyklen eingeschlossen sind“ (ebenda). Demgegenüber gerät die Definition des Wirklichen in Klassengesellschaften zu einem umkämpften Feld mit kontrastierenden Interpretationen. In diesem Kontext „stellt die Grenzziehung zwischen einerseits dem Feld der Meinung, d. h. dem, was ausdrücklich in Frage gestellt wird... und andererseits dem Feld der Doxa, dem, was außer Frage steht und was jedes Individuum aus der bloßen Tatsache heraus, daß es im Einklang mit dem sozial Schicklichen handelt, dem gegenwärtigen Stand der Dinge zuschreibt, selbst schon einen fundamentalen Einsatz in jener Form des politischen Kampfes zwischen den Klassen dar, der um die Einsetzung herrschender Klassifikationssysteme geführt wird“ (ebenda).


Was freilich in den subjektivistischen Konzeptionen zutreffend festgehalten wird, ist die Erkenntnis, daß die multiphänomenale Alltagssubjektivität der vergesellschafteten Menschen ein grundlegender und somit sozialwissenschaftlich in Rechnung zu stellender Tatbestand der gesellschaftlichen Realität ist . Demgegenüber ignoriert bzw. dementiert der objektivistische Erkenntnismodus, der sich insbesondere in der Linguistik F. de Saussures, der anthopologischen Ethnologie von C. Lévi-Strauss aber auch im „Strukturmarxismus“ L. Althussers manifestiert, diesen konstitutiven Tatbestand und verabsolutiert stattdessen subjektunabhängige Strukturen ökonomischer, sprachlicher, soziokultureller etc. Art. Indem er die Subjektivität der sozialen Akteure entweder vollständig ausklammert oder aber zu einer vernachlässigenswerten („volldeterminierten“) Restgröße degradiert, überschreitet er die Grenze von der objektiven Erkenntnis hin zum ‚Objektivismus‘. Im objektivistischen Erkenntnismodus wird damit der „souveräne“ Standpunkt eines ‚äußeren Beobachters‘ eingenommen, dem sich die soziale Wirklichkeit als ein Schauspiel darbietet, „so daß die Handlungen und Praxisformen allenfalls wie ‚Ausübungen‘, wie Theaterrollen, wie Ausführungen einer Partitur oder wie Anwendungen eines Plans in den Blick geraten“ (1976, S.228). Indem aber das seiner Eigensinnigkeit beraubte menschliche Handeln nur als bloße „Ausübung eines Modells“ erscheint, zeigt sich jene imaginäre Anthropologie, „die der Objektivismus erschafft, wenn er, in Marx‘ Worten ‚die Sache der Logik‘ für die ‚Logik der Sache‘ ausgebend, die objektive Bedeutung der Praxisformen und Werke zum subjektiven Zweck des Handelns der Produzenten dieser Praxisformen, Praktiken und Werke erhebt, mitsamt seinem unmöglichen homo oeconomicus, der seine Entscheidungen dem rationalen Kalkül unterwirft, seinen Akteuren, die bloße Rollen ausführen oder Modellen gemäß handeln, oder endlich seinen Phoneme auswählenden Hörern“ (ebenda, S.164).


Dadurch, daß der objektivistische Erkenntnismodus (a) die Erfassung subjektunabhängiger Gesetzmäßigkeiten/Strukturen verabsolutiert, deshalb (b) die Berücksichtigung der vorwissenschaftlichen Alltagssubjektivität ausklammert bzw. entwichtigt und (c) die Einnahme eines distanziert-abgehobenen („objektiven“) Beobachtungsstandorts als privilegierte Position gelehrter Kontemplation herausstellt6, „setzt er eine schroffe Diskontinuität zwischen der wissenschaftlichen und der praktischen Erkenntnis“ (1993, S.51). Dadurch entgeht ihm auch, „was die Distanz und Äußerlichkeit im Verhältnis zur Primärerfahrung in sich birgt“ (ebenda, S.52), nämlich der Schein der Unmittelbarkeit als Medium der alltäglichen Sinnerschließung. „Und eben weil der Objektivismus die Beziehung zwischen dem von der Sozialphänomenologie explizierten erlebten Sinn und dem von der Sozialphysik oder der objektivistischen Semiologie konstruierten objektiven Sinn ignoriert, versagt er sich die Analyse der Bedingungen, unter denen der Sinn des sozialen Spiels entsteht und fungiert, welches ermöglicht, den in den Institutionen objektivierten Sinn als fraglos gegebenen zu erleben“ (ebenda).


2. Bourdieus ‚praxeologischer‘ Erkenntnismodus als ‚synthetische‘ Alternative


Um zu einer aufhebenden Synthese zu gelangen, geht es Bourdieu um die erkenntnistheoretische Rehabilitierung der im objektivistischen Diskurs tendenziell eliminierten sozialen Akteure mit ihren analytisch relevanten Subjektivtätsmerkmalen (Erfahrungen, Erlebnisweisen, Alltagspraktiken etc.), ohne deshalb freilich - wie im subjektivistischen Erkenntnismodus - die wissenschaftliche Reflexion objektiver Strukturen (insbesondere auch in deren Wirkung auf die sozial Handelnden ) zu vernachlässigen. Ist ‚objektive Erkenntnis‘ im objektivistischen Erkenntnismodus durch einen ausschließenden Bruch mit der alltagspraktischen ‚Primärerfahrung‘ erkauft, so gilt es nun in einem zweiten Bruch diese ausklammernde Einseitigkeit durch Wiedereinbeziehen der Primärerfahrung zu überwinden. Gegenstand der praxeologischen Erkenntnisweise, wie Bourdieu sein alternatives Konzept bezeichnet, ist demnach „nicht allein das von der objektivistischen Erkenntnisweise entworfene System der objektiven Relationen, sondern desweiteren die dialektischen Beziehungen zwischen diesen objektiven Strukturen und den strukturierten Dispositionen, die diese zu aktualisieren und zu reproduzieren trachten; ist mit anderen Worten der doppelte Prozeß der Interiorisierung der Exterioritä und der Exteriorisierung der Interiorität. Diese Erkenntnisweise setzt den Bruch mit der objektivistischen Erkenntnis, setzt die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit und darin nach den Grenzen des objektiven und objektivierten Standpunkts voraus, der, statt aus den verschiedenen Praxisformen das generative Prinzip zu entwickeln, indem er sich auf deren Wirkungen selbst einläßt, sie nur von außen, als faits accomplis, erfaßt“ (1976, S.147f.).


Gegenüber dem subjektivistischen Erkenntnismodus, namentlich der phänomenologischen Erkenntnisweise, betont Bourdieu wiederum im Einklang mit dem Objektivismus, „daß das Objekt der Wissenschaft gegen die Evidenz des Alltagswissens mittels eines Konstruktionsverfahrens erobert sein will, das, damit unauflöslich verbunden, einen Bruch mit allen ‚präkonstruierten‘ Repräsentationen, wie vorgängig erstellten Klassifikationen und offiziellen Definitionen, darstellt“ (ebenda, S.149).

Insofern sowohl der objektivistische als auch der subjektivistische Erkenntnismodus, die beide in unterschiedlicher Weise spezifische Formen wissenschaftlicher Erkenntnis darstellen, eine unreflektierte Haltung bezüglich der Eigenart theoretischer Erkenntnis einnehmen7, besteht für Bourdieu die Aufgabe der praxeologischen Erkenntnisweise gerade in der kritischen Analyse der Grenzen jeder theoretischen Erkenntnis bzw. in der „Kritik der theoretischen Vernunft“. Um den Antagonismus zwischen dem Objektivismus und dem Subjektivismus „zu überwinden und dabei dennoch die Errungenschaften beider zu bewahren...müssen die Grundannahmen expliziert werden, die sie als wissenschaftliche Erkenntnisweisen miteinander gemein haben, die gleichermaßen im Gegensatz zur praktischen Erkenntnisweise stehen, der Grundlage der normalen Erfahrung der Sozialwelt“ (1993, S.49).


Was Bourdieu somit im Rahmen seines Alternativkonzepts des ‚praxeologischen Erkenntnismodus‘ reformuliert, ist der alte Gegensatz von Theorie und Praxis bzw. theoretischer und praktischer Tätigkeit mit jeweils unterschiedlichen impliziten Erkenntnisweisen. Grundcharakteristikum der theoretischen/sozialwissenschaftlichen Tätigkeit ist zunächst deren Entbundensein von den spezifischen Handlungszwängen und Erfordernissen der Alltagsspraxis und die sich daraus ergebende Möglichkeit der Einnahme einer distanzierten Beobachterperspektive auf die gesellschaftliche Wirklichkeit, die es erst erlaubt, „daß man ihr gegenüber einen ‚Standpunkt‘ bezieht und sie damit zum Objekt (von Beobachtung und Analyse) macht“ (ebenda,S.53). Wissenschaftliche/theoretische Tätigkeit basiert somit auf einer privilegierenden Entlastung von zeitlichem und existenziellem Handlungsdruck, wie er der Alltagspraxis wesensmäßig anhaftet8 und damit erst die institutionalisierte Aneignung und Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisverfahren erlaubt. Der ‚intellektualistische‘ Fehler, den die Akteure der beiden herkömmlichen Spielarten der sozialwissenschaftlichen Erkenntnisweise begehen, besteht deshalb darin, das eigene (vom alltagspraktischen Zeit- und Problemdruck entlastete) analytisch-kontemplative Beobachtungsmodell unreflektiert auf die Akteure der Alltagspraxis zu übertragen und damit die spezifische Differenz zwischen wissenschaftlicher und alltagspraktischer Handlungslogik zu ignorieren. Ein ‚paradigmatisches‘ Beispiel für diesen unreflektierten Transfer bieten die rationalistischen Handlungstheorien (Rational Choice Theory, Rational Action Theory), die im Grunde das betriebswirtschaftliche bzw. einzelkapitalistische, ausschließlich an Kosten-Nutzen-Relationen orientierte Rationalitätsmodell anthropologisieren, indem sie - zumindest implizit - den Menschen zum „utilitaristischen Kalkulator schlechthin“ stilisieren.


Die praxeologische Erkenntnisweise ist demnach darauf gerichtet, die irreduzible Eigenlogik der alltagspraktischen Erkenntnis in Abhebung von der spezifischen Konstitution der theoretischen Erkenntnis herauszuarbeiten. Bourdieus praxeologische Erkenntniskritik wendet sich so zu einer „praxeologische Theorie der Praxis“. Zunächst akzentuiert diese „Theorie der Praxis als Praxis“ (1993, S.97) die grundlegende Differenz zwischen wissenschaftlichem/theoretischem Erkennen und Handeln und alltagspraktischem Erkennen und Handeln: Nur aufgrund der bereits angeführten ‚Handlungsentlastetheit‘ vermag die wissenschaftliche (Theorien generierende) Tätigkeit ihrem idealen Regulativ der formalen Logik (Evidenz, Folgerichtigkeit, Widerspruchsfreiheit etc.) zu folgen. Demgegenüber unterliegt die Alltagspraxis, wie Bourdieu im Kontext ethnologischer Studien verdeutlicht, einer andersartigen ‚praktischen‘ Logik bzw. einer „Ökonomie der Logik, die dafür sorgt, daß nicht mehr Logik aufgewendet wird, als für die Bedürfnisse der Praxis erforderlich (ist)“ (ebenda, S.158). Als differenzierendes Prinzip fungiert hierbei die unterschiedliche Bedeutung der Zeitlichkeit. Während im Rahmen der Alltagspraxis mit ihren reproduktionsnotwendigen Rhythmen und Zwängen die Zeit als unumkehrbares Ablaufgeschehen erscheint, in dem die auszuführenden Handlungssequenzen nicht zuletzt aufgrund ihres dringlichen und unaufschiebaren Charakters in ein klares und unverrückbares Vorher und Nachher aufgegliedert sind, ist die Zeit unter den ‚entlasteten‘ Bedingungen der wissenschaftlichen Beobachtungs-, Analyse-, Auswertungs-, Kommunikationstätigkeit etc. reversibel. „Die wissenschaftliche Praxis“, so Bourdieu (ebenda, S.149), „ist derart entzeitlicht, daß sie gern sogar den bloßen Gedanken an das von ihr Verdrängte verdrängt: weil sie nur in einem Verhältnis zur Zeit möglich ist, das dem der Praxis diametral entgegengesetzt ist, trachtet sie die Zeit zu ignorieren und damit die Praxis zu entzeitlichen.“ Die ‚logische‘ Differenz zwischen wissenschaftlicher und alltäglicher Praxis korrespondiert somit wesentlich mit der Antinomie zwischen dem wissenschaftlichem und dem alltagspraktischen Zeitbegriff. „Diese Antinomie verleitet, die Praxis (erkenntnisstrategisch, H.K.)zu zerstören, indem man ihr die zeitlose Zeit der Wissenschaft überstülpt“ (ebenda, S.148).


Diese stark kontrastierende Herausarbeitung der sozialen (standortspezifischen), ‚logischen‘ und zeitlichen Differenz zwischen wissenschaftlicher/theoretischer und (am ethnologischen Material „prämoderner“ Sozialformen reflektierter) alltagspraktischer Tätigkeit bildet den ersten Grundstein für Bourdieus ‚praxeologischen‘ Versuch der Überwindung des Gegensatzes zwischen Objektivismus und Subjektivismus. Die zweite Seite dieses Versuchs stellt die Habitustheorie dar, die Bourdieu ebenfalls zunächst im Rahmen seiner ethnologischen Studien formuliert9 und dann später im Kontext seiner klassentheoretischen Untersuchungen weiterentwickelt hat. Im folgenden Abschnitt möchte ich zunächst Bourdieus Sozialraum- und Klassenkonzept rekapitulieren, weil darin eingebettet der Habitusbegriff als Vermittlungskategorie zwischen (Sozial-)Struktur und Praxis im Hinblick auf die „moderne“ kapitalistische Gegenwartsgesellschaft reflektiert werden kann und zum anderen gerade in diesem Kontext auch in seiner subjektwissenschaftlichen Erklärungsrelevanz besser zu beleuchten ist.



3. Das Verhältnis zwischen (Sozial-)Struktur , Habitus und Praxis als zentrale Dimension der Theorie Bourdieus

Wie bereits in den vorherigen Kapiteln deutlich wurde, ist das Problem der gesellschaftlichen Klassen ein zentraler sozialwissenschaftlicher Austragungsort des Gegensatzes zwischen objektivistischer und subjektivistischer Erkenntnisweise, der „die Forschung in einer Reihe fiktiver Alternativen gefangenhält“ (1993, S.82). . Bourdieus alternatives Lösungskonzept liegt hier nun in der spezifischen Kombination seiner Sozialraum-, Kapital- und Habitustheorie, die es nun zu rekapitulieren gilt.

Die Reformulierung einer ‚realistischen‘ Klassentheorie setzt nach Bourdieu zunächst einen mehrfachen Bruch mit der orthodox-marxistischen bzw. besser: parteimarxistisch ideologisierten Klassentheorie voraus:


1) den Bruch mit der voluntaristischen „Ineinssetzung“ der objektiv-analytischen Bedeutungsebene des Klassenbegriffs mit der apriorischen Behauptung der Existenz einer Klasse als politisches Handlungssubjekt („die Klasse als Wille und Vorstellung“)10

2) den Bruch „mit der intellektualistischen Illusion, als bilde die vom Wissenschaftler entworfene theoretische Klasse eine reale Klasse oder tatsächlich mobilisierte Gruppe“ (Bourdieu 1991, S.9);

3) den Bruch mit der ökonomistischen Reduktion des mehrdimensionalen Sozialraums auf das ‚Feld‘ des Ökonomischen und

4) den Bruch mit dem Objektivismus, der die Bedeutung der symbolischen Kämpfe in den unterschiedlichen politischen und kulturellen Handlungsfeldern unterschlägt (Bildungssystem, Medien; Kulturpolitik etc.).

Unter diesen Prämissen begreift Bourdieu die soziale Realität als mehrdimensionalen Raum mit einer jeweils ungleichen Positionsstruktur, deren Plätze in Abhängigkeit von „feldspezifischen“ Selektions- und Verteilungsprinzipien auf die Gesellschaftsmitglieder in Abhängigkeit von deren individualspezifischer Ressourcenausstattung verteilt werden. Damit läßt sich der mehrdimensional strukurierte Sozialraum als ein Ensemble objektiver Kräfteverhältnisse bestimmen, in denen die Individuen oder Gruppen gleich positionierter Gesellschaftsmitglieder anhand ihrer relativen Stellung innerhalb dieses Raumes definiert sind.


Die individuelle Ressourcenausstattung, die über die „Verortung“ im gesellschaftlich vorgegebenen Positionssystem entscheidet, erfaßt Bourdieu mit seinem erweiterten („transökonomischen“) Kapitalbegriff. Danach lassen sich folgende „Ressourcenarten“ unterscheiden: Ökonomisches Kapital (Besitz, Geldvermögen, Erbansprüche etc.); kulturelles Kapital, soziales Kapital11 und symbolisches Kapital „als wahrgenommene und als legitim anerkannte Form der drei vorgenannten Kapitalien (gemeinhin als Prestige, Renomee, usw. bezeichnet)“ (Bourdieu 1991, S.11). Das kulturelle Kapital, dem im Hinblick auf Auf- und Abstiegsbewegungen im Sozialraum eine besondere Bedeutung zukommt, kann in drei unterschiedlichen Formen existieren: (a) in inkorporiertem, also in individuellen Lernprozessen angeeignetem Zustand (dauerhafte Dispositionen), (b) in objektiviertem Zustand (kulturelle Güter wie Bücher, Lexika, Kunstwerke etc.) sowie (c) in institutionalisiertem Zustand in Form von erworbenen Bildungstiteln, Zeugnissen, Zertifikaten etc. Das soziale Kapital wiederum rekrutiert sich aus der Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die aus der Verfügung über ein Netz von Beziehungen (gegenseitiges Anerkennen) resultieren, in dessen Zustandekommen und Aufrechterhaltung besondere „beziehungspflegerische“ Arbeit investiert werden muß.


Entscheidend für die individuelle Positionierung im Sozialraum sind demnach zwei dimensionsspezifische Allokationsfaktoren: Erstens das Kapitalvolumen, d h. der Gesamtumfang der drei Kapitalarten sowie zweitens die Kapitalstruktur, d.h. das relative Anteilsverhältnis der Kapitalarten zueinander. Von besonderer Bedeutung für die Erfassung von sozialer Mobilität bzw. von Auf- und Abstiegsprozessen im Sozialraum ist neben diesen beiden Faktoren desweiteren die „Konvertibilität“, d. h. die Umwandelbarkeit der einen Kapitalsorte in eine andere. Demnach weist der insbesondere durch unterschiedliche (Berufs-)Positionen gekennzeichnete Teil des Gesamtsozialraums eine dreiteilige Dimensionsstuktur auf: „Kapitalvolumen, Kapitalstruktur und zeitliche Entwicklung dieser beiden Größen (ausgedrückt in der vergangenen wie potentiellen Laufbahn)“ (Bourdieu 1987, S.195f.). Während das Gesamtvolumen des Kapitals als konstitutives Formierungsprinzip der Hauptklassen fungiert, ergeben sich aus der unterschiedlichen Kapitalstruktur die sekundären klasseninternen Differenzierungen und Fraktionierungen. Die innerhalb eines bestimmten berufssektoralen Handlungsfeldes „zu einem Zeitpunkt vorliegende Verteilung der verschiedenen - inkorporierten wie vergegenständlichten - Kapitalsorten...gibt den jeweiligen Stand der Kräfteverhältnisse wieder, die, in Form stabiler, gesellschaftlich anerkannter bzw. juristisch abgesicherter Statusmuster und Statute institutionalisiert, zwischen den objektiv, anhand ihrer Stellung innerhalb dieser Verhältnisse definierten Akteuren herrschen; es ist diese Verteilung, die ebenso über die aktuellen und potentiellen Machtmittel in einem fraglichen Feld wie die darin gegebenen Gewinnchancen entscheidet“ (1991, S.11).


Die verschiedenen, bezüglich Kapitalvolumen und Kapitalstruktur unterschiedlich ausgestatteten sozialen (beruflichen) Positionen lassen sich nun zu drei großen Klassen12 zusammenfassen:

1) die herrschende Klasse, die sich ihrerseits aus zwei Hauptfraktionen zusammensetzt: a. die über großes ökonomisches Kapital verfügende „Wirtschaftselite“ (die Großunternehmer) als der ‚eigentliche‘ (dominante) Herrschaftsträger und b. die über großes (institutionisiertes und symbolträchtiges) Kulturkapital verfügende Bildungselite (die Großintellektuellen) als von den ‚eigentlichen‘ Herrschafträgern instrumentalisierte „dominierte Fraktion“ der Herrschenden.

2) die Mittelklasse mit ihren Fraktionen des absteigenden, exekutiven und neuen Kleinbürgertums, in deren Binnenraum die Mobilitätsprozesse am ausgeprägtesten sind, sowie

3)die Klasse der Subalternen bzw. die Volksklasse der sog. kleinen Leute.

Hervorzuheben ist nun, daß es Bourdieu nicht lediglich um die Ausarbeitung und Anwendung eines feineren begrifflich-methodischen Instrumentariums zur Analyse „objektiver“ sozialer Ungleichheitsstrukturen geht, sondern um die Zusammenführung der von Marx begründeten Tradition der ‚objektiven‘ Klassenanalyse (vgl. Teil 1 dieser Arbeit) mit dem von Max Weber stammenden Konzept „ständischer Lebensführung“, das auf die Eruierung ‚sozialer‘ Klassen als tendenziell homogene Lebensstilgruppen abzielt. In diesem Sinne betrachtet Bourdieu die soziale Wirklichkeit anhand seines Sozialraummodells als in zwei relativ autonome Subräume unterteilte Realität: Zum einen den Raum der zuvor behandelten sozialen Positionen sowie zum anderen einen Raum der Lebensstile. Während der Raum der sozialen Positionen das ganzheitlich-komplexe Bedingungsgefüge konkreter individueller und kollektiver Lebensstandorte/‘Soziallagen‘ fokussiert, sind im Raum der Lebensstile die symbolischen Präferenzmuster unterscheidbarer Lebensführungweisen von Belang. Theoretisch entscheidend ist hierbei, daß nach Bourdieus Auffassung zwischen diesen beiden Subräumen ein homologes Verhältnis besteht. Entsprechend der klassenpositionsspezifischen Unterschiede des Kapitalumfangs zeige sich nämlich der folgende zentrale Gegensatz im Bereich der Lebensstile: „der aufgrund seines Seltenheitswerts als distinguiert apostrophierte Konsum der ökonomisch wie kulturell wohlhabendsten Kreise zum einen, der wegen seines oberflächlichen und gewöhnlichen Charakters als vulgär bezeichnete Konsum der ökonomisch und kulturell Mittellosesten zum anderen; dazwischen liegen jene Praktiken, die sich infolge des Auseinanderklaffens von Anspruch und manifesten Möglichkeiten zwangsläufig als prätentiös entlarven“ (1987, S.286). Die gesamte Palette von sichtbaren „Lebensführungspartikeln“ wie Bekleidungs- und Ernährungsgewohnheiten, Wohnungseinrichtung, Automobilmarke, Freizeitgestaltung, Sportarten, Reisen, kulturelle Vorlieben, Medienkonsum etc., aber auch Formen des äußeren Verhaltens13 fungieren dabei als symbolisierungsfähiges Zeichenmaterial im Kontext distinktiver Praktiken und der soziokulturellen Kämpfe um Anerkennung14.


Wie aber kommt diese sozialräumliche Homologie zwischen objektiven Klassenpositionen und symbolischen Lebenführungsstilen zustande? Bourdieu antwortet darauf mit seiner Habitustheorie. Demnach vermittelt der Habitus als generierende Grundlage insbesondere auch ästhetischer Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsschemata, also als dem subjektiven ‚Geschmack’15 zugrundeliegendes Dispositionsgefüge, zwischen der positionsspezifischen Lebenslage und dem Lebensstil. Als dieses subjektseitig wirksame „inkorporierte“ Dispositionssystem gewährleiste er die „paßförmige“ Abstimmung bzw. Ausbalancierung zwischen den sozialen Existenzbedingungen einerseits sowie dem konkreten Lebensstil andererseits. In den Dispositionen des Habitus sieht Bourdieu „die gesamte Struktur des Systems der Existenzbedingungen angelegt, so wie diese sich in der Erfahrung einer besonderen sozialen Lage mit einer bestimmten Position innerhalb dieser Struktur niederschlägt. Die fundamentalen Gegensatzpaare der Struktur der Existenzbedingungen (oben/unten, reich/arm, etc.) setzen sich tendenziell als grundlegende Strukturierungsprinzipien der Praxisformen wie deren Wahrnehmung durch“ (ebenda S.279). Indem der Habitus einerseits als „einheitsstiftendes Erzeugungsprinzip der Praxis“ die unterschiedlichen Lebenstilfragmente zu einem einheitlichen Muster zusammenfügt, realisiert er sich gleichzeitig als Klassenhabitus, d.h. als „Inkorporation der Klassenlage und der von ihr aufgezwungenen Anpassungsreaktionen“ (ebenda S.175).

Hervorzuheben ist nun bereits an dieser Stelle der mechanisch-deterministische bzw. „bedingungsmechanistische“ Charakter, der Bourdieus Konstruktion der ‚objektiven Klasse‘ (vgl. ebenda, S.175) zugrunde liegt: nämlich die Unterstellung homogener Lebensbedingungen, die ihrerseits homogene Konditionierungen und Anpassungsreaktionen erzwingen und entsprechend homogene Systeme handlungsgenerierender Dispositionen hervorbringen. In dieser Perspektiv gelangt Bourdieu zu folgenden klassenspezifischen Habitusformen in ihrer Wirkung als lebensstilbestimmende Geschmacksausprägungen:


1) Der Habitus der herrschende Klasse, der sich offenbart als „Sinn für Distinktion“, d. h. als Kompetenz zur multisymbolischen Artikulation von „überlegener“ Kultiviertheit und darin enthaltener ästhetisch-moralischer Selbstlegitimation. Ausgerichtet auf die Güter der herrschaftsbestätigenden „Hochkultur“ geriert er sich als „ aus Freiheit - oder Luxus - geborener“ „legitimer Geschmack“, der ,beispielsweise, „anders als beim Drauflos-Essen der populären Kreise, das Hauptaugenmerk von der Substanz auf die Manier...verlagert, und dies vermittelt über die Intention zur Stilisierung, die der Form und den Formen eine Verleugnung der Funktion abverlangt“ (ebenda, S.26).

2) Der Habitus der Mittelklasse bzw. des Kleinbürgertums, der sich durch sein geflissentliches Nacheifern und Imitieren des herrschenden („großbürgerlichen“) Lebenstils auszeichnet und in diesem prätentiösen Streben, „sich die Werke und Praktiken der legitimen Kultur anzueignen, sowohl die mangelnde Vertrautheit mit dieser Kultur als auch den ausgeprägten Willen zur Distanzierung von der ‚vulgären‘ Kultur der unteren Klassen verrät“ (Schwingel 2000, S.114).

3) , der sich aus dem existenziell notwendigen Zwang zu Sparsamkeit und „Genügsamkeit“ ergibt und aus dieser als unveränderbar erfahrenen Not- und Mangelsituation eine Ethik der Bescheidenheit bzw. „asketischen Anständigkeit“ konstruiert. Dieser „Notwendigkeitshabitus“ und „Not-Geschmack“ impliziert einerseits die Selbstausschließung aus allen „vornehmeren“ und „feineren“ Lebenstilaspekten16 und korrespondiert anderseits mit einem ausgeprägten Hang zur Konformität, der die Sanktionierung von individualistischen Bestrebungen des Sich-Abgrenzen-Wollens einschließt17.


Resümierend läßt sich demnach festhalten, daß Bourdieus sozialräumliche Klassentheorie zu einem dreidimensionalen Begriff von „sozialer Klasse“ führt, der folgende Definitionsebenen umfaßt:

1) die mit der ‚kapitalabhängigen‘ Positionseinahme im berufsstrukturellen Sozialraum gegebenen objektiven Lebensbedingungen;

2) die aus der „Einverleibung“ dieser Lagebedingungen resultierende Habitusform als - insbesondere auch ästhetisch wirksame - .Wahrnehmungs-, Denk-, Bewertungs- und Handlunsmatrix; und

3) der sich in Konsumakten, kulturellen Präferenzen, Freizeitaktivitäten und diversen symbolischen Praktiken ‚symbolisierende‘ Lebensstil.


Wesentlich ist nun, daß im Rahmen der Bourdieuschen Gesamttheorie der Habitus nicht nur als ästhetisch relevantes und damit lebensstilgenerierendes Dispositionssystem, also als klassenspezifischer ‚Geschmack‘, in Erscheinung tritt, sondern darüber hinaus generell als Erzeugungsmodus der subjektiven Praxis.. Wie Schwingel (2000, S.58)hervorhebt, kommen im Habituskonzept „die anthropologischen Annahmen Bourdieus über die soziologisch fundamentalen Eigentümlichkeiten sozialer Akteure zum Tragen.“ D. h. im Habituskonzept kristallisiert sich das soziologische Menschenbild Bourdieus, der ja grundsätzlich die Überwindung des Gegensatzes zwischen Objektivismus und Subjektivismus intendiert. Werfen wir deshalb noch einen genaueren Blick auf einige konstitutive Momente der Habitustheorie.


Für Bourdieu sind es die objektiven, sozialökonomisch-klassenspezifischen Umweltstrukturen selbst, die die Habitusformen erzeugen, „d. h. Systeme dauerhafter Dispositionen, strukturierte Strukturen, die geeignet sind, als strukturierende Strukturen zu wirken“(1976, S.165). Ohne selbst das Resultat objektiver Regelerfüllung oder subjektiver Ziel- und Zwecksetzung zu sein, sieht Bourdieu die habitusgenerierten Praxisformen und Repräsentationen doch als in sich abgestimmt, zieladäquat und geplant in Erscheinung treten. Zudem seien sie in der Lage, „unvorhergesehen und fortwährend neuartigen Situationen entgegenzutreten“ (ebenda), während sie gleichzeitig, „durch die implizite Vorwegnahme ihrer Folgen, nämlich durch die vergangenen Bedingungen der Produktion ihres Erzeugungsprinzips derart determiniert“ seien, „daß sie stets die Tendenz aufweisen, die objektiven Bedingungen, deren Produkt sie in letzter Analyse sind, zu reproduzieren“ (ebenda). So betrachtet, wirkt der Habitus als umweltdeterminierter Generator von Strategien zur Verarbeitung von neuartigen Situationen mit der (von vornherein festgelegten) Tendenz, die objektiven Bedingungen zu reproduzieren. Nicht die objektiven Umweltstrukturen unmittelbar, sondern der Habitus als ihr inkorporierter Repräsentant bzw. nach innen verpflanzte „Relaisstation“ fungiert jetzt als ‚festlegende‘ Bestimmungsinstanz. An die Stelle des „freien“, indeterminierten, abstrakt-isolierten Subjekts Sartres, das sich in seiner existenziellen Geworfenheit selbst entwirft und somit als repräsentatives Konstrukt des Subjektivismus gelten kann, tritt bei Bourdieu nicht der unmittelbar von außen determinierte und gänzlich entsubjektivierte ‚Rollenträger‘ des strukuralistischen Objektivismus, sondern der vermittels des Habitus von innen festgelegt Akteur.


In genetischer Hinsicht erscheint der Habitus als Resultat eines standortspezifischen ‚nichtintentionalen‘ Sozialisationsprozesses, der sich aus einer Vielfalt spontaner Prägungsfragmente zusammensetzt. Das sich via Hineinentwicklung in klassenspezische Lebensbedingungen sozialisierende Individuum18 wird hierbei von Bourdieu als passiver sprachfähiger Leib konzeptualisiert, an dem eine multiple Formungsarbeit im Hinblick auf Manieren, Körperhaltungen, Verhaltensweisen, Aspirationen etc. verrichtet wird. Die in diesem sozialisatorischen Erziehungskontext wirksam werdende ‚List der pädagogischischen Vernunft‘ liegt darin, „daß sie das Wesentliche unter dem äußeren Schein abnötigt, nur Unwesentliches wie z.B. Beachtung der Formen und Formen der Achtung zu erheischen, sichtbarste und zugleich ‚selbstverständlichste Manifestationen der Unterwerfung unter die bestehende Ordnung, wie z.B. Zugeständnisse an die Politesse (Höflichkeit), die stets auch Konzessionen an die Politik enthalten.“ Die Konstituierung des Habitus erfolgt demnach kraft ökonomischer und sozialer Zwänge, die sich im relativ autonomen Bereich der Familie auswirken und in Gestalt von Verboten, Wertmaßstäben, artikulierten Sorgen, moralischen Unterweisungen, Konflikten, Geschmacksäußerungen u.s.w. in Erscheinung treten. Indem er „nichts anderes ist als dieses durch die primäre Sozialisation jedem Individuum eingegebene immanente Gesetz“ (1976, S.178), fungiert der Habitus wie ein prästabilisierender Regulator, der die praktischen Handlungen der Mitglieder eines Klassenmilieus aufeinander abstimmt und kohärent macht sowie im Zeitverlauf konstant hält.


In inhaltlicher Hinsicht ist der Habitus bestimmt durch „die aktive Präsenz früherer Erfahrungen, die sich in jedem Organismus in Gestalt von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata niederschlagen“. Dabei umfassen die Denkschemata als kognitiver Teilabschnitt des Habitus - in Analogie zu den drei Konstituenten der theoretischen Vernunft, nämlich Theorie, Ethik und Ästhetik - folgende Segmente: (1) jene ‚Alltagstheorien‘ vermittels derer die sozialen Akteure ihre Lebensumwelt klassifizieren, interpretieren und einordnen bzw. ihre praktischen Lebenserfahrungen kognitiv strukturieren; (b) die der Alltagspraxis immanenten ethischen Regulative bzw. ihr ‚Ethos sowie (c) die dem ‚Geschmack‘ zugrunde liegenden alltagsästhetischen Präferenzkriterien. Nur zu analytischen Zwecken voneinander trennbar, dienen diese Grundkonstituenten des Habitus in ihrem funktionalen Zusammenwirken der sinnhaften Orientierung des gesellschaftlichen Subjekts in seiner unmittelbaren alltäglichen Lebensumwelt. „Dergestalt besitzt jedes richtig vergesellschaftete Individuum, einverleibt, die Instrumente, die es die Welt zu ordnen befähigen, also ein System von Klassifikationsschemata, die alle Praxisformen organisieren“ (1976, S.269f.). Der Habitus wirkt so als generatives Prinzip aller Praxisformen bzw. als gesellschaftlicher Formbildner des Körpers zugleich als Organisator einer positionsspezifischen Weltsicht mit einer umfassenden Sinnstruktur: Dazu zählen nicht nur die kulturhistorisch bzw. gesellschaftlich geprägten fünf Sinne, sondern ebenso der Sinn für Verpflichtung und die Pflicht, der Wirklichkeitssinn, der Gleichgewichts- und Schönheitssinn, der Sinn für das Sakrale, der Sinn für Wirkung, der politische Sinn und der Sinn für Verantwortung, für Rangfolgen, für Humor und für das Lächerliche, der praktische Sinn, der Sinn für Moral und der Sinn fürs Geschäft etc. (vgl. ebenda).


Darüber hinaus ist der Habitus durch seinen unbewußten bzw. besser: ‚automatisierten‘ Wirkungsmodus gekennzeichnet, d.h. dadurch, daß er dem begrifflich-reflexiven Bewußtsein in der Sicht Bourdieus grundsätzlich entzogen sein soll und deshalb wie ein schicksalhafter „Besatzer“ des Individuums erscheint. „Wenn die Individuen eher vom Habitus besessen sind, als daß sie ihn besitzen, so deshalb, weil sie ihn nur soweit besitzen, wie er in ihnen als Organisationsprinzip ihrer Handlungen wirkt, d.h. auf eine Weise, derer sie symbolisch schon nicht mehr habhaft sind“ (ebenda, S.209). Anders als im psychoanalytischen Sinn der Verdrängung anstößiger Triebimpulse, basiert das unbewußte Wirken des Habitus bei Bourdieu in Anlehnung an Durkheim auf dem Vergessen seiner individualgeschichtlichen Erzeugungsbedingungen. Das individuelle Subjekt bzw. der einzelne Akteur als Träger seines schicksalhaften Habitus scheint demnach verdammt zu sein zu einem unreflektierbar-naturalistischen Verhältnis gegenüber dem eigenen Selbst.


Der Habitus wirkt demnach „wie die zur zweiten Natur gewordene, in motorische Schemata und körperliche Automatismen verwandelte gesellschaftliche Notwendigkeit“ (1987, S.739), die das klassenspezifisch positionierte Individuum - präreflexiv/instinktiv - auf die Einhaltung der Grenz- und Ordnungslinien des herrschenden Gesellschaftssystem mit seinen charakteristischen Rangordnungen, Hierarchien, Zuteilungsmustern etc. „ausrichtet“ und so, aufgrund dieser subjektintern wirksamen Absicherung, dessen weitestgehend reibungslose Reproduktion gewährleistet. Um diese habitustheoretische „Entzauberung“ der Herrschaftsreproduktion prophylaktisch gegenüber antizipierten Einwänden zu immunisieren, bemüht Bourdieu das Feindbild eines angeblich pauschal wirksamen intellektuellen „Logozentrismus“ und ‚Bewußtseinsfetischismus‘, der die Leibnizsche Einsicht verhindert habe, daß wir Menschen „in Dreiviertel unserer Handlungen Automaten sind“ (ebenda, S.740)19.



4. Zur Kritik zentraler Inhalte der theoretischen Konzeption Bourdieus


Wie läßt sich nun Bourdieus Lösungsansatz zur Überwindung des Widerspruchs zwischen objektivistischer und subjektivistischer Erkenntnisweise aus kritisch-subjektwissenschaftlicher Perspektive beurteilen? Hierzu möchte ich im Folgenden einige grundsätzliche Kritikpunkte anführen.


1) Aus der ‚praxisökonomischen‘ Andersartigkeit zwischen wissenschaftlicher Tätigkeit und Alltagshandeln konstruiert Bourdieu eine radikal-gegensätzliche Dichotomie: Wissenschaft/Theorie und alltägliche Lebenspraxis erscheinen wie durch eine chinesische Mauer von einander getrennt; so, als ob es sich um zwei unvermittelte und unvermittelbare Lebensbereiche mit inkompatiblen Sinnstrukturen handeln würde. Ist wohl selbst für prämoderne Gesellschaftsformen ein unüberwindbarer Gegensatz zwischen magisch-priesterlichem bzw. religiösem Herrschaftswissen und subalternem Alltagsbewußtsein auszuschließen, so gilt das erst recht für „moderne“, kapitalistisch durchformte Gegenwartsgesellschaften mit einem ausdifferenzierten und komplex gegliederten Schul-, Ausbildungs- und Weiterbildungssystem20. Insbesondere sind hier folgende Entwicklungsfaktoren zu berücksichtigen, die nach dem zweiten Weltkrieg in Richtung auf einen allgemeinen Abbau von kulturellen und „praxisökonomischen“ Barrieren zwischen ‚Wissenschaft‘ und ‚Alltag‘ wirksam geworden sind: Verlängerung der Ausbildungszeiten; Zunahme höherer Schulabschlüsse („Bildungsexpolosion“); Intellektualisierung der beruflichen Arbeitsanforderungen in Folge eines vielschichtigen Wandels der Qualifikationsprofile; Arbeitszeitverkürzung und massenmediale Durchdringung der Lebenswelt als potentielle Handlungsvoraussetzungen wissenschaftlicher Informationsaufnahme. Das bei Bourdieu noch wirksame Bild der kulturellen Kollision zwischen lebensfremd-praxisfernem Intellektualismus einerseits und praxisborniert-körperkraftbetontem Antiintellektualismus ist dadurch tendenziell obsolet geworden. Der heutige, mit einer zunehmend überkomplex-unübersichtlichen gewordenen Realität konfrontierte „Alltagsmensch“ weist überwiegend keinen homogen wirksamen ‚bildungsabstinenten‘ oder gar ‚bildungsfeindlichen‘ Habitus auf, sondern tritt eher als ‚halbgebildeter‘ Utilitarist in Erscheinung, der in Abhängigkeit von individuell relevant gewordenen Problemkonstellationen wissenschaftliche Informationen selegiert, theoretische Ratgeberliteratur konsultiert, Weiterbildungsinstitutionen aufsucht, diverse intellektuelle (z.B. therapeutisch-lebens(führungs)beratende Dienstleistungen) in Anspruch nimmt oder sich in multiplen Selbsthilfegruppen zum Self-made-Experten „autodidaktisiert“.


Sind heute seitens der „individualisierten“Alltagsakteure genügend Anlässe, Motive und potentielle Kompetenzen zur selektiv-problemspezifischen Aneignung wissenschaftlicher Informationen/Diskurse vorhanden, so liegt das Problem gegenwärtig primär auf der Angebotsseite der postmodernistisch in ihren Aufklärungsansprüchen und Orientierungsleistungen kupierten und desartikulierten Sozial- und Humanwissenschaften21. Ohne die von Bourdieu aufgezeigten tätigkeitsspezifischen Unterschiede zwischen wissenschaftlich-theoretischer und alltagebewältigender Praxis zu leugnen, wären dennoch unter den gegenwärtigen Bedingungen die kognitiven, motivationalen und zeitstrukturellen Handlungsmöglichkeiten und Voraussetzungen zur Aneignung gerade auch gesellschaftskritischer Wissenschaftsinhalte und deren ‚Inkorporation‘ in ein ‚begreifendes Alltagserkennen‘ gegeben. Wie Holzkamp dargelegt hat, sind der wissenschaftliche Erkenntnisprozeß und die Erkennnistätigkeit der Alltagsakteure nicht dichotomisch von einander getrennt, „sondern haben im objektiven Entwicklungsstand der Gesellschaft ihren gemeinsamen Ermöglichungsgrund“ (1973, S.366). Demnach sind es die vergesellschafteten (Alltags-)Individuen selber, die in ihrer objektiv koordinierten Praxis den gesellschaftlichen Reproduktionszusammenhang einschließlich neu geschaffener Problemkonstellationen weiterentwickeln und damit erst die (materiell-gegenständliche) Möglichkeit erweiterter und vertiefter Gesellschaftserkenntnis hervorbringen, ehe wissenschaftliche Intellektuelle vermittels experimentell-empirischer und/ oder begrifflich-methodischer Forschungstätigkeit eine problemlösungsrelevante Einsicht gewinnen können, die wiederum in zukünftige Praxis als tätigkeitsoptimierendes Moment „zurückfließt“. „Die Gesellschaftswissenschaften nehmen Einsichten, die durch die Verschärfung gesellschaftlicher Widersprüche im Alltag hervortreten, in methodisch strenger und gedanklich disziplinierter Weise auf und spiegeln diese Erkenntnis korrigiert, verallgemeinert, vertieft ins allgemeine Bewußtsein zurück; das Verhältnis des wissenschaftlichen Begreifens zum alltäglichen Begreifen ist hier also nicht das des einseitigen Gebens, sondern eine komplizierte Wechselwirkungsbeziehung (wobei es vom Aspekt abhängt, welches Relat als wichtiger anzusprechen ist.)“ (ebenda, S.367).


In seiner dichotomischen Entgegensetzung entgeht Bourdieu zudem der bereits von Gramsci akzentuierte Tatbestand, „daß alle Menschen ‚Philosophen‘ sind“, weil sie aufgrund ihrer sozialhistorischen bestimmten Daseinsweise stets auf ein vielgestaltiges, überindivduell präexistentes Sozialerbe und ein dadurch wesentlich bestimmtes Gesamtgesellschaftlich-Übergreifendes stoßen, das den unmittelbaren, individuell-alltäglichen Realitätsausschnitt nachhaltig beeinflußt und so das Bedürfnis nach unmittelbarkeitsüberschreitender Deutung und Interpretation der umgebenden Welt hervorruft. Das Alltagsbewußtsein ist folglich kein geschlossen-selbstgenügsamer Raum quasi-autistischer Sinnreproduktion, sondern prinzipiell geöffnet nicht nur gegenüber herrschaftlichen Einwirkungen, sondern auch für aktive Aneignungsprozesse bezüglich heterodoxer (Hoch-)Kulturelemente (herrschaftskritische Ideen). Deshalb erweist sich die Weltauffassung der Alltagsmenschen auch als heterogen und bizarr zusammengesetzt: „Es finden sich in ihr Elemente des Höhlenmenschen und Prinzipien der modernsten und fortgeschrittensten Wissenschaft, Vorurteile aller vergangenen, lokal bornierten geschichtlichen Phasen und Intuitionen einer künftigen Philosophie, wie sie einem weltweit vereinigten Menschengeschlecht zueigen sein wird“ (Gramsci 1994, Gefängnishefte Band 6, S.1376). Die vorzugsweise Aufgabe einer progressiven Intellektuellen-Initiative liegt für Gramsci darin, einen entscheidenden Beitrag zu leisten, den in widersprüchliche Segmente zerteilten Alltagsverstand kritisch und kohärent werden zu lassen „und bis zu dem Punkt anzuheben, zu dem das fortgeschrittenste Denken der Welt gelangt ist“ (ebenda).

In aktueller Hinsicht stellt sich die Frage, wie in unserer heutigen, neoliberal restrukturierten und sich im Spannungszustand zwischen Vereinzelungs- und Globalisierungstendenzen befindenden spätkapitalistischen Gesellschaft das Streben nach einer ‚kritisch-kohärenten‘ Weltanschauung sowohl wissenschaftsintern als auch innerhalb des entfremdeten Lebensalltags systematisch erstickt, desorientiert und frustriert wird.


2) Bourdieus ‚weberianischer‘ Impuls, aus der objektiven Klassenposition auf einen kulturell homogenen Lebensstil zu schließen, mag im Hinblick auf die französische fordistische Gesellschaft der frühen 70er Jahre und die damalige, noch weitestgehend durch kriegsbedingte Entbehrungserfahrungen geprägte aktive Generation von IndustriearbeiterInnen noch zutreffend gewesen sein. Angesichts der ‚synergetischen Wirkung‘, die aus der Verbindung zwischen der neoliberalen bzw. postfordistischen Restruktierung der Sozialverhältnisse, der Erosion traditioneller (industrieller und agrarischer) Sozialmilieus und der potenzierten ‚Durchschlagskraft‘ der konsumistischen Massenkultur des Habens hervorgeht, hat sich seither aber ein dehomogenisierender Wandel in den Arbeits-, Lebens und Sozialisationsbedingungen abgespielt, der die unterstellte ‚zwischenräumliche Homologie‘ zumindest nachhaltig erschüttert, wenn nicht gar zerstört hat. In Bezug auf die postfordistische Klasse der Lohnabhängigen hat die binnenhierachische Differenzierung der Lebenslagen im Kontext der eben genannten Veränderungsprozesse jedenfalls eine einschneidende Fragmentierung und Umwälzung der Habitusformen bewirkt. Das gilt insbesondere - mit Blick auf die jüngeren Alterskohorten - für die wachsende Auflösung bzw. Zurückdrängung des ‚Notwendigkeitshabitus‘ und des ‚Notgeschmacks‘ auf Milieus marginalisierter Randgruppen (alkoholkranke Obdachlose, dauerhafte Bezieher von Sozialhilfe, Heimzöglinge etc.). (Vgl. hierzu ausführlich Teil 1, Kapitel IV; insbesondere IV.2)


3) Mit seinem „ressourcentheoretisch“ erweiterten und angewandten Kapitalbegriff22 bestimmt Bourdieu die Handlungspotenzen der (berufs-) feldspezifisch agierenden Akteure in ihrem systemimmanenten Kampf um die Verteidigung bzw. Eroberung von Verfügungsmacht, Reichtum und Ansehen gemäß objektiv vorgegebener und subjektiv fraglos akzeptierter ‚Spielregeln‘. Damit bleibt freilich eine wesentliche Dimension menschlicher Praxis ausgeblendet, nämlich die Konstitutionslogik widerständig-subversiver, „praktisch-kritischer“ Tätigkeit als bewußt-willentliche Infragestellung, Verletzung und strategisch reflektierte Unterminierung gesellschaftlich gültiger Regeln, Normen, Verhaltensstandards, „doxischer“ Interpretationsschemata etc. D. h mit seiner kapitaltheoretisch unterfütterten Analyse feldspezifischer Positionskämpfe fokussiert Bourdieu einseitig die Reproduktionslogik vorgegebener Sozialstrukturen, ohne die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen und Formierungskomponenten strukturumwälzender „revolutionärer Praxis“ zu stellen geschweige denn kategorial und methodisch angemessen zu verfolgen.

Zwar öffnet Bourdieus erweiterter Kapitalbegriff in klassentheoretischer Hinsicht den Blick für die Verschränkung mehrdimensional wirksamer Reproduktionsmuster sozialer Ungleichheit und trägt so zu einer produktiven Überwindung ökonomistischer Sichtweisen bei, aber anderseits reflektiert er ungenügend die qualitative Grundlage der ökonomischen Klassenherrschaft in Gestalt des dialektischen (wertlogischen) Verhältnisses zwischen Produktionsmittelbesitzern (Mehrwertaneignern) und Arbeitskraftbesitzern (Mehrwertproduzenten). Erst auf dieser „funktionsdialektischen“ Herrschaftsbeziehung aufbauend, lassen sich aber die Akkumulations- und Konvertierungsmechanismen der einzelnen Kapitalsorten sowie die Reproduktionsmuster ungleicher Ressourcenverteilung angemessen begreifen.


4) Nach eigenem Verständnis sieht Bourdieu im Habitusbegriff jene Schlüsselkategorie, die es gestatten soll, „mit dem strukturalistischen Paradigma zu brechen, ohne in die alte Philosophie des Subjekts oder des Bewußtseins, die der klassischen Ökonomie und ihres homo oeconomicus, zurückzufallen“ (Bourdieu 1997, S.61). Als gefundene Lösungsform des Gegensatzes zwischen objektivistischer und subjektivistischer Erkenntnisweise beansprucht die Habitustheorie zudem, gegenüber der strukturalistischen Reduzierung des Akteurs auf einen bloßen „Rollenträger“ dessen ‚schöpferische‘, aktive, inventive Eigenschaften zur Geltung zu bringen und angemessen zu berücksichtigen.


Zwar soll nicht bestritten werden, daß mit dem Habitusbegriff ein wirklicher Teilaspekt der menschlichen Subjektivität erfaßt wird. Kritisch zurückzuweisen ist aber der doppelte Anspruch, mit dem ‚Habitus‘ den Erzeugungsmodus menschlicher Praxis schlechthin gefunden und damit zugleich die komplizierte Dialektik zwischen subjektiver Lebenstätigkeit und konkret-historisch geformter Realität bereits adäquat aufgeschlüsselt zu haben:


a) Obwohl Bourdieu die in den Marxschen Feuerbachthesen enthaltene Kritik an dem bloß ‚anschauenden‘, die tätige Seite ausblendenden Materialismus anführt, verkennt bzw. ignoriert er die im Marxschen allgemeinen Arbeitsbegriff im Kern bereits vorliegende materialistisch-dialektische Lösung des Widerspruchs zwischen objektivistischer (mechanisch-materialistischer) und subjektivistischer (idealistischer bzw. „bewußtseinsphilosophischer“) Erkenntnisweise (vgl. Teil 2 Kapitel I.). Demnach agiert der sozial kooperierende Mensch „in seiner Wahrheit als praktischer Operator der Gegenstandskonstruktion“ (ebenda S.62) weder als indeterminierter ‚Souverän‘ noch als bedingungsmechanistisch volldeterminierter ‚Automat‘, sondern als im Rahmen eines konkret-historisch limitierten Möglichkeitsraumes relativ autonom entscheidendes, auswählendes und intentional handelndes Subjekt. Während folglich im Marxschen Tätigkeitsmodell der vergesellschaftete Mensch als bewußt zielsetzender und zielverwirklichender, antizipationsgesteuerter Akteur auftritt, ist in der Bourdieuschen Habitustheorie noch das ‚eliminatorische‘ Erbe des Strukturalismus deutlich spürbar, nämlich die konzeptionelle ‚Fatalisierung‘ und damit Entmächtigung des Subjekts zu einem vorbewußt reflexhaft programmierten Wesen.


b) Das Habitus-Konzept impliziert eine im Grunde fatalistisch-geschlossene Subjektauffassung: Das Individuum bleibt „schicksalhaft“ an seine in mechanisch konditionierenden Sozialisationsprozessen erworbenen, unbewußt-automatisch wirksamen Wahrnehmungs-, Denk-, Erlebnis- und Verhaltensschemata gekettet und erscheint so als Sklave seiner biographischen Erfahrungen. Die Möglichkeit bewußt-begreifender Realitäts- und Selbtserkenntnis wird weitestgehend ausgeschlossen bzw. als „habituell überdeterminiert“ entwichtigt. Im Habituskonzept ist demnach mit der Möglichkeit der kritischen Selbstreflexion auch die ‚Unmittelbarkeitsdurchbrechung‘, mithin die ‚Entnaturalisierung‘ der indiviuellen Lebensumstände, prinzipiell versperrt. Damit entpuppt sich aber die Habitustheorie mit ihrem universalistischen Erklärungs- und Dominanzanspruch als eine „verfeinerte“ Version des Objektivismus bzw. als eine milieudeterministische (neomechanistische) „Subjektheorie“.


Zwar ist nicht zu bestreiten, daß habituelle Momente als sekundär automatisierte Tätigkeitskomponenten in subjektive Handlungsstrategien einfließen. Aber im Habitus-Konzept werden diese in beständig wiederkehrenden Alltagssituationen eingeschliffenen und verfestigten Anteile hypertrophiert bzw. verabsolutiert. Das Psychische als entwicklungslogisches Resultat von Problem-, Ernstfall- und Konfliktsituationen, d. h. als tätigkeitsreguliernder Verarbeitungsmechanismus in nichtstereotypen bzw. entroutinisierten Situationen/Konstellationen wird damit im Prinzip ausgelöscht. Damit bleibt auch die Kreativitätsgenese bzw. die Entstehung des „Neuen“ im dialektischen Spannungsfeld zwischen Wirklichkeits- und Selbstveränderung ausgeblendet23. Insofern der Habitusbegriff tendenziell den Platz einer Surrogatkategorie des Psychischen einnimmt, wird damit einer Reduzierung des Subjekts auf die Erfüllung einer einfachen Reproduktionsfunktion der vorgegebenen Verhältnisse Vorschub geleistet.


c) Während die rationalistischen Handlungstheorien das undeterminierte (autonome) Subjekt als ‚asozialen‘ vereinzelten Einzelnen verabsolutieren, das aus sich selbst heraus die relevanten Handlungsressourcen generiert (Ideen, Zielsetzungen, Mittel, Strategien etc.), fällt die Habitustheorie trotz aller verbalen Distanzierungen in den gegenteiligen Fehler der weitgehenden Auslieferung des Subjekts an seine - nunmehr verinnerlichten - unmittelbaren Lebensumstände. D.h. Bourdieu erfaßt mit seiner Habitustheorie im wesentlichen nur den adaptiven Aspekt der subjektiven Lebenspraxis: Indem das Individuum seine sozialen Existenzbedingungen in Gestalt diverser habitueller Schemata „inkorporiert“, paßt es sich ‚funktional‘ dem vorgefundenen Lebensstandort an und trägt so in seiner habituellen Lebenspraxis zur Reproduktion der gegebenen Verhältnisse bei. Was in dieser kategorialen Perspektive aber ausgeklammert bleiben muß bzw. theorieimmanent nicht mehr adäquat begriffen werden kann, ist der Verlauf von ‚Störungsphasen‘ bzw. ‚Krisen‘ alltäglicher Praxis, in denen routinisiertes, d. h. habituell geprägtes Handeln aufgrund eines manifest gewordenen Informations- und Orientierungsdefizits infolge veränderter Tätigkeitsvoraussetzungen prekär wird. Zwar thematisiert Bourdieu abstrakt-deskriptiv die Möglichkeit der Nichtübereinstimmung von ‚Habitus‘ und ‚Feld‘ bzw. ‚Dispositionen‘ und ‚Bedingungen‘ aufgrund der Herausbildung von Differenzen zwischen den Erzeugungsbedingungen des Habitus und den aktuell veränderten Handlungsbedingungen, aber die Möglichkeit einer aktiv-selbstverändernden Verarbeitung dieser Diskrepanz aufgrund einer durch Selbsterkenntnisgewinn gestützeten „Habitusdurchbrechung“ bleibt ausgeblendet. Insbesondere wird hier übersehen, daß die historisch akkumulierte „Zweite Kultur“ bzw. das tradierte „progressive Sozialerbe“ als Aneignungsmöglichkeit für konkreter Subjekte die potentielle Basis bildet für ‚alternative‘ Habitusformen‘ auch und gerade innerhalb der Herkunftsklasse24. Der individuelle Akteur wird auf diese Weise entsubjektiviert oder anders herum: der (vorangepaßte) Habitus tritt an die Stelle des Subjekts25. Deshalb vermag Bourdieu auch nicht die Herausbildung „praktisch-kritischer“ Tätigkeit bzw. emanzipatorischer Praxis theorieimmanent zu beschreiben und zu erklären. Indem man im Diskurs der Habitustheorie verharrt, ist es folglich nicht möglich, näher in die subjektive Logik und Bewegungsdynamik kritisch-widerständiger Aktivitätsentfaltung einzudringen.


d) Indem Bourdieu die Logik der individuellen (ontogenetischen) Aneignungstätigkeit als zugleich interaktiv und ‚sachlogisch‘ vermittelter Prozeß außer Acht läßt und den Begriff der „Einverleibung“ (Inkorporation) als Substitut für eine Theorie der individuellen Vergesellschaftung lanciert, entgeht ihm folgendes: Das Individuum „inkorporiert“ nicht einfach „klassenspezifische Erfahrung“ aufgrund einer gleichsam „abstrakten“ Hineinentwicklung in den vorgegebenen Sozialraum. Es „verinnerlicht“ vielmehr im Rahmen der interaktiv vermittelten Aneignungstätigkeit die von den jeweiligen Bezugspersonen vorgelebte/anerzogene Form/Modalität der „Klassenerfahrung“. Angeeignet wird folglich nicht etwa „reine“ Klassenerfahrung, sondern ‚mikromilieuspezifisch gebrochene‘ Klassenerfahrung, d. h. ein bestimmter gerichteter Verarbeitungsstil in Gestalt etwa von geflissentlicher Anpassung/Unterwürfigkeit, ressentimentbeladener Resignation, widerständiger Trotzigkeit etc. als differenzielle Dispositionseinheiten. Entsprechend differenziert sind dann auch die habituell verfestigten Wahrnehmungs- und Geschmacksschemata, kognitiven Deutungsmuster, stereotypen Lagebewertungen, ‚Lebensweisheiten‘, normativen Ausrichtungen etc. beschaffen, die immer auch die Möglichkeit „einfacher“ oder „bestimmter“ Negation im Kontext generationskonfliktärer Auseinandersetzungen implizieren.


Hervorzuheben ist abschließend noch folgendes: Mit dem standortspezifisch-schicksalhaft vorgegebenen Habitus bekommt das Individuum seine Identität im Rahmen einer sich automatisch vollziehenden Sozialkonditionierung gleich mitgeliefert. Damit entledigt sich Bourdieu auf ebenso elegante wie ignorante Weise einer zentralen sozial- und humanwissenschaftlichen Fragestellung.


Fazit: Trotz eines adäquaten Problemaufrisses und zahlreicher interessanter und anregender Einzelaspekte bietet die theoretische Konzeption Bourdieus keine wirklich hinreichende und überzeugende Lösung des zentralen wissenschaftlichen Vermittlungsproblems zwischen menschlicher Subjektivität und gesellschaftlicher Wirklichkeit. Insbesondere bleibt die Frage, wie das Subjekt vom dysfunktional und obsolet gewordenen Habitus zu dessen Ersetzung durch reflektierende Chancenabwägung gelangt, nicht nur unbeantwortet, sondern ist theorieimmanent auch gar nicht beantwortbar. Es bleibt nämlich ein konzeptionell unaufgelöstetes Rätsel, wie die vom Habitus generierte und dominierte Praxis (die ja durchgängig als unreflektiert, unbewußt, instinktiv, reflexhaft, quasiautomatisch etc. charakterisiert wird) zugleich als strategische Praxis gedacht werden kann, die ja wesensmäßig einen bewußt-intentionalen (d. h. ‚nichtinstinktiven‘), seine limitierten Möglichkeiten reflektierenden, potentielle Ereigniskonstellationen antizipierenden und somit entscheidungskompetenten Akteur zur Voraussetzung hat. Ohne ein inhaltliches Konzept menschlicher Subjektivität, daß die Dialektik von Tätigkeit, Bewußtsein und gesellschaftlicher Realität unverkürzt erfaßt und insofern den habitustheoretischen Reduktionismus überwindet, ist der Gegensatz zwischen Objektivismus und Subjektivismus nicht wirklich überwindbar. Anstatt der Suggestion zu erliegen, die einzige Alternative zur Habitustheorie liege in der „imaginären Anthropologie des Subjektivismus“ bzw. in einer „voluntaristischen Metaphysik der Freiheit“26, gilt es die Scheuklappen der akademischen Mainstreams abzustreifen und sich den Resultaten erkenntnisfördernder materialistisch-dialektischer Subjektivitätstheorien zuzuwenden.


© Hartmut Krauss, Osnabrück 2001




Literatur:


Bourdieu, Pierre: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Frankfurt am Main 1976.


Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main 1987.


Bourdieu, Pierre: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt am Main 1993.


Bourdieu, Pierre: Sozialer Raum und ‚Klassen‘. Lecon sur la lecon. Zwei Vorlesungen. Frankfurt am Main 1991.


Bourdieu, Pierre: Der Tote packt den Lebenden. Schriften zu Politik und Kultur 2. Hamburg 1997.


Eder, Klaus (Hrsg.): Klassenlage, Lebensstil und kulturelle Praxis. Theoretische und empirische Beiträge zur Auseinandersetzung mit Pierre Bourdieus Klassentheorie. Frankfurt am Main 1989.


Giegel, Hans-Joachim: Distinktionsstrategie oder Verstrickung in die Paradoxien gesellschaftlicher Umstrukturierung? Die Stellung der neuen sozialen Bewegungen im Raum der Klassenbeziehungen. In: Eder 1989. S. 143-187.


Gramsci, Antonio: Gefängnishefte Band 6. Philosophie der Praxis. Hefte 10 und 11, herausg. v. Wolfgang Fritz Haug unter Mitwirkung von Klaus Bochmann, Peter Jehle und Gerhard Kuck, Hamburg und Berlin 1994.


Holzkamp, Klaus: Sinnliche Erkenntnis. Historischer Ursprung und gesellschaftliche Funktion der Wahrnehmung. Frankfurt am Main 1973.


Kemper, Peter (Hrsg.): ‚Postmoderne‘ oder Der Kampf um die Zukunft. Frankfurt am Main 1988.


Köhler, Jochen: Sprachkritik statt Ideologiekritik. Die Konjunktur der Zeichen in Strukturalismus und Poststrukturalismus. In: Kemper 1988. S.37-58.


Krais, Beate: Soziales Feld, Macht und kulturelle Praxis. Die Untersuchungen Bourdieus über die verschiedenen Fraktionen der „herrschenden Klasse“ in Frankreich. In: Eder 1989. S.47-70.


Schwingel, Markus: Pierre Bourdieu zur Einführung. Hamburg 2000.




Anmerkungen:

1 Vgl. Pierre Bourdieu: Gegenfeuer. Wortmeldungen im Dienste des Widerstands gegen die neoliberale Invasion. Konstanz 1998.

2 Vgl. Pierre Bourdieu: Die Intellektuellen und die Macht. Hamburg 1991.

3 Eine kritische Auseinandersetzung mit Bourdieus neueren gesellschaftspolitischen Schriften und Initiativen bliebe einer gesonderten Untersuchung vorbehalten.

4 „Bewegung auf ‚höhere‘ Tätigkeitsniveaus“ meint hier die praktische Durchsetzung eines verbesserten Niveaus tätiger Realitätskontrolle einschließlich der Erweiterung des subjektiven Kompetenzniveaus.

5 Kernaspekt des strukturalistischen Diskurses ist das auf Ferdinand de Saussure (1857-1913) zurückgehende Paradigma der „Differentialität“ aller Strukturelemente. Unter Ausblendung der intentionalen Sprecher und generell des dialektischen Zusammenhangs von Sprache, Denken und praktischer Tätigkeit begreift Saussure nur die Sprache an und für sich selbst als den einzig wirklichen Gegenstand der Sprachwissenschaft. In dieser Perspektive fungiert die Sprache als sich selbst generierendes System von Bedeutungen, die ihrerseits aus der Kombination der endlichen Systemelemente hervorgehen. Der „Wert“ eines Elements ergibt sich folglich aus seiner „Differentialität“, d.h. aus seiner Abgrenzung und Beziehung zu den anderen Systemelementen. Die „Differentialität“ imponiert somit als das Primäre.

6 „Jede objektivistische Erkenntnis enthält einen Anspruch auf legitime Herrschaft“ ( 1993, S.55).

7 Aus dieser Ausblendung der spezifischen Konstitutionsbedingungen und Geltungsgrenzen der wissenschaftlichen bzw. theoretischen Erkenntnis resultieren zwei komplementäre Illusionen: „die subjektivistische ‚Illusion einer unmittelbaren Erkenntnis‘ und die objektivistische ‚Illusion absoluten Wissens‘“ (Schwingel 2000, S.49).

8 In Anlehnung an Platon verweist Bourdieu auf zwei zentrale Eigenschaften der (Alltags-)Praxis, „nämlich den Zeitdruck (‚das verrinnende Wasser der Uhr treibt sie zur Eile‘), welcher verbietet, bei interessanten Problemen zu verweilen, sie mehrmals wiederaufzunehmen, auf sie zurückzukommen, sowie die Tatsache, daß Praktisches, bisweilen Lebenswichtiges auf dem Spiele steht“ (1993, S.54).

9 Vgl 1976, S.139ff. und 1993, S.97ff.

10 Dieser voluntaristische bzw. fiktive Klassenbegriff „verdankt sich dem Vorhandensein einer repräsentierten Arbeiterklasse, das heißt politisch-gewerkschaftlicher Apparate und bestallter Wortführer, Funktionäre, die nicht allein ein vitales Interesse daran haben, an den Bestand dieser Klasse zu glauben und glauben zu machen (ebenso die, die dazugehören, wie die anderen, die sich von ihr ausschließen), sondern die darüber hinaus imstande sind, die ‚Arbeiterklasse‘ zum Sprechen zu bringen, und zwar einstimmig, sie - gleich Geistern - zu beschwören, sie - gleich Göttern oder Heiligen - anzurufen, ja sie symbolisch vorzuzeigen in der Demonstration, dieser gleichsam theatralischen Vorführung der repräsentierten Klasse, mit, auf der einen Seite: dem Stab der bestallten Repräsentanten samt der für ihre Existenz wesentlichen Symbolik - den Siglen, Emblemen, Insignien -, und auf der anderen Seite: dem überzeugtesten Teil der Gläubigen, deren Gegenwart es den Repräsentanten ermöglicht, ihre Repräsentativität zur Schau zu stellen“ (1991, S.40f.).

11 Das soziale Kapital wird in Bourdieus empirischer Untersuchung der französischen Sozialstruktur, wahrscheinlich aus erhebungsmethodischen Gründen, nicht näher berücksichtigt. Das ist wiederum in kritisch-theoretischer Perspektive insofern bedauerlich, weil die - in der Regel „verschwiegene“ Transformation von sozialem Kapital in kulturelles (Vater kennt Schuldirektor) und ökonomisches Kapital (Mutter kennt Personalchef) als inoffizielle bzw. informelle Realität die ideologische Behauptung, die bürgerliche Gesellschaft sei eine chancengleiche und demokratisch regulierte Wettbewerbs- und Leistungsgesellschaft, nachhaltig falsifiziert und delegitimiert. Nimmt man die auswuchernde aktive und passive Bestechung im Interaktionsraum zwischen Staat und Privatwirtschaft sowie die innerstaatliche „Vettern- und Cousinenwirtschaft“ hinzu, dann tut sich hier ein weites Feld für aktuell dringliche kritisch-gesellschaftswissenschaftliche Untersuchungen auf.

12 Die ausgehend von den Stellungen im beruflichen Sozialraum anhand sozialstatistischen Auswertungsverfahren konstruierte Klasse ist rein theoretischer Natur. „Sie bildet keine reale, effektive Klasse im Sinne einer kampfbereiten Gruppe; sie ist, strenggenommen, lediglich eine wahrscheinliche Klasse, das heißt eine Gesamtheit von Akteuren, deren Mobilisierung im Verhältnis zu jeder anderen nur weniger objektive Schwierigkeiten bereitet “ (1991, S.12).

13 Beispiel: „Dem ‚freimütigen‘, ungezwungenen Essen der ‚einfachen Leute‘ setzt der Bourgeois sein Bemühen um formvollendestes Essen entgegen“ (1987, S.313).

14 In der Tat liefert Bourdieu, wie Schwingel (2000, S.111) feststellt, in den Feinen Unterschieden ein schier unerschöpfliches empirisches Material zur Veranschaulichung klassendifferenter Lebensstilpraktiken.

15 „Der Geschmack...ist die Erzeugungsformel, die dem Lebensstil zugrunde liegt, anders gesagt, dem einheitlichen Gesamtkomplex distinktiver Präferenzen, in dem sich in der jeweiligen Logik eines spezifischen symbolischen Teil-Raums - des Mobiliars und der Kleidung so gut wie der Sprache oder der körperlichen Hexis - ein und dieselbe Ausdrucksintention niederschlägt“ (1987, S.283).

16 „So liegt Frauen aus den unteren Klassen nichts ferner als die typisch bürgerliche Vorstellung, jeden Einrichtungsgegenstand zum Objekt einer ästhetischen Entscheidung zu machen“ (1987, S.594).

17 Die doppelte Erfahrung des eigenen Sozialmilieus als homogen/uniform und geschlossen/nichttranszendierbar begründet einen ebenso fatalen wie unerbittlichen Realismus der unteren Klassen: „nur die bestehende Sprache, nur der bestehende Lebensstil, nur die bestehenden Affinitäten sind zulässig. Der Raum der Möglichkeiten ist geschlossen. Die Erwartungen der anderen verstärken nur die von den objektiven Verhältnissen auferlegten Dispositionen“ (1987, S.597).

18 „Der Habitus stellt das Produkt der Einprägungs- und Aneignungsarbeit dar, die erforderlich ist, damit die Hervorbringungen der kollektiven Geschichte (Sprache, Wirtschaftsform usw) sich in Form dauerhafter Dispositionen in allen, den gleichen Bedingungen auf Dauer unterworfenen, folglich den gleichen materiellen Existenzbedingungen ausgesetzten Organismen - die man, so man will, Individuum nennen kann - erfolgreich reproduzieren können“ (1976, S.186f.).

19 Abgesehen davon, daß das restliche Viertel selbst im Falle seiner adäquaten Quantifizierung noch genügend Erklärungsbedarf übrig ließe, bleibt hier völlig unklar, was denn hier als „menschliche Handlungen“ qualifiziert wird. Etwa unwillkürliche Körperaktivitäten wie Herzschlag, Atmung, Verdauung, bioelektrische Reizleitung etc. oder Prozesse wie Schlafen, Koma, Drogenrausch? Oder aber Arbeit, Lernen, Konfliktaustragung, Spiel, Experiment, Interessenvertretung etc. ? In dieser „einmontierten“ Form jedenfals wirkt das Leibniz-Zitat bei Bourdieu wie ein Apodiktum des grobschlächtigsten Mechanizismus.

20 Das Bildungssystem ist nicht auf die von Bourdieu u.a. aufgezeigte Funktion als Reproduktionsstätte sozialer Ungleichheit und ideologischer Anpassung zu reduzieren. Es erzeugt auch - neben der elementaren Vermittlung von Kulturtechniken als ‚ rezeptive Prämissen‘ wissenschaftlicher Informationsverarbeitung - spontan, unwillkürlich und eher zufällig in den ihm unterworfenen Individuen bisweilen zumindest Ansätze von dauerhaften ‚nichtinstrumentellen‘ Erkenntnisinteressen und Bildungsmotiven, d. h. ‚Antriebe‘ zur geistigen Transzendierung/Hinterfragung unmittelbarer Alltäglichkeit.

21 Vgl. hierzu meinen Text „Konturen der postmodernen Wissenschaftszerstörung. Eine kritische Skizze“.

22 „Wenn Bordieu von Kapital spricht, so hat er dabei Kapital als gesellschaftliche Ressource im Auge“ (Krais 1989, S.57).

23 Trotz aller verbalen Distanzierungen von einem „blind“ wirkenden Determinationsschema ist dennoch festzuhalten, daß den Akteuren „Freiheit“, „Kreativität“, „Spontaneität“ etc. stets nur im Rahmen des unbewußt wirksamen Habitus, d. h- ohne Willen und Bewußtsein, zugestanden wird. Die Grenzen des Habitus werden so zu Grenzen des Menschen schlechthin stilisiert.

24 Auch Giegel (1989, S.153) hat darauf hingewiesen, daß im Rahmen der Bourdieuschen Theorie nicht beschrieben werden kann, „wie sich eine kulturelle Praxis entfaltet, deren Sinn gerade darin liegt, die hierarchische Differenzierung sozialer Klassenpositionen und im besonderen auch die herrschaftsstabilisierende Funktion der Kultur zu bekämpfen. Es ist die Fähigkeit der Kultur, Mittel zur Selbstreflexion zu entwickeln, die hier nicht erfaßt wird.“

25 Die Nichtübereinstimmung von ‚Habitus‘ und ‚Feld‘ wird deshalb auch nur in regressiver, dysfunktionaler, defizitärer Perspektive gedacht; nicht potentiell progressiv, bewußt-kritisch.

26 So der apodiktische Immunisierungsversuch bei Schwingel (2000, S.72f.).

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