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Buchveröffentlichungen  









Hanna Behrend

Renzension

Roger Bromley, Udo Göttlich, Carsten Winter (Hrsg.): Cultural Studies. Grundlagentexte zur Einführung.
zu Klampen Verlag Lüneburg 1999, 389 S.

Gerade in unseren Tagen lohnt die Lektüre dieses von einem britischen und zwei deutschen Kulturwissenschaftlern herausgegebenen Kompendiums der britischen Cultural Studies, jenes verdienstvollen wissenschaftlichen Reformvorhabens der späten 50er und 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, das „Sozialtheorie, Kulturanalyse und –kritik sowie Politik in einem transdisziplinären Projekt“ (348) verband. Vielleicht das bedeutendste Verdienst des Unternehmens war es, gestützt auf den weiten Marxschen Kulturbegriff den Zusammenhang zwischen sozialer Produktion und Reproduktion und den einerseits Herrschaft stabilisierenden und andererseits Widerstand ermöglichenden kulturellen Formen zu untersuchen. Die Gesellschaftsanalyse der Vertreter der Cultural Studies ging von hierarchischen und antagonistischen Strukturen und von Unterdrückung auf Grund von Klassen-, Geschlechts- und ethnischer Zugehörigkeit aus. Auf Gramscis Modell der Hegemonie und Anti-Hegemonie berief sie sich, um „>gegen-hegemoniale< Widerstands- und Kampfformen ans Licht zu bringen“ (349).

Cultural Studies waren ein sowohl politisches als pädagogisches Reformprojekt, das aus den theoretischen Aufsätzen von politisch engagierten, in der Erwachsenenbildung tätigen Geistes- und Sozialwissenchaftlern hervorging. 1963 wurde der aus Arbeiterkreisen in Leeds stammende Literaturwissenschaftler Richard Hoggart an die Universität Birmingham auf eine Englisch-Professur berufen1, wo er 1964 das Centre for Contemporary Cultural Studies, das CCCS, gründete, das die institutionelle Basis der Cultural Studies in Großbritannien wurde. Bis in die späten 70er Jahre wurde das CCCS durch politisch interventionistische Züge geprägt, die nur sehr allmählich zurückgingen, bzw. in den Arbeiten zu den Geschlechterverhältnissen und zu Ethnizität weiter fortgeführt wurden. Der englische Herausgeber dieser Publikation, Roger Bromley, ist zurecht der Meinung, dass die Cultural Studies, selbst (vielleicht sogar gerade) als akademinisierte Disziplin einen riesigen Einfluss in Großbritannien ausübten. „Ein Grossteil der kulturellen, politischen und sozialen Debatten, die um den Begriff der >Krise< kreisten, konnte sich auf ihre Arbeiten [der Pioniere der Cultural Studies] beziehen und sie für den politischen Diskurs nutzbar machen!“ (19).

In einem Interview im „Freitag“ vom 2.3.01 vertritt der amerikanische Literaturwissenschaftler Frederic Jameson die Auffassung, dass die Cultural Studies, die ursprünglich mit den neuen emanzipatorischen sozialen Bewegungen der sechziger und siebziger Jahre assoziiert waren, zwar inzwischen vor allem in der westlichen Welt Patina angelegt haben. „Aber die Arbeit all der jungen, interessanten Geisteswissenschaftler, die offen für neue Methoden und geschult im Umgang mit Theorie sind, lässt sich in weiten Teilen als Cultural Studies begreifen“ (ebda.). Jameson geht von der „Einzigartigkeit der gegenwärtigen Situation“ aus, die er mit dem Begriff der Postmoderne beschreibt; sie bestehe in der enormen Ausbreitung der Kultur, die alle Bereiche der Gesellschaft durchdrungen habe. Deshalb sei es heute unmöglich, „eine angemessene sozialwissenschaftliche Analyse der Phänomene um uns herum vorzunehmen, ohne zu verstehen, dass diese zutiefst von Kultur getränkt sind“. Diese Kultur spiele in der kapitalistischen Postmoderne, einer historischen Phase, „in der wir in einem von Bildern saturierten Raum leben, eine gänzlich andere Rolle als in der Moderne“ [dem Zeitalter des fordistischen Kapitalismus, der von der Postmoderne, d.h. dem von Informations- und Kommunikationstechnologie geprägten globalisierten High-Tech Kapitalismus abgelöst wurde] (ebda).

Cultural Studies, deren ursprüngliches Motiv die Demokratisierung der Kultur war, vermitteln, wie die in dem vorliegenden Buch abgedruckten Texte ihrer Pioniere und deren SchülerInnen überzeugend darlegen, bis heute weit besser als herkömmliche sozial- und kunstwissenschaftliche Einzeldisziplinen ein ganzheitliches Bild unserer heterogenen Gesellschaft mit allen ihren Widersprüchen und haben somit ihre subversive Potenz durchaus nicht verloren.

Im Teil I stellen zwei Einleitungen, von den Herausgebern verfasst, erstens die Disziplin vor, wie sie in Großbritannien entwickelt wurde und zweitens deren deutschsprachige Rezeption. Prof. Roger Bromley gehört der Gründergeneration dieser Studien an und leitet die International Cultural Studies in Nottingham, die beiden deutschen Wissenschaftler von der Gesamthochschule Duisburg bzw. der Technischen Universität Ilmenau repräsentieren in den eher konservativ geprägten deutschen Geisteswissenschaften die jüngere Generation der Cultural Studies.

In seinen Bemerkungen zur Entstehung der Cultural Studies in Großbritannien bestreitet Bromley, dass die New Left bzw. die (reformorientierten) Teile der Kommunistischen Partei Großbritanniens entscheidend an der Entwicklung beteiligt gewesen seien. „Ihre Bedeutung im Vergleich zur Bedeutung der labourregierten Wahlkreise, in denen ein fortschrittliches Nachdenken über Bildung, Wohlstand und Medien an der Tagesordnung war, [scheint] überschätzt worden zu sein“ (11), meint er. Dies überzeugt nicht, denn zumindestens die Theoretiker und Gründungsväter der Cultural Studies, etwa der von Bromley eher kritisch eingeschätzte Richard Hoggart, aber auch Stuart Hall (der sich speziell mit den marxistischen Theorien Gramscis und Althussers auseinander setzte) und Richard Johnson waren eng mit der kritisch-marxistischen New Left und mit eurokommunistischen bzw. reformkommunistischen AutorInnen (u.a. den Herausgebern von Marxism Today) verbunden. Aus dem Kreis der Historians’ Group der Kommunistischen Partei, von dem H. Gustav Klaus2 schrieb, dass sich das, „was es in Großbritannien heute an kritischer und marxistischer Wissenschaft von Rang gibt ... im Fach Geschichte aus der bis zum Aderlass 1956 ungemein produktiven Historians Group der Kommunistischen Partei, in der Kulturtheorie und Ideologieforschung aus der New Left“ speiste, kam auch E.P. Thompson

Selbst die frühen kulturwissenschaftlichen Werke, speziell Culture and Society (1958) des Marx gegenüber sehr kritischen Raymond Williams stellen ein Bindeglied zwischen den Bemühungen der mit der Labour Party und den Gewerkschaften assoziierten WEA (Workers’ Educational Association) und politisch weiter links orientierten Strömungen dar. Die WEA bot seit Gründung 1903 Arbeitern die Möglichkeit, sich (die immer noch weitgehend dem hegemonialen Diskurs verpflichtete) Literatur- und Kunstgeschichte zu eigen zu machen und nützte die Unterstützung, die ihr etablierte Literaturwissenschaftler wie F.R. Leavis und I.A. Richards zuteil werden ließen. Sie waren damit Teil der Arbeiterbildungstradition, die seit Beginn der englischen Arbeiterbewegung stets eine beachtliche Rolle bei der Demokratisierung der Kultur in Großbritannien gespielt hat. Diese Tradition war immer ein Kampfplatz gewesen, auf dem sich die verschiedenen Richtungen innerhalb der Bewegung bemühten, ihren Einfluss zu festigen und erweitern.

Bromley ist zuzustimmen, wenn er das dabei aktivierte „Verlangen nach einer demokratisierten Bildungskultur“ betont, das dazu „zwang, andere, eigenständige und klassenspezifische Wege des Verstehens zu entwickeln“ (10) und das überdies der kleinste gemeinsame Nenner aller an den Cultural Studies beteiligten politischen Richtungen war. An ihrer Genese haben somit sowohl eher traditionell reformerische als auch radikalere Teile der Arbeiter- und sozialistischen Bewegung Anteil. Das Motiv der Demokratisierung der Kultur und damit der ganzen Gesellschaft bestimmte auch die später entwickelten Konzepte, die der Spezifik der Geschlechterverhältnisse und der ethnischen Minderheiten gerecht zu werden versuchten.

Die beiden deutschen Herausgeber Göttlich und Winter verweisen auf die Ursachen für die Zurückhaltung des wissenschaftlichen Establishments in Deutschland gegenüber den Cultural Studies, die ihm als „ein >linkes< politisches Projekt“ (28) bis heute suspekt sind. Die Kontextualisierung und Interdisziplinarität, die den Cultural Studies eigen sind, entsprechen in keiner Weise den tradierten Strukturen der deutschen Sozial- und Kunstwissenschaften. Daher war es auch in Deutschland zunächst nicht das etablierte akademische Umfeld, das sich dafür interessierte, sondern alternative Zeitschriften wie Ästhetik und Kommunikation, Gulliver und Das Argument (die in (West)-Berlin von Jürgen Enkemann seit den 70er Jahren herausgegebene Zeitschrift Hard Times und ihr diesbezüglicher Beitrag wird leider nicht erwähnt) übersetzten und veröffentlichten Artikel von Vertretern der Cultural Studies aus dem Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) in Birmingham. Dass diese sich lediglich mit Fragen der Jugend- und der Alltagskultur der Arbeiter und Angestellten beschäftigt hätten oder dass diese Beiträge gar nicht als Cultural Studies wahrgenommen worden seien, wird ihnen nicht gerecht. Auch wenn das label Cultural Studies nicht immer gebraucht wurde, wurden die Beiträge aus dem Umkreis dieser wissenschaftlichen Innovation aus England in den genannten Zeitschriften als Teil des internationalen >linken< , in der einen oder anderen Weise marxistisch inspirierten politischen Spektrums betrachtet und von einem Teils der >68er< angenommen.

In Akademia erfolgte die Rezeption der Cultural Studies dagegen nur sehr selektiv und überhaupt nur in bestimmten Disziplinen. Dabei wurden die Cultural Studies allmählich entpolitisiert und - von den lebhaften, stets realitätsbezogenen theoretischen Debatten der Gründergeneration der Cultural Studies in Birmingham und der interessierten Teile der deutschen Linken Welten entfernt - vor allem in die Anglistik/Amerikanistik, Kultur- und Medienwissenschaft oder Soziologie integriert.

Der Mainstream betrachte Kultur im wesentlichen weiterhin „aus der Perspektive der klassischen soziologischen Theorie und der Sozialanthropologie“ (37). Für Richard Johnson war „das eigentliche Objekt der Cultural Studies ... nicht der Text sondern das gesellschaftliche Leben subjektiver Formen in jedem Augenblick ihrer Zirkulation [ist], zu der auch ihre Verkörperung als Text gehört“ (169), also ein Herangehen, das auf Subjektivität als realen Menschen in realen Situationen zugehörig orientierte.

Dass sich nach Meinung von Göttlich und Winter die Wahrnehmung der Arbeiten der Pioniere der Cultural Studies in der DDR auf zwei Aufsätze von Dorothea Siegmund-Schultze in der Zeitschrift für Anglistik und Amerikanistik beschränkt, trifft nicht zu. Offenbar waren ihnen weder die Aktivitäten der Sektion Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität (Mühlberg, Groschopp, Neef u.a.), noch die Arbeiten von Karl-Heinz Magister bekannt. Letzterer veröffentlichte 1986 Marxistische Literaturkritik aus Großbritannien, in dem er u.a. Raymond Williams’ The Welsh Industrial Novel, 1979 in deutscher Übersetzung vorstellt; selbstverständlich nimmt er auch auf E.P. Thompsons The Making of the English Working Class Bezug. In seinem Buch, Roman und Arbeiter im heutigen England, 1988 setzt er sich in zwei Kapiteln ausführlich mit Entstehung und Kulturkonzeption der Neuen Linken, mit Raymond Williams, dessen Romanen er einen Aufsatz widmet, und mit Richard Hoggart, also mit Cultural Studies, kritisch auseinander. Auch in Amerikanische Literaturkritik im Engagement 1978 (herausgegeben von Norman Rudich, Vorwort von Robert Weimann) geht es um die Entstehung dessen, was später Cultural Studies genannt wurde. So steht Frederic Jamesons’ programmatisch Jenseits der Literaturkritik betitelter Aufsatz, in dem dieser sich für „ein funktionales Modell der Beziehungen zwischen einem Werk und seinem gesellschaftlichen Kontext (51) einsetzt, am Anfang dieses Sammelbandes.

Teil II, Beiträge zur Geschichte der Cultural Studies, enthält Aufsätze aus der Feder einiger ihrer repräsentativsten Autoren, Richard Hoggart, Raymond Williams. E.P. Thompson und Stuart Hall. Der Aufsatz von Gründungsvater Hoggart (*1918), „Die ‚wirkliche’ Welt der Leute. Beispiele aus der populären Kunst“, leider in einer dem Original wenig gerecht werdenden Übersetzung, zeigt, zu welchen interessanten Ergebnissen es führt, wenn Populär- und Alltagskultur nicht einfach als trivial abgetan, sondern mit Respekt und Zuneigung gegenüber ProduzentInnen und KonsumentInnen untersucht werden. Hoggarts Auffassung, „die Kunst der Arbeiterklasse .... geht von der Annahme aus, dass das Leben selbst faszinierend ist und beschäftigt sich mit den leicht wiedererkennbaren Lebensumständen und photographisch Abbildbarem, wie phantastisch sich dies auch immer entwickeln mag“ (43f.). Die Darstellung des Alltags sei interessant, weil sie nicht Flucht aus ihm nahe lege, sondern „weil ihr Interesse dem Alltag als solchem gilt“ (44). Er setzt sich mit der Struktur der populären Literatur auseinander, so mit den überwiegend von Frauen der Arbeiterklasse gelesenen Illustrierten. Von den darin enthaltenen fiktionalen Texten und den dabei benutzten Klischees sagt Hoggart, er betrachte sie „als ehrliche, wenn auch dramatisierte Darstellungen eines Lebensstils ... , dessen Gestalt und dessen Werte uns bekannt sind“ (53), weshalb es „sinnvoller erscheint, nach den Werten zu fragen, die diese Geschichten verkörpern“ (ebda). Bei aller Banalität beschrieben sie eine achtbare real existierende Lebensweise in einer begrenzten und einfachen Welt, in der nur wenige traditionelle Werte allgemein anerkannt werden. Das ganz normale Leben ziehe sich wie ein roter Faden durch diese Prosa.

Raymond Williams (1924-1992), ein aus der walisischen Arbeiterklasse stammender Pionier der Cultural Studies, vertrat einen Kulturbegriff („Culture is ordinary“, 1958), der von einer nicht elitären, nicht herrschaftsförmigen demokratischen Kultur ausging, die Instrument der Vermenschlichung der social beings, der politischen Individuen, sein könne.

In den Schlussbetrachtungen zu Culture and Society 1780-1950 (1958), die im vorliegenden Werk aufgenommen wurden, geht er auf Begriff und Funktion der Kultur ein. „In seiner allmählichen Entwicklung zu seiner modernen Bedeutung hin, zeugt er [der Kulturbegriff] vom Bemühen um eine vollständige qualitative Beurteilung, die sich aber auf einen Prozess bezieht, nicht auf etwas Abgeschlossenes. Die unter ihn gefassten Inhalte drängen uns nicht zu bestimmten Handlungen oder Zugehörigkeiten. Sie definieren an einer gemeinsamen Grundlage die Herangehensweisen und Schlussfolgerungen. Es ist an uns zu entscheiden, welche von ihnen wir, wenn überhaupt, aufnehmen wollen, damit sie sich nicht unter der Hand verwirren.“ (58). Als allgemeine Reaktion auf den tiefgreifenden Wandel unserer Lebensverhältnisse seit Beginn der Industrialisierung, reflektiere diese die Bemühung, die gesamte veränderte Lebensweise qualitativ zu bewerten. Industrie, Demokratie und Kunst seien die wichtigen Bereiche der Meinungsbildung. Kultur sei sowohl das Produkt der „altehrwürdigen, müßiggehenden Klassen“ als auch „das Erbe einer neuen aufsteigenden Klasse“ (64) „Die Gesamtheit der intellektuellen und imaginativen Werte, die jede Generation als ihre traditionelle Kultur übernimmt, ist immer und notwendigerweise mehr als das Produkt einer einzigen Klasse“ (65). Damit argumentierte er völlig zurecht gegen die damals unter Linken populäre Theorie von den zwei Kulturen (der herrschaftlichen und der alternativen Kultur).

Zur Kultur der Arbeiterklasse erklärt Williams, sie bezeichne nicht die proletarische Kunst oder den sozialen Wohnungsbau oder einen bestimmten Sprachgebrauch (letzteres scheint mir allerdings diskussionswürdig). Ihre eigentliche Grundlage sei „die kollektive Idee und die Institutionen, Verhaltensweisen, Denkgewohnheiten und Intentionen, die aus ihr hervorgehen“(68). Der Selektionsprozess in einer kulturellen Tradition stehe zwar immer in Verbindung mit den Interessen der herrschenden Klasse, aber qualitative kulturelle Veränderungen träten ein, sobald es einen Wechsel in den Macht- und Klassenverhältnissen gibt, noch ehe die neue aufsteigende Klasse eigene Beiträge dazu leisten kann. Jede Kultur sei „eine Auswahl, ein Hervorheben, eine besondere Ausrichtung. Die Besonderheit einer gemeinschaftlichen Kultur ist, dass diese Auswahl frei und gemeinschaftlich vorgenommen und erneuert wird“ (74).

Zu den Pionieren der Cultural Studies gehört auch E.P. Thompson (1924-1992). Sein The Making of the English Working Class (1963) hebt das Prozessuale solcher kulturellen Prozesse hervor, in denen die Subjekte sich selbst immer wieder neu schaffen. E.P. Thompsons grundsätzliche Kritik an Williams Geschichtsmethodologie, die er am Beispiel von dessen The Long Revolution (1961) untersucht, wird im Buch vorgestellt und ist auch heute von großer Aktualität. Williams – so der Verfasser -verschleiere die Konflikte, spiele Niederlagen und Fehler herunter. In seiner Geschichtsschreibung „gibt es keine guten oder schlechten Menschen, sondern lediglich dominante oder untergeordnete >Gefühlsstrukturen<. Das Ergebnis seiner Sichtweise ist eine allgemeinen >Fortschritts<-euphorie.“ (77) Seine Betonung liege auf Wachstum, Expansion, neuen Mustern, an dem alle Sozialcharaktere gleichermaßen Anteil haben und billige den Faktoren, die die Konflikthaftigkeit der Klassengesellschaft erkennbar machen (allgemeine politische Theorien der Zeit, die radikale Presse, also das Systemkritische) keine ausreichende Bedeutung zu. So gebe es bei ihm nur eine „lesende Öffentlichkeit“, nicht aber eine alternative lesende Öffentlichkeit und eine alternative Presse und Tradition. Thompson ordnet Williams einer Tradition zu, die sich hauptsächlich auf Publizisten, Schriftsteller, Kritiker und Philosophen bezieht, Historiker, Anthropologen oder Soziologen – von Vico bis Marx, von Weber bis Mannheim, aber auch englische marxistische Kulturhistoriker wie Gordon Childe nicht zur Kenntnis nimmt. „Für einen sozialistischen Denker handelt Williams die sozialistische Tradition außerordentlich knapp ab – und so verfährt er auch mit sämtlichen anderen radikalen minoritären Traditionen. Man käme kaum auf den Gedanken, dass der Sozialismus im 19. und 20. Jahrhundert eine Hauptströmung des europäischen Denkens gewesen ist. Der Arbeiterbewegung wird zwar zuweilen die Gründung neuer Institutionen zugute gehalten, eine bestimmte Geisteshaltung jedoch wird ihr nicht zugestanden. ... Manchmal scheint es, als unternähme Williams jeden nur erdenklichen Versuch, um ja nicht in Verdacht zu geraten, sich allzu offenkundig auf Marx zu beziehen.“ (82)

Diese Haltung Williams’ veranlasst Thompson seinerseits dazu, eine wichtige und erstaunlich frühe Erkenntnis Williams zu unrecht als einen aus marxistischer Sicht alten Hut zurückzuweisen. Dieser schrieb in „The Long Revolution“ (1961, 114), „’Sozialisten wie Marx’ hätten zwar ‚das System der Entscheidungen (Politik)’ mit dem ‚System der Erhaltung (Ökonomie)’ in Beziehung zueinander gesetzt, jedoch ‚das System des Lernens und der Kommunikation’ ebenso wie die Verhältnisse, die auf der ‚Zeugung und Aufzucht neuen Lebens’ basieren, außer Acht gelassen.“ (83) Sieht man von der ungewohnten Terminologie ab, so hat Williams hier bereits sehr früh auf die inzwischen auch von den meisten MarxistInnen akzeptierten Defizite marxistischer Theorie bezüglich der Psychologie, der Kommunikationswissenschaften und vor allem bezüglich der Rolle der Tätigkeiten, die die unmittelbare Reproduktion der Gattung gewährleisten, hingewiesen.

Von dem Soziologen jamaikanischer Abstammung Stuart Hall (*1932), der seit 1951 in England lebt und Herausgeber der New Left Review und von1969 bis 1979 Direktor des CCCS war, sind zwei Aufsätze in der Sammlung enthalten: Im Teil II der für die Medienanalysen der Cultural Studies bis heute richtungsweisende Beitrag „Kodieren/Dekodieren“ und im Teil III „Cultural Studies. Zwei Paradigmen“.

Mit ihm gelangen erstmals über die klassische literaturwissenschaftliche close reading-Methode ebenso wie über die traditionelle marxistische Analyse hinausgehende neue methodologische Ansätze ins Blickfeld der Cultural Studies. Dabei werden die bisherigen Traditionen von den führenden Autoren nicht denunziert, sondern in vielerlei Weise im neuen Herangehen aufgehoben.

In erstgenannten Aufsatz definiert Hall von strukturalistischen Prämissen ausgehend den Kommunikationsprozess „als eine Struktur, die durch die Artikulation miteinander verbundener, aber eigenständiger Momente produziert und aufrechterhalten wird: Produktion, Zirkulation, Distribution/Konsum, Reproduktion“ (93). Der Prozess sei „eine komplexe, dominante Struktur, ... die durch die Artikulation miteinander verbundener Praktiken entsteht, von denen jede in ihrer Unverwechselbarkeit erhalten bleibt und ihre spezifische Modalität, ihre eigenen Existenzformen und –bedingungen hat“ (ebda.). Gegenstand dieser Praktiken sind Bedeutungen und Nachrichten in Gestalt besonderer Zeichenträger, wobei die Zirkulation in diskursiver Form stattfindet. Davon ausgehend analysiert Hall den Kommunikationsprozess des Fernsehens und setzt sich speziell mit verschiedenen Positionen auseinander, von denen aus ein solcher Fernsehdiskurs dekodiert werden könnte. Dabei geht er von ZuschauerInnen aus, die innerhalb des dominanten Kodes agieren; von solchen, die von einem „ausgehandelten“ Kode, einer Mischung aus adaptiven und oppositionellen Elementen, aus dekodieren und schließlich denjenigen, die sich eines oppositionellen Kodes bei der Entschlüsselung der Nachrichten bedienen.

Der III Teil, Theoretische Reflexionen, enthält Stuart Halls „Cultural Studies. Zwei Paradigmen“, in dem er sich mit den wesentlichen theoretischen Strängen, auf denen die Cultural Studies basieren, auseinandersetzt. Es geht ihm darum darzulegen, dass das Kernproblem der Cultural Studies darin bestehe, „ausgehend von den besten Elementen der kulturalistischen und strukturalistischen Vorhaben und unter Berücksichtigung einiger Konzepte Gramscis“ (137) und der Dialektik von Verhältnissen und Bewusstsein, von Logik des Denkens und der >Logik< des historischen Prozesses eine materialistische Kulturtheorie zu entwickeln, die immer wieder eine Synthese „der dauerhaften und sich wechselseitig verstärkenden Widersprüche“ (ebda) versucht. Er untersucht die Brüche und Kontinuitäten, die die wichtigen Texte der Entstehungszeit der Cultural Studies auszeichnen. So habe die Abkehr in Hoggarts „The Uses of Literacy“ von den auf der Dichotomisierung zwischen ‚hoher’ und ‚niedriger’ Kultur beruhenden Kriterien der Kulturdebatte der 50er Jahre dazu geführt, die neue ganzheitliche Kultur- und Gesellschafts-Tradition zu begründen. Die bahnbrechenden Texte der Cultural Studies, Williams’ „The Long Revolution“ und Thompsons „The Making of the English Working Class” (1963), verstanden Kultur “als eine Dimension … ohne deren Berücksichtigung vergangene wie gegenwärtige Prozesse geschichtlichen Wandels nicht angemessen verstanden werden können“ (115). Das entsprach den Auffassungen der damaligen New Left und „ließ die ‚Politik intellektueller Arbeit’ von Anfang an in den Brennpunkt der Cultural Studies rücken“ (ebda.). Dabei gab es unter diesen Pionieren keinen verbindlichen und noch weniger einen gemeinsamen Kulturbegriff. Stets aber umfasste ihr Kulturbegriff weit mehr als die Künste und entsprach somit eher dem erweiterten marxistischen Kulturbegriff.

Hall bezeichnet die Position der drei genannten Autoren als „kulturalistisch“, worunter er eine Sichtweise versteht, die sich gegen jede Form analytischer Abstraktion wendet und Totalität als konkret und historisch determiniert betrachtet. Hall setzt sich mit dem strukturalistischen Strang der Cultural Studies auseinander, den er selbst „durch eine Kombination von Althussers Ideologiebegriff und Gramscis Hegemoniekonzept“ (92) weiterentwickelte. Dieser unterscheide sich vom kulturalistischen Herangehen darin, dass er nicht die Erfahrung als Schnittpunkt von Bewusstsein und den jeweiligen Verhältnissen ansieht, sondern davon ausgeht, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse „erst innerhalb der und durch die Kategorien, Klassifizierungen und grundlegenden Strukturen einer Kultur >gelebt< und erfahren werden“(127). Erfahrung sei der Effekt dieser Kategorien. Hall betont, die Stärke der Strukturalismen – für ihn ist Strukturalismus ein sehr vielschichtiges Projekt - sei ihr Bestehen auf der Determiniertheit der Verhältnisse, d.h. im Kampf gegen die bestehenden Verhältnisse müsse davon ausgegangen werden, dass die Menschen in diese Verhältnisse hineingestellt werden und sich als AkteurInnen erst konstituieren müssen. Strukturalismus ermögliche es, „über die Beziehungen innerhalb einer Struktur nachzudenken ... ohne sie auf bloße Beziehungen zwischen Personen zu reduzieren“ (129). Die Konzeption des Ganzen im Strukturalismus hebe die Erkenntnisse aus den „Grundrissen“ von Marx auf, in denen dieser „die >Einheit< einer gesellschaftlichen Formation nicht aus der Identität, sondern aus der Differenz“(131) begriff. „Die Betonung der Einheit in der Differenz, der komplexen Einheit – das marxsche Konkrete als >Einheit vieler Bestimmungen< - lässt sich in eine ... letztlich fruchtbarere Richtung überführen: auf die Problematik der relativen Autonomie und der >Überdeterminierung< sowie auf die Analyse der Artikulation. ... Das richtig entwickelte strukturalistische Paradigma ermöglicht uns somit erste Schritte zur begrifflichen Erfassung der Spezifität unterschiedlicher Praktiken ... , ohne das Ensemble, das sie konstituieren, aus dem Blick zu verlieren.“ (132). Diese Position ist derjenigen poststrukturalistischer Feministinnen verwandt, die Differenz als gleichwertige Unterschiedlichkeit ebenfalls als mit Gemeinsamkeit kompatibel denken.

Die Stärken des Kulturalismus ergänzten, schreibt Hall, die Schwach- und Leerstellen der strukturalistischen Position, insofern er „das affirmative Moment in der Entstehung bewusster Kämpfe und Zusammenschlüsse als notwendiges Element der Analyse von Geschichte, Ideologie und Bewusstsein“ erkennt. (133). So vermag „der Strang der Cultural Studies, der ausgehend von den besten Elementen der kulturalistischen und strukturalistischen Vorhaben und unter Berücksichtigung einiger Konzepte Gramscis weiter denkt, den Anforderungen dieses Untersuchungsfeldes am ehesten gerecht“ (137) zu werden.

Die Frage „Was sind eigentlich Cultural Studies?“ beschäftigt den Sozialhistoriker Richard Johnson (*1939), der 1980 Halls Nachfolger als Direktor des CCCS wurde, in dem zweiten Beitrag des III. Abschnitts. Cultural Studies, als literaturkritische Studien begonnen und bald auf das Alltagsleben orientiert, wurden zu einem wichtigen Moment der Weiterentwicklung der Sozialgeschichte, speziell über die Populärkultur. Von zentraler Bedeutung wurde für sie die Kritik am „tradierten Marxismus“, worunter der parteioffizielle Marxismus-Leninismus verstanden wurde. Dagegen habe sich der marxistische Einfluss, speziell der Althussers und Gramscis, in der Auffassung niedergeschlagen, „dass kulturelle Prozesse eng mit gesellschaftlichen Verhältnissen zusammenhängen“ (141) und dass unter diesen „Klassenverhältnisse und –formationen, geschlechtsspezifische und ethnisch bestimmte Strukturen sowie bestimmte Altersgruppen, die in Formen der Abhängigkeit und Unterdrückung leben“ (141f.), von besonderer Bedeutung seien. Auch die Erkenntnis, dass „Kultur Machtstrukturen einschließt und ... zur Produktion asymetrischer Verhältnisse beiträgt“ (142), sei diesen Einflüssen geschuldet.

Johnson geht von den Leitbegriffen Bewusstsein und Subjektivität aus und definiert Cultural Studies als die subjektive Seite der gesellschaftlichen Verhältnisse. Bewusstsein versteht Johnson nach Marx als Selbstbewusstsein und aktive und moralische Selbsterzeugung. Subjektivität beleuchte das, was der Kategorie Bewusstsein fehlt, das, was uns bewegt, ohne uns bewusst zu werden. Sie verweise „auf Elemente, die ... den Bereichen des Ästhetischen oder Emotionalen und damit konventionell als >weiblich< geltenden Kodes zugeschrieben werden.“(145). Sie verbinde sich mit „der wichtigsten aller strukturalistischen Einsichten, die besagt, dass Subjektivitäten produzierte, nicht einfach gegebene Wesenheiten und insofern Forschungsobjekte, nicht aber Ausgangspunkte oder Prämissen der Forschung darstellen“ (ebda.)

Johnson hebt auch die Bedeutung des marxistischen Verständnisses der Formen hervor, mittels derer die Menschen ihr materielles Leben produzieren und reproduzieren, und den Beitrag der Strukturalisten, die den Strukturcharakter dieser Formen untersuchten, in denen wir uns auf der subjektiven Ebene bewegen, d.h. der Sprache, Zeichen, Ideologien. Er konstatiert jedoch bedauernd, dass die Trennung des meist auf soziologischen, anthropologischen oder sozialgeschichtlichen Forschungen basierenden kulturalistischen Zweiges der Cultural Studies von ihrer auf literaturwissenschaftlich-linguistische Disziplinen orientierten eher strukturalistichen Seite „ein echtes Hindernis für die Weiterentwicklung der Cultural Studies“ darstellen. Es handle sich dabei um „eine große theoretische und methodologische Teilungslinie“ zwischen jenen, die „>Kulturen< als ganze Erscheinungen und in situ, vor Ort, in ihren materiellen Zusammenhängen“(153) untersuchen wollen und denjenigen, die „die relative Eigenständigkeit oder die tatsächliche Autonomie subjektiver Zeichensysteme betonen“ (ebda.), wobei diese nicht selten zu einer „abstrakten, bisweilen ganz formalistischen Behandlung von Formen“ (153f.) gelangen. Letztendlich seien die Cultural Studies aber Bestandteil des Kreislaufs, den sie beschreiben und so können sie „die Beziehungen zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen kontrollieren oder kritisieren. Sie können in die Überwachung untergeordneter Gruppen einbezogen oder in Kämpfe um eine angemessenere Darstellung dieser Gruppen verwickelt werden. Sie können Teil des Problems oder Teil seiner Lösung werden“ (158). Daher müsse „nicht nur nach Objekten, Theorien und Methoden, sondern auch nach den politischen Grenzen und Potenzialen unterschiedlicher Standpunkte in dem Kreislauf gefragt werden“ (158f.).

Auch die marxistische, von Gramsci ausgearbeitete produktionstheoretische Sichtweise habe ihre Grenzen vor allem insofern, als dieser, obwohl er erstmals „die Kultur der unteren Klassen zum Gegenstand theoretischer Forschung und politischer Praxis machte“ (160), den spezifisch kulturellen Aspekt der Produktion von Kultur vernachlässigt habe. Gramscis produktivistischer Ansatz leite die Eigenart kultureller Produkte und ihre Verwendungsweise ausschließlich aus den Produktionsbedingungen ab und analysiere nicht „die kulturelle Produktion subjektiver Formen, sondern bestenfalls die >objektiven< Bedingungen und Arbeitsweisen einiger gesellschaftlicher Bereiche “(161). So würde es zu dem Reduktionismus kommen, der aus der Herkunft der Ideen „bürgerliche Literatur“, „bürgerliche Wissenschaft“ „proletarischer“ Literatur und Wissenschaft gegenüberstelle. Bei dieser Kritik bleibt Johnson aber nicht stehen. Ihm geht es um den ganzheitlichen Charakter der Produktion und Aneignung von Texten als wichtigen Teil des kulturellen Prozesses. „Der ... Übergang vom >Leser im Text< zum >Leser in der Gesellschaft< ist in Wirklichkeit der Sprung vom abstraktesten Moment .... zum konkretesten Gegenstand“ (175).

In textkritischer Auseinandersetzung mit kulturellen Produkten betont Johnson, dass der Text für die Kulturforschung nur Mittel zum Zweck sei, denn „das eigentliche Objekt der Cultural Studies ist ... nicht der Text, sondern das gesellschaftliche Leben subjektiver Formen in jedem Augenblick ihrer Zirkulation, zu der auch ihre Verkörperung als Text gehört“ (168f.).

In diesem Zusammenhang geht er auf strukturalistische Verkürzungen ein, die er als negativen Formalismus bezeichnet. Solche Ansätze gehen nicht über den Bereich der Textanalyse hinaus bzw. ordnen andere Momente der Textanalyse unter. Sie übergehen „Fragen der Produktion kultureller Formen oder der gesellschaftlichen Organisation oder reduzieren sie auf die ‚Produktivität’ ... bereits existierender Zeichensysteme ... [sie klammern] Fragen nach dem Subjekt der Lektüre von Texten aus ... oder [ordnen sie] der Textanalyse unter ...Was den Ansätzen ... fehlt, ist eine angemessene post- ... strukturalistische Theorie der Subjektivität ... eine Theorie ... der Entstehung subjektiver Formen und der diversen Maßnahmen, mit denen Menschen diese Entstehung behindern“ (170f.) Wegen dieses Defizits bleibt bisher unanalysiert, „wie es um ... die subjektiven Aspekte des Kampfes ... bestellt ist. Wo bleibt der Augenblick im Strom des Subjektiven, da gesellschaftliche Subjekte ... sich selbst als politisch bewusste Handelnde konstituieren?“(177). Diese für die menschliche Emanzipation so entscheidende und bis heute ungeklärte Frage in den Blickpunkt gerückt zu haben, ist ein besonderes Verdienst der Cultural Studies im allgemeinen und Johnsons im besonderen.

Die folgenden Teile IV, Studien zur Populärkultur und V, Medien- und Publikumsforschung erbringen den Nachweis, wie fruchtbar sich der demokratisch-interventionistische, methodisch kulturalistische und strukturalistische Ansatz der Cultural Studies für eine den aktuellen globalen Problemen zugewandte gesellschaftswissenschaftliche Forschung bis heute erwiesen hat.


Dem 1951 geborenen Musiksoziologen Simon Frith, Professor an der Strathclyde University, Forschungsdirektor am John Logie Baird Centre und Direktor eines Forschungsprogramms zu Medienökonomie und –kultur, geht es um eine Definition der Populärkultur und ihre Abgrenzung gegen den Populismus. Anders als die Frankfurter Schule, die Populärkultur negativ bewertete, suchten liberale amerikanische Soziologen und britische Repräsentanten der Cultural Studies „Formen des Massenkonsums, ... die nicht >passiv< sind und Konsumenten ... , die sich nicht verdummen lassen ... Bestimmte soziale Gruppen wurden mit dem identifiziert, was wir als >positiven Massenkonsum< bezeichnen können. Der Wert kultureller Güter bemaß sich nach dem Wert der Gruppe, die sie konsumiert – der Jugend, der Arbeiterklasse, den Frauen und so fort.“ (194). Frith, der die Unterscheidung zwischen Hochkultur und niederer Kultur ablehnt, geht von drei kulturellen Diskursen aus, die kulturelle Werturteile determinieren, den Kunstdiskurs (Kunst als Mittel, über das Alltägliche hinauszugelangen); den volkskulturellen Diskurs als Mittel zur Orientierung innerhalb eines Raums, einer Jahreszeit, einer Gemeinschaft und den Popdiskurs, dessen Zweck das Vergnügen ist. Alle seien weder voneinander getrennte Kunstwelten noch verschiedene Klassenhaltungen, sondern sie wirken „über die verschiedenen kulturellen Praktiken hinweg aufeinander [ein] und [bringen] sich gegenseitig hervor“ (200). Der Konflikt zwischen Massenkultur und hoher Kunst sei „durch den kommerziellen Prozess selbst hervorgebracht und durchzieht alle kulturellen Äußerungen“ (206).

In seinem Beitrag „Zur Verortung der Populärkultur“ setzt sich der US-amerikanische Kommunikationswissenschaftler Lawrence Grossberg (*1947), der am CCCS ein Postgraduate Studium absolvierte, mit Definitionen der Populärkultur auseinander. Für ihn sind die „Grenzen des Populären ... fließend. ... Kultur ist niemals eine starre Ansammlung von Gegenständen, und die Bedeutung >des Populären< ... ist seit jeher Ort eines nicht endenden Kampfes. ... Im >Populären< vermischen sich unterschiedliche Bedeutungen und politische Werte, die dominant, subordiniert oder oppositionell sein können ... Da die populäre Erfahrung und Identität auf der Grundlage dieser kulturellen Diversität konstruiert werden, kommt ihr ... eine wichtige ideologische Funktion zu. ... Jede kulturelle Praxis ist eine Mischform, findet innerhalb eines komplexen Terrains statt und wird durch zahlreiche und widersprüchliche Kräfte, Tendenzen und Positionen bestimmt (224). ... Populärkultur ist niemals bloß ideologisch. Sie stellt Orte der Entspannung, der Privatheit und des Vergnügens zur Verfügung und bietet Genuß, Wohlbefinden, Spaß, Leidenschaft und Gefühl“ (226f.)

Grossberg geht auf die große Bedeutung des Affektiven für „die Kämpfe der Leute um die Dinge, die ihnen am Herzen liegen, um ihre Kraft zum Überleben und um die Leidenschaft, ihre eigenen Projekte und Möglichkeiten entwickeln und umsetzen zu können“ (232) ein. Populärkultur ist der wichtigste Raum für die Artikulation von affektiven Beziehungen und für die Konstruktion der eigenen Identität für die große Mehrheit der Menschen in den entwickelten kapitalistischen Ländern. Indem Populärkultur ihre KonsumentInnen affektiv ermächtigt, stelle sie gleichzeitig „Resourcen zur Verfügung, die mobilisiert und in populäre Kampf-, Widerstands- und Oppositionsformen verwandelt werden könne“ (235).

John Fiske, *1939, seit 1988 Professor am Department of Communication Arts an der Universität Wisconsin in Madison und „derzeit umstrittenste[r] Vertreter der Cultural Studies“ (237), widmet sich im letzten Beitrag des Teils IV dem Thema „Politik. Die Linke und der Populismus“, also das politische Potential der Populärkultur. Auf Laclau gestützt erklärt Fiske, sie trage nicht nur zur Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Unterschiede bei, sondern bewahre auch die oppositionelle Haltung der populistisch-radikalen Bewegungen. Sie sorge dafür, dass die Beherrschten sich dessen bewusst bleiben. Dabei sei sie progressiv, aber nicht revolutionär. Radikale Kunst und radikale Populärkunst sei, erklärt er pauschalisierend, d.h. ohne Berücksichtigung von Zeit und sozialer Zugehörigkeit der betreffenden KunstkonsumentInnen, für das Alltagsleben der Menschen bedeutungslos. Daher müsse die Linke den Beziehungen zwischen progressiven und radikalen Ansätzen mehr Aufmerksamkeit widmen und herausfinden, wie die Widerstandstaktiken des Alltags mit einer Politik strategischen Handelns verbunden werden könnten. Dieses progressive Potential der Populärkultur ermöglicht den Beherrschten, „den Disziplinar- und Kontrollmechanismen des Machtblocks zu entgehen oder zu widerstehen“ und sich Räume zu eröffnen, „in denen progressive Kräfte arbeiten können“ (242f.). Zutreffend verweist er darauf, dass „[d]ie politische Wirksamkeit einer populären Form ... eher in den Bedingungen ihrer Rezeption als in den Qualitäten des Textes“ (247) liegt. Wenn dieses politische Potential zur Wirkung kommen soll, muss „der Kampf, den es als möglichen Diskurs enthält, auf die Lebenswelt der Textrezipienten abbildbar sein“ (248), denn Widerstand sei eine Beziehung zwischen Kräften.

Fiske geht davon aus, dass die „unter der Herrschaft des weißen, patriarchalen Kapitalismus stehenden Menschen“ (249) nicht einfach Opfer ihrer Verhältnisse seien, sondern sich die Fähigkeit zum alltäglichen Widerstand bewahrt hätten. Foucault folgend, betont der Autor, „dass Machtverhältnisse durch Klassenverhältnisse allein nicht angemessen erklärt werden können. Macht ist diskursiv und muss in ihren spezifischen Praxiszusammenhängen ... begriffen werden“ (261) So stellen kulturelle und gesellschaftliche Praktiken „keine passive Rezeption vorgefertigter Bedeutungen [dar], sondern eine aktive Leistung, bei der Widersprüche zueinander in Beziehung gesetzt und zu Sinnelementen und sozialen Bündnissen verarbeitet werden müssen“ (263). Daraus schlussfolgert Fiske, „die Bewahrung der Phantasie als eines dem Zugriff der ideologischen Kolonisierung entzogenen Binnenraums sowie die Fähigkeit, sich selbst als jemanden zu entwerfen, der in anderen Situationen anders handelt, muss nicht umstandslos zum tatsächlichen Handeln auf der mikro- oder makropolitischen Ebene führen, bildet jedoch die Grundlage, ohne die ein solches Handeln unmöglich ist. Eine Bewegung, die gesellschaftliche Veränderungen herbeiführen möchte, muss auf der Fähigkeit der Menschen beruhen, von sich selbst und ihren sozialen Verhältnissen ein anderes Bild als das der herrschenden Ideologie zu entwerfen“ (274). Aus dieser Sicht verwirft Fiske zurecht die Beschränkung der Analyse auf den Vereinnahmungsprozess als politisch unfruchtbar und geht davon aus, dass die auch von der Populärkultur mit bestimmte „Mikropolitik, die in den Details des Alltagslebens den Widerstand aufrechterhält, ... für den Samen der Makropolitik, ohne den sie nicht erblühen kann, ein fruchtbarer Boden [bleibt]“ (277).
Im Teil V setzen sich drei AutorInnen speziell mit Medien- und Publikumsforschung auseinander.

Der 1949 geborene Soziologe David Morley, Professor für Kommunikationswissenschaft am Goldsmiths College an der Londoner University, stellt die Nutzung ethnographischer Methoden für die Erforschung des Medienpublikums vor. Er versteht Fernsehen „als eine komplexe und kontextualisierte häusliche Praxis“ (284). Auswahl der gesehenen Beiträge und Umgang mit ihnen werde durch die Konstitution und Anforderungen der jeweiligen Umgebung geprägt. Zu dieser Umgebung gehöre auch der/die beobachtende Forscher/in. Die Zuschauerschaft müsse daher erstens als soziales und kulturelles Phänomen betrachtet werden und zweitens müssen die Beziehung zwischen Zuschauer und Fernsehapparat als durch die Determinanten des Alltagsleben und durch das tägliche Verstricktsein der Zuschauer in all die anderen ihnen im Alltag begegnenden Kommunikationstechnologien vermittelt verstanden werden.

Die einzige Autorin im Buch, die Professorin für Cultural Studies und Direktorin des Research Centre in Intercommunical Studies an der Universität von Wstern Sydney in Australien, Ien Ang, hat sich mit ihren Untersuchungen zur Zuschauerforschung einen Namen gemacht. In ihrer Dissertation zur Dallas-Rezeption wandte sie erstmals außerhalb des CCCS die ethnographische Methode Morleys an.

Sie geht davon aus, dass „Rezeption nicht auf psychologische Prozesse reduziert werden darf, sondern als ein hochgradig politisierter kultureller Prozess verstanden werden muss.“(323) Sie finde auf einem komplexen und widersprüchlichen Terrain statt und ist als multi-dimensionaler Kontext zu verstehen, in dem Menschen ihren Alltag leben. Die ethnographische Methode habe die ideologiekritische Tradition der Cultural Studies insofern relativiert, als sie die soziale Produktion und Reproduktion von Sinn und Bedeutung nicht nur als eine Frage der Bedeutungen ansieht sondern auch von Macht. Daher stehe die Verbindung zwischen der Produktion von Bedeutungen und der Ausübung von Macht im Mittelpunkt der Untersuchungen. Der Forscher sei „nicht länger der kritische Außenseiter, der zur Verurteilung einer repressiven Welt der Massenkultur verpflichtet ist“ (325). Er sei vielmehr ein bewusster Fan, dessen politisches Engagement darin besteht, „ >die kulturelle Demokratie zu fördern<, indem er der Aufsässigkeit des Publikums seine Stimme leiht“ (ebda.). Es ginge darum, „die kaum wahrnehmbaren, unbewussten und widersprüchlichen Wirkungen des Hegemonialen innerhalb des Populären aufzuspüren, das der Textur von Rezeptionspraktiken eingeschrieben ist“ (329). Dazu müsse „das Ineinander Verwobensein von Verschiedenem und Homogenem“ (331) entwirrt werden, die wechselseitige Durchdringung von Hegemonialem und Populärem, von Globalem und Lokalem erkannt werden. So müsse auch die kulturelle Konstitution nationaler Identität in Verbindung mit globalen und transnationalen Zusammenhängen betrachtet werden, die zwar erstere erschüttern, aber dafür neue Bindungsmöglichkeiten eröffnen kann.

Anliegen des Philosophieprofessors an der Universität von Texas in Austin Douglas Kellner (*1943) ist die Wiederzusammenführung von Medien- und Kommunikationsforschung und Cultural Studies.

Er fordert eine kritische Sozialtheorie, die die Schwächen sowohl der Frankfurter Schule als auch der CCCS in Birmingham insofern überwinden, als sie nicht nur – wie bereits die Cultural Studies – die Trennung von Hoch- und niederer Kultur ignorieren, sondern auch die, besonders in den USA praktizierte Trennung von Textualität und Rezeption einerseits und Kommunikation andererseits. Die Privilegierung von Text und Rezipient vernachlässige „die Analyse der Produktion von Texten im Kontext der politischen Ökonomie und des kulturellen Systems, die Produktion des Publikums durch verschiedene soziale Institutionen, Praktiken, Ideologien, sowie die Verwendungsweisen unterschiedlicher Medien.“ (353). Andererseits habe auch die Ausrichtung auf das Publikum ein neues Dogma hervorgebracht: den Rezipienten als alleinigen Produzenten von Bedeutung, wodurch dem schrankenlosen Relativismus Tür und Tor geöffnet wird. Kritisch sieht der Vf. auch die Zelebrierung des Widerstandes in einigen Versionen der Cultural Studies. Es sei zu einer gewissen Verklärung von Publikumserfahrung gekommen, wobei manipulative und konservative Funktionen bestimmter massenmedialer Kulturtypen übersehen worden seien. Der Schwerpunkt der Cultural Studies auf Institutionen und Praktiken der Medien und auf das Verhältnis von Medien, Ideologie und Gesellschaftsform sei in den Hintergrund getreten. Kellners Vorschlag ist ein „multiperspektivischer Ansatz ... , der die drei zentralen Dimensionen der Medienkommunikations- und Kulturforschung miteinander verbindet: 1. Die Produktion und die politische Ökononie der Kommunikation und der Kultur; 2. Textanalyse und Textkritik und 3. Rezeptionsforschung und Analysen über die Nutzung der Medien und des kulturellen Angebots durch das Publikum.“ (356f.).

Cultural Studies sind Teil der emanzipativen Wissenschaftstradition aus Großbritannien, die zunächst Einfluss auf die übrigen englischsprachigen und dann auch darüber hinaus auf andere Teile der Welt erlangte. Liberale, reformsozialistische und besonders marxistische Einflüsse prägten die Beiträge der Gründungsväter und vieler der späteren RepräsentantInnen der Cultural Studies. Die im vorliegenden Werk vorgestellten Beiträge machen deutlich, dass die besondere Leistung der Cultural Studies für die gesellschafttheoretische Forschung auf ihren ganzheitlichen Blick auf die Kultur „als [dem] gesellschaftliche[n] Leben subjektiver Formen in jedem Augenblick ihrer Zirkulation, zu der auch ihre Verkörperung als Text gehört“ (Johnson) zurückzuführen ist. Sie haben sich weiterentwickelt und überlebt, weil sie neuen Facetten ihrer Themen, neuen Standpunkten und Methoden gegenüber immer aufgeschlossen waren. Sie übernahmen sie nicht unkritisch, sondern integrierten sie in ihr progressives Grundkonzept und vermieden bzw. überwanden immer wieder dogmatische Ausschlusspraktiken und Einseitigkeiten. Ihr methodologisches Herangehen an ihre Gegenstände ist zwar im weltweiten akademischen Betrieb eher die Ausnahme als die Regel, aber ungeachtet dieses minoritären Status finden sich in jeder Wissenschaftlergeneration in vielen Teilen der Welt immer wieder Männer und Frauen, die die verschiedenen interdisziplinären und stets praxisorientierten gesellschaftswissenschaftlichen Ansätze aufgreifen und weiter entwickeln.


1 Dass ein in der Erwachsenenbildung tätiger Wissenschaftler, der an einer red brick Universität studiert hatte, wegen des Erfolges seiner Schrift „The Uses of Literacy“ zum Professor berufen wurde, zeigt, wie stark die demokratischen Einflüsse, die ihre Wurzeln im Sieg über den Faschismus hatten, in England immer noch, selbst unter einer konservativen Regierung, waren.

2 H. Gustav Klaus: Mary Ashraf. Englische Arbeiterliteratur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, Berlin (Ost) 1980 in Kürbiskern München 1/81.

© Hanna Behrend, Berlin 2001










 

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