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Beiträge zur Politik  









Willi Gettél

Dem Ethos kommt die Arbeit abhanden

Es war noch zu Zeiten Ceausescus, als ein extrem harter Winter bei gleichzeitiger Brennstoffverknappung Rumänien heimsuchte. Als sich die Wohnungs- den Außentemperaturen anglichen und immer noch keine Besserung der Lage in Sicht war, kam die findige Regierung auf den Trichter, den täglichen Wetterbericht zu schönen. Minus- wurden in Plusgrade verwandelt, so daß viele Rumänen die Funktionstüchtigkeit ihrer Sinnesorgane anzweifelten.

In Lübeck wurde der Vorwurf der Brandstiftung gegen einen Libanesen nicht durch tragende Verdachtsmomente begründet, sondern ganz simpel durch seine Einlieferung in den Knast. Der Chefredakteur des "Neuen Deutschland", Reiner Oschmann, war von der Inhaftierung des jungen Ausländers so beeindruckt, daß er sich derzeit in seiner Zeitung über "voreilige Demonstrationen gegen rechte Gewalttäter" aufregte. Ähnlich verhielt es sich mit einer älteren Dame, die sich anläßlich der Auseinandersetzungen 1990 in der Mainzer Straße über "linke Krawallbrüder" erregte. Gefragt, was sie denn von ihrem Balkon in der Grünberger Straße gesehen habe, zeigte sie sich keineswegs verlegen. Sie habe gesehen, wie eine Gruppe junger Steinewerfer von der Polizei in der Kadiner Straße festgenommen wurde... Ja, ob sie denn auch die jungen Leute beim Steinewerfen gesehen habe, wurde sie nochmals gefragt. "Das war doch klar", antwortete die Dame, "sonst hätte die Polizei sie ja nicht festgenommen." Regierungen, die auf solche Geisteshaltungen ihrer Untertanen vertrauen können, sehen sich natürlich immer wieder ermuntert, das Verhältnis von Ursache und Wirkung durcheinanderzubringen, geraten sie in Erklärungsnot. 350 000 Demonstranten waren am 15. Juni nach Bonn geströmt, um gegen den Sozialabbau zu protestieren. Kohl ließ die gewerkschaftliche Leistungsschau kalt. "Dadurch entstehen keine neuen Arbeitsplätze", kommentierte er knapp den Aufmarsch. "Arbeitsplätze entstehen nur durch Lohnkürzungen und Einsparungen", setzte er seine magische Formel dagegen, mit der er Gewerkschaftsfritzen bisher noch immer an die Leine zu nehmen wußte.

Empörung oder Spott sind bislang ausgeblieben. Unangefochten und in voller Gewißheit seiner durchschlagenden Wirkung ziehen Regierung und Unternehmerverbände immer wieder ihren Joker, gegen den in diesem Land offensichtlich kein Kraut gewachsen ist. Schließlich muß von der kapitalistischen Realität abgelenkt werden. Was läge da näher, als die Massenarbeitslosigkeit den Massen anzulasten, solange darauf vertraut werden kann, daß sie sich nicht anders verhalten als der Mann vom "Neuen Deutschland" oder die Frau aus der Grünberger Straße.

In Deutschland rauscht eine faszinierende Staatsoper über die Bühne. Aufgeführt wird "Die Auferstehung des Arbeitsethos".Im Rampenlicht steht riesenhaft der ideelle Gesamtarbeiter Kohl. Beflissene Reformisten und Etatisten häufen Berge von Vorschlägen zu seinen Füßen, während ein bayerischer Teufel mit zwei fetten schwarzen Raupen im Gesicht einen knorrigen Küppel auf ihren Buckeln tanzen läßt. Den szenischen Höhepunkt bildet die Hinrichtung eines Langzeitarbeitslosen, der wegen vergeblichen Suchens nach Arbeit sein Leben verwirkt hat. Zum Ausklang singt der gewerkschaftliche Chor der Gefangenen

"Arbeit für alle!".

Bete und arbeite!

Als die Arbeit anwuchs, wurde die Zeit zum Beten knapper. Nun geht sie zurück, so daß eigentlich wieder länger gebetet werden könnte. Möglicherweise ist deswegen im Juni der Papst aufgetaucht, um die Arbeitslosen nicht dem Satan zu überlassen.

"Sein Leben war Arbeit", steht auf dem einen Grabstein. "Ein arbeitsreiches Leben hat sich erfüllt", auf dem anderen. Besonders abwechslungsreich sind die Texte auf den Ruhmestafeln der Proletenfriedhöfe naturgemäß nicht. Sie künden nicht von hervorragenden Taten, außerordentlichen Verdiensten, begnadeter Schaffenskraft. Sie künden von der Lohnarbeit, als wäre sie tatsächlich ihre Erfüllung gewesen, obwohl eher anzunehmen ist, daß sie ihnen ein tristes Dasein bescherte. Doch nicht nur aus dem Reich der Toten wird den Nachfahren Trost gespendet. "Arbeit adelt", wurde Generationen deutscher Arbeiterkinder mit auf den Lebensweg gegeben. "Arbeit macht frei", wählten die Nazis ausgerechnet für ihre Konzentrationslager. Und immer wieder sangen Arbeiter Arbeiterlieder; immer wieder verlangten Arbeiterparteien Arbeit. Unvergessen die versunkenen Paradiese der Arbeiter und Bauern, in denen Helden der Arbeit strahlten und ein Adelsprädikat nichts gegen einen proletarischen Ahnenpaß war.

Heroen der Schweinemast betörten selbst die jungen Herzen der nachwachsenden Nomenklatura, so daß sich die piekfeinen Sprößlinge in dampfenden Ställen als Melker und Viehzüchter verdingten, um ihres Glanzes teilhaftig zu werden. Die allgegenwärtigen Götzen der Arbeit in Bronze und Stein wachten in stummem Grimm über den scheinheiligen Eifer. Doch ursprünglich war es der aufstrebende Kapitalismus, der des Arbeitsethos bedurfte, in dem es seine politische und ökonomische Funktionalität erfüllte. Von zyklischen Krisen abgesehen, stieg die Nachfrage nach lebendiger Arbeit ständig an. Mit dem Übergang von der extensiven zur intensiven Produktion ging sie erst langsam, dann aber immer schneller zurück. Neben der zyklischen entstand die strukturelle Krise. Das Arbeitsethos diente als Antriebsmittel und existierte auf konkreter Grundlage. Unter den Akkumulationsbedingungen der intensiven Produktion aber zerfällt dieses Verhältnis realer Verankerung. Dem Ethos kommt die lebendige Arbeit abhanden. Sein ökonomischer Bedeutungsverlust wird aber politisch nicht adäquat beantwortet, sondern das Gegenteil geschieht: Der real schwindenden Nachfrage nach lebendiger Arbeit wird ein fiktiver Schein ihres Weiterbestehens entgegengesetzt. Dies geschieht aus politischer Zweckmäßigkeit. Es gilt zu verhüllen, daß die durch immer weitere Rationalisierung steigende Produktivität immer größere Teile der Bevölkerung überflüssig macht. Um diesen Prozeß beherrschbar zu machen, wird die Täuschung als Mittel der Politik institutionalisiert.

Die staatlichen Organe sind daher angewiesen, unter Mißachtung ökonomischer Ursachen den Anschein zu wahren und die Betroffenen unter Verdacht zu setzen oder wie Schuldige zu behandeln. Unter diesem Trugbild vollzieht sich eine tiefe Spaltung der Gesellschaft.

Aus diesem Grunde belehren und schikanieren willfährige Bürokraten Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger. Lebenserfahrene Menschen müssen sich idiotische Vorträge anhören. Zunehmend werden sie in Straßenfegerkleidung, mit Mistgabeln und Dreckspießen armiert, auf Kippen, Büchsen und ekelhafte Abfälle angesetzt. Doch diese Tortur nicht etwa für angemessene Löhne, sondern für Gefängnistarife - als wären sie Sträflinge und müßten das Verbrechen ihrer Arbeitslosigkeit abbüßen. Diese Behandlung verursacht ein Gefühl des persönlichen Versagens und der eigenen Schuld. Politische, ökonomische und gesellschaftliche Zusammenhänge geraten in den Hintergrund. Es entsteht das bezweckte Bewußtsein eines "Einzelschicksals", das dann von der Bürokratie reduziert und kleingearbeitet wird. Nach einer bestimmten Zeit ist der Prozeß der Demoralisierung so weit gediehen, daß die meisten Betroffenen die Zerstörung ihrer Persönlichkeit widerstandslos über sich ergehen lassen.

Solidarität üben sie weder untereinander noch finden sie sie anderswo. Ehern und wie in das gesellschaftliche Bewußtsein gehämmert heißt es wie eh und je: "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!" Dieser selbst durch frommes Gebet bisher noch nicht überwundene archaische Anteil des Arbeitsethos fragt nicht nach objektiven Ursachen. Daher trifft diese Philosophie der Schlangengrube auch Kinder, Alte, Flüchtlinge und Kranke.

Die trübsinnigen Inschriften auf den schlichten Gedenksteinen verblichener Proleten lassen in markanten Zügen hervortreten, daß Arbeit tatsächlich ihr Leben war. Verloren sie sie, waren sie nichts mehr. Verfemt, verachtet, als "unnütze Mitesser" haßerfüllt umlauert, dämmerten sie in Dumpfheit und Alkoholismus dahin. Wer seine Kinder durchbringen konnte und genug für die eigene Beerdigung gespart hatte, galt in seiner Welt als angesehen. Später, im westdeutschen Wirtschaftswunder, als der Fliesenleger im Opel Rekord ankam und strotzend vor Wichtigkeit breitbeinig über die Baustelle marschierte, wurden Arbeitslose eher belächelt. In dieser Zeit erfuhr das Arbeitsethos seine Blüte und geriet zum Leistungsfetischismus. In dieser Akkumulationsphase setzte aber auch der langwierige Prozeß seines Sterbens ein.

Angesichts heutiger Produktivkraftentwicklung müßte der öffentliche Diskurs eigentlich über die innovative Verbindung von Freizeitgestaltung und kreativer Tätigkeit gehen. Es müßte erörtert werden, ob es nicht sinnvoller wäre, bei Wegfall erwerbsmäßigen Einkommens ein von Zwängen unabhängiges Einkommen zu garantieren und statt in unproduktive Zwangsarbeit in Bildung, Wissenschaft, Kultur und Kunst zu investieren. Dies dann aber nicht nur in Form von Elite-Universitäten.

Aber davon kann nicht die Rede sein. In gespenstischer Weise wird die existenziell notwendige Arbeit gefeiert, die in der Regel eine Plage ist und sich erst in verklärter Form zum Ethos erheben läßt. So wird die entfremdete Arbeit als sinnstiftender sittlicher Wert dargestellt, den der Gebeutelte zwar glaubensmäßig annimmmt, auf die in Aussicht gestellte Glückseligkeit jedoch zeit seines Daseins vergebens wartet. Nach Art der Kirche wird die Belohnung ins Jenseits verlegt, wie der als faul Gebrandmarkte geschmäht und verfolgt wird. Ausgenommen von dieser schablonenhaften Anwendung des Arbeitsethos sind immer schon Pfaffen, Adlige, Militärs und Politiker. Reiche sowieso. Kaum jemand findet etwas dabei, wenn diese Leute ihr Leben lang das tun, was ihnen Spaß macht. Selbst halbwegs erfolgreiche Kriminelle bleiben von ihm verschont. Sie verlören augenblicklich die ihnen insgeheim entgegengebrachte Wertschätzung, sähe man sie auf einem Bagger sitzen oder gar beim Herumwuchten von Mülltonnen. Wird jedoch ein Arbeitsloser beim Relaxen beobachtet, fällt nicht nur die Sozialinquisition über ihn her. Bekannte und Verwandte ereifern sich ob seines Müßiggangs. "Auf unsere Kosten, von unseren Steuern!" krähen sie ohne einen Funken Nachdenklichkeit. Trüge er sinnloserweise Wassereimer hin und her, ließe man ihn zufrieden.

Hat jemand seinen Job verloren, scheint es besser für ihn, sich heuchlerisch zu verhalten, um nicht der ständig geschürten Hysterie ausgesetzt zu sein. Er muß so tun, als wäre er selbst auf unterbezahlte, gemeine Dreckarbeit scharf. Der von Kohl immer wieder attackierte "Freizeitpark Deutschland" läßt sich unter kapitalistischen Bedingungen jedoch beim besten Willen nicht mehr in einen Vollbeschäftigungspark zurückverwandeln. Die Initiativen der christlichen Regierung zur Militarisierung der Arbeitslosigkeit lassen sich höchstens noch durch einen "Gebetspark Deutschland" ergänzen.

Widerspruchsentwicklung und reformistische Politik

Die unter kapitalistischer Produktionsweise erfolgte Produktivkraftentwicklung verlief in Wechselbeziehung zwischen Basis und Überbau. In diesem dialektischen Prozeß gelangte der Kapitalismus einerseits zu seiner heutigen enormen Arbeitsproduktivität. Andererseits bedingt diese Arbeitsproduktivität von einem bestimmten Punkt an ein irreversibles, permanent zunehmendes Verschwinden von Arbeitsplätzen. Dieser Widerspruch ist krass hervorgetreten.

Das bürgerliche Arbeitsethos war trotz impliziten Herrschaftscharakters ein notwendiges, auf die Produktion zurückwirkendes Element des Überbaus. Dem indirekten, ökonomischen Arbeitszwang wurde es als ideelles Moment und kategorischer Imperativ, letztlich als außerökonomisches, subjektives Zwangsmittel zur Seite gestellt. Der bloße Verkauf der Ware Arbeitskraft zur Aufrechterhaltung der physischen Existenz hätte allein für sich nicht ausgereicht, die Arbeitsleistung qualitativ zu steigern. So bildete das Arbeitsethos auch die Voraussetzung zu höherer Ausbeutung.

"Die Liebe zur Arbeit", "die Treue zum Lohnherren" usw. erhielten den Rang hoher moralischer Werte, überboten nur noch von "Vaterlandsliebe", "Treue zum Kaiser" und "Ehrfurcht vor Gott". Wie dem Soldaten durch Fahneneid die Bereitschaft zum Sterben, wurde dem Arbeiter höchste Opferbereitschaft gegenüber seinem Ausbeuter abverlangt. Selbst im Krankenbett sollte ihm das Gewissen schlagen, ein undankbares "Faultier" zu sein. Vor diesem Hintergrund wird klar, daß dieses Ethos tief in die Volksseele gedrungen ist und sich zählebig in ihr behauptet. Die Trägheit des Bewußtseins hinkt bekanntlich den objektiven Veränderungen immer hinterher. Nur deswegen gelingt es, dieses Ethos in pervertierter Form zur Entstellung der Realität zu mobilisieren.

Die Realität besteht jedoch darin, daß die Zahl konkurrenzfähiger Arbeitsplätze kontinuierlich abnimmt. Wenn die Reformisten behaupten, es gebe Arbeit in Hülle und Fülle, haben sie nicht einmal unrecht. Sie verschweigen allerdings, daß Arbeit noch lange nicht produktive Arbeit bedeutet. Dies nämlich ist der kleine Haken, der sie mit der unliebsamen Systemfrage konfrontierte.

Daß die "Gewinne explodieren", heben sie zwar selber hervor. Doch sie gehen dabei nicht auf die Zuspitzung der Widersprüche ein, die sich dahinter verbirgt, sondern interpretieren diesen Umstand "als Entwicklungspotential des Kapitalismus". Die fortschreitende Rationalisierung, damit des immer größer werdenden Anteils des konstanten Kapitals in der organischen Zusammensetzung, bedeutet ja nicht, daß die Produktion von Mehrwert verschwindet. Der tendenzielle Fall der Profitrate treibt zu immer weiterer Akkumulation, bzw. zwingt zur permanenten Steigerung der Arbeitsproduktivität. Daß bei ständiger Senkung der Arbeitskosten die Gewinne explodieren, ist überhaupt nicht verwunderlich. Aber mit welchen Folgen?

Es ist nicht allein die gegenwärtig schwache Konjunkturlage. Der Abbau von Arbeitsplätzen liegt darin begründet, daß zunehmend nur noch intensive, also arbeitskrafteinsparende Investitionen vorgenommen werden. Darum beschränkt er sich nicht nur auf wirtschaftlich bedrohte Branchen, sondern schließt auch die mit ein, in denen Gewinne erzielt werden. Diese Gewinne wiederum werden nicht für neue Arbeitsplätze eingesetzt. Sie werden in immer produktivere Technologien investiert, wodurch der Abbau weiter vorangetrieben wird. Dieser neu aufgetretene Kapitalismus der intensiven Investition vernichtet unwiderruflich Arbeitsplätze auf zwei Wegen: durch Rationalisierung in immer schnellerer Folge und durch sie verursachte Pleiten in ebenfalls immer schnellerer Folge. Innerhalb der kapitalistischen Eigentumsordnung ist dieser Prozeß nicht mehr aufzuhalten. Alle effektiven wirtschaftlichen Unternehmungen treiben die Arbeitsplatzvernichtung voran.

Diese objektive ökonomische Entwicklung bildet das eigentliche Kontrastbild zu der reformistischen Forderung "Arbeit für alle!". Den Menschen die geliebte und nun verlorene Arbeit wiedergeben zu wollen, kann den Reformisten nicht vorgeworfen werden. Kritisiert werden muß aber, daß sie damit eine Illusion nähren und insofern den Konservativen und Neoliberalen entgegenarbeiten. Denn wenn die eine Seite eine "Halbierung der Arbeitslosigkeit bis zum Jahr 2000" verspricht und die andere aus der Logik ihrer Forderung heraus das für möglich hält, handelt es sich zumindest um eine unfreiwillige Zusammenarbeit.

Die Reformisten blenden dabei zugleich die Frage aus, was permanente Rationalisierung in einem globalisierten Markt bedeutet, der ja in Hinsicht zahlungsfähiger Nachfrage nicht unendlich erweiterbar ist. Das Resultat seines Engerwerdens ist ein immer brutalerer Verdrängungswettbewerb, der Firmen mit veralteten Technologien erbarmungslos vom Markt fegt. Auch dieser von ihnen oft bemühte Weltmarkt läßt nicht auf neue Arbeitsplätze hoffen.

Wie dem Arbeitsethos kommt auch dem Reformismus die reale Basis abhanden. Aber auch in dieser Hinsicht ist zu beobachten, daß er damit noch lange nicht aus den Köpfen verschwindet. Inzwischen sind es ja nun weniger die alten Hirten von der SPD oder die entpolitisierten Gewerkschaften. Es sind die "modernen Sozialisten" von der PDS, die staatliche Ausgaben für die Arbeitsbeschaffung fordern. Da sie bekanntlich nicht das Ziel verfolgen, das kapitalistische System abzuschaffen, geraten sie damit in eine Kette von Widersprüchen.

Abgesehen davon, daß der Staat hoch verschuldet ist, beraubten sie das deutsche Kapital seiner internationalen Konkurrenzfähigkeit. Denn gäbe der Staat dafür Geld aus, entfiele es als Subvention. Dem Kapital fehlte Geld für weitere Rationalisierung. Der Kapitalismus der intensiven Investition müßte eine Rolle rückwärts machen.

Der bürgerliche Staat ist nicht mehr in der Lage, massenhaft Arbeitsplätze zu schaffen. Er müßte gigantische Kredite aufnehmen und historisch rückwärts schreitend extensiv investieren, um nichts besseres als unproduktive Arbeit zu installieren. Aus ordnungspolitischen Gründen führt er ja schon längst solche Programme notgedrungen durch, aber er versucht sie aus Kostengründen auf Arbeitsdienstniveau zu halten.

Den "modernen Reformsozialisten" ist teilweise klargeworden, daß dem Staat für ihre Vorschläge die Mittel fehlen. Weil sie aber in der Tiefe ihrer Seele Etatisten geblieben sind, mußten sie am Ende ihres Lateins wieder auf das verfallen, was sie von der Pike auf gelernt haben: die Anwendung ausgleichender Gerechtigkeit durch den paternalistischen Staat. So wollen sie nun zwecks Geldbeschaffung ausgerechnet den Reichen und Allerreichsten schwere Abgaben und Steuern aufbrummen. Die guten Leute sollen nicht mehr wie bisher mit ihrem vielen Geld spekulieren oder intensiv investieren, sondern durch spürbare Aderlässe unproduktive, also nicht konkurrenzfähige Arbeit finanzieren.

Mit derlei Rezepten beweisen die Modernen aber nur, daß sie keine realistischen Reformkonzepte haben. Denn alles Geld, was der Staat gegenwärtig den Arbeitslosen und Lohnabhängigen abpreßt, spielt er den Banken und Konzernen zu, und zwar zu oben erwähnter Verwendung. Und weil sie die Revolution wie Erzvater Ebert "wie die Sünde hassen", wissen sie natürlich keine Antwort, wie sie ihre abstrusen Pläne in die Tat umsetzen können. Beängstigend dabei ist der immer stärkere Eindruck, die Etatisten versuchten nun, die aufgrund wirtschaftlicher Agonie gescheiterte Gesellschaftsstrategie der SED an einer stärkeren Ökonomie noch einmal auszuprobieren.

Da aber die Bourgeoisie bekanntlich lieber ihren Staatsapparat in Marsch setzt, als ihre Besitztümer ernsthaft ankratzen zu lassen, müßten sie sich mit weniger zufrieden geben. Der Schritt vom systemimmanenten Wohlfahrts- zum Ordnungsprogramm kann aber sehr klein sein, wie die Geschichte der SPD gezeigt hat. Und denkt man an die jüngsten Drohungen der sächsischen Wurstbuden-PDS samt ihrem völkischen Arms, läßt sich ausmalen, daß den Modernen bald auch nicht mehr einfallen könnte, als bei der Militarisierung der Gesellschaft behilflich zu sein.

Nachdem der historische Spielraum des Reformismus an seine Grenzen gestoßen ist, geraten seine Vertreter unter Legitimationsdruck. Ununterbrochen klauben sie alles auf, was das Kapital gerade wieder in Trümmern gelegt hat, um dann die Wiederherstellung zu fordern. Mit dieser Politik ist es der PDS bisher gelungen, ihre Anhängerschaft im Osten zu halten. Offen bleibt vorerst, wie lange ihr das noch gelingt.

Doch wenn sie dem kapitalistischen System in seiner jetzigen Verfassung mit ihrer Forderung nach Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit indirekt bescheinigt, es sei dazu fähig, ignoriert sie die tatsächliche Lage und verzichtet folgerichtig darauf, über sie aufzuklären. Sie begibt sich zugleich jeden emanzipatorischen Impulses, was sie der Fähigkeit beraubt, der zunehmenden Destruktivität ein alternatives Gesellschaftsmodell entgegenzusetzen. Sie zeigt sich so weder fähig noch willens, das bürgerliche Arbeitsethos kritisch zu hinterfragen, weil sie es selber für ihre Politik benötigt. Impfen die Herrschenden den Arbeitslosen aus politischem Kalkül ein schlechtes Gewissen ein, nährt die PDS ihre Illusionen. Sie trägt so dazu bei, die Funktionalität einer institutionellen Absurdität aufrecht zu erhalten, indem sie sie nicht antastet.

Keine Veränderung ohne Aufklärung

Marx und Engels waren keine Propheten, sondern Analytiker. Es ist eine Binse, festzustellen, daß die beiden schon lange tot sind. Marxisten, die sich seitdem immer bemüht haben, es in ihrem Sinne zu sein, haben sich auch kritisch gegenüber ihrer kritischen Theorie verhalten. Die Marxsche Kapitalanalyse wäre heute bedeutungslos, böte sie keine Hilfe, die eingetretene Entwicklung des Kapitalismus zu erklären. Sie ist aktuell geblieben, weil sie damals seine heute immer noch wirkenden Gesetzmäßigkeiten erfaßte. Die nach ihrem Tode aufgetretenen Erscheinungsformen konnten sie natürlich nicht hellseherisch voraussagen. Sie wagten aber auf analytischer Grundlage Hypothesen, was wissenschaftlich legitim ist.

Jürgen Kuczynki sagte kürzlich in einem Interview mit Jürgen Elsässer in der linken Zeitschrift "Kalaschnikow" zu dem Thema "Kapitalismus und Barbarei":

"Das, was heute vor sich geht, hat Marx in Band 3 des Kapitals vorausgesehen, als er meinte, die Produktivität in der Wirtschaft würde soweit steigen, daß ein immer größerer Teil der Bevölkerung überflüssig wird."

Marx hat seinerzeit auch ausdrücklich darauf hingewiesen, daß Sozialismus nur im Weltmaßstab durchsetzbar sei und jeder lokaler Sozialismus durch die Ausdehnung des Weltmarktes aufgehoben werde. Der elende Abtritt des "Realsozialismus" samt seiner Nomenklatura hat das bestätigt.

Nicht nur bürgerliche Ideologen, ein großer Teil der Linken spricht der marxistischen Theorie die Wissenschaftlichkeit ab und erklärt sie zu einer dogmatischen Heilslehre. Doch welche Theorie meinen sie? Es gibt keine Theorie, die frei von Irrtümern ist. Kein rigoroser Linksmoralist käme auf die Idee - sofern er nicht verrückt ist -, irgendeine andere mit Irrtümern behaftete wissentschaftliche Erkenntnis des 19. Jahrhunderts anzuzweifeln, hat sie sich in ihrem wesentlichen Bestand als richtig erwiesen. Reformisten, Etatisten oder besser: reformistische Etatisten geben vor, die Lage der Benachteiligten verbessern zu wollen, man müsse sie nur wählen. Was aber soll man von diesen Leuten halten, wenn sie alles in den Wind schlagen, was geeignet ist, ein klares Bild der Situation zu entwerfen?

Gäbe die herrschende Klasse beispielsweise zu, daß die Arbeitslosigkeit irreversibel anwächst und daß demokratische Errungenschaften Stück für Stück verschwinden werden, könnte sie mit ihrem Parlamentarismus auf der Stelle einpacken. So aber versucht sie, die Bevölkerung einzulullen und die Demontage der bürgerlichen Demokratie parlamentarisch zu kaschieren, weil sie sich einen abrupten Abbruch nicht leisten kann. Dem gegenüber die Systemfrage zu stellen, gilt heute innerhalb der sogenannten Linken als verpönt, obwohl sie sich in der Realität längst gestellt hat.

Wenn aber das kapitalistische System gesetzmäßig immer neue Millionen Menschen in Armut und Elend treibt und nichts anderes mehr zu erwarten ist als weitere Verschlimmerungen, muß doch endlich in aller Deutlichkeit gefragt werden, ob die erdrückende Mehrheit der Erdbevölkreung weiter gut beraten ist, sich das bieten zu lassen. An diesem Punkt scheiden sich die Geister. Und wenn die PDS als Nachhut des Reformismus statt aufzuklären den realen Zustand des Kapitalismus verschleiert, ist in letzter Konsequenz alles unglaubwürdig, was sie ihren Wählern verspricht. Doch ist es müßig, auf die PDS zu warten. Die marxistische Linke muß sich dieser Aufgabe stellen.

Es ist ein weiterer Trugschluß anzunehmen, den Reformisten gelänge die Modernisierung des Kapitalismus. Die bittere Wahrheit ist, daß weder SPD noch PDS Modernisierungsparteien sind. Modern im Sinne des Systems sind allein die originären Parteien des Kapitals. Die etatistischen Strategieansätze der PDS sind objektiv reaktionär, und zwar nicht nur einer sozialistischen Perspektive, sondern traurigerweise auch dem modernen Kapitalismus gegenüber.

Sozialistische Politik kommt ohne Aufklärung nicht aus. Täuscht sie die Massen, verändert sie nichts, womit sie dann allerdings auch keine sozialistische Politik mehr ist. Dazu gehört auch, den Arbeitsbegriff in ein richtiges Verhältnis zu der realen wirtschaftlichen Entwicklung zu bringen. Wenn die Herrschenden versuchen, die objektiven Ursachen zunehmender Arbeitslosigkeit zu vernebeln, indem sie daraus ein schuldhaftes Verhalten der Betroffenen konstruieren, ist Aufklärung zwingend geboten. Sie ist überhaupt die Voraussetzung zu einer politischen Entscheidungsfähigkeit auf breiterer Basis. Erst wenn die Arbeitslosen und Lohnabhängigen aufhören, den amtlich verbreiteten Unsinn zu glauben, sind sie zu wirksamen politischen Aktionen fähig.

Die Verherrlichung der Arbeit impliziert die Verachtung der Nichtarbeit. Ohne diesen Doppelcharakter bliebe das bürgerliche Arbeitsethos als Herrschaftsmittel relativ wirkungslos. Im Resultat erzeugt dieser Doppelcharakter nicht nur die Verachtung des Arbeitslosen, sondern auch dessen Selbstverachtung. Aus diesem Grunde stimmt er ein in die Forderung nach Arbeit, die es objektiv nicht mehr gibt. Statt dessen jedoch Einkommen zu fordern, wagt er nicht, weil ihm dazu eben das Selbstbewußtsein fehlt.

Herrschaft, die sich immer weniger legitimieren kann und auf die Verdrehung von Tatsachen über das übliche herrschaftstechnische Maß hinaus angewiesen ist, ist in die historische Schieflage geraten. Die Gefahr, daß sie zu irregulären Mitteln greift, wächst in dem Maße, in dem ihre Legitimationskrise voranschreitet. Im Vordergrund gesellschaftlichen Strebens kann aber immer nur eine bessere Zukunft gegenüber der jeweiligen Gegenwart stehen. Natürlich ist sorgfältig zu analysieren. Doch wenn alles dafür spricht, daß ein Gesellschaftssystem keine zivilisatorische Perspektive mehr hat, muß im Sinne des historischen Fortschritts eine Alternative entwickelt werden.

Das bürgerliche Arbeitsethos wird auch bei einer sozialistischen Produktionsweise als Rudiment nicht gleich verschwinden. Wo aber die kooperative Produktion an die Stelle der konkurrierenden tritt und die Beseitigung entwicklungshemmender Eigentumsverhältnisse eine qualitativ höhere Arbeitsproduktivität ermöglicht, verliert es sein giftiges, die Menschen niederhaltendes Beiwerk. Ihm wird in einer sozialistischen Gesellschaft aufgrund kooperativer Strukturen und gesellschaftlichen Eigentums die Arbeit nicht abhanden kommen. Das ist nur möglich unter den Bedingungen eines gnadenlosen und immer sinnloser werdenden Konkurrenzkampfes. Ob Reformisten das je begreifen, sollte die marxistische Linke eigentlich nicht länger interessieren.


© Willi Gettél, Berlin 1996








 

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