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Beiträge zur Theorie |
Stefan GandlerKritische Anmerkungen zu den Begriffen Differenz und IdentitätVorbemerkungen
1. Die Begriffe Differenz und
Identität haben den gleichen historischen und logischen
Ursprung wie der Begriff der Gleichheit, mit dem sie polemisieren
(die Ideen der Aufklärung, die liberale Kultur, die bürgerliche
Gesellschaft und die kapitalistischen Produktionsverhältnisse).
Der bürgerliche Individualismus entwickelte
sich genau in dem Augenblick, da die realen Unterschiede zwischen
Regionen, Kulturen und so weiter aufgrund der überwältigenden
Vermassung aller gesellschaftlicher Verhältnisse und ihrer
Subjekte verloren gingen.
Die kapitalistische Produktionsweise basiert
notwendigerweise auf dem doppelten Spiel von Gleichheit
die im Wert oder Tauschwert und dem gesellschaftlichen Charakter
der Produktion und der Produzenten zum Ausdruck kommt - einerseits,
und Differenz die sich im Gebrauchswert und dem privaten Charakter
der Produktion und der Produzenten realisiert - andererseits.
Das heißt, der Doppelcharakter der Waren und seiner Produzenten
ist die Einheit von Gleichheit und Differenz oder, in anderen
Worten, die Einheit der Identität und der Nichtidentität,
was die Grundlage der gesamten bestehenden gesellschaftlichen
Ordnung ist.
2. Die selbsternannten "postmodernen"
Positionen, die auf der Differenz und der Identität
von jedem Einzelnen im Unterschied zur Identität des
Anderen bestehen, sind nichts anders als eine Variante
der Unfähigkeit der Moderne, sich selbst zu verstehen, das
heißt, den Doppelcharakter ihrer gesellschaftlichen Verhältnisse
als notwendigerweise ebenso gleiche wie ungleiche (differentielle)
zu begreifen. Es gibt im allgemeinen zwei Formen dieses Unverständnisses.
Einerseits fordert die klassische Position das Recht zur Gleichheit
oder Gleichheit vor dem Gesetz ein, aber in dieser Position
wird in naiver Weise vergessen, daß die Gleichheit auch
eine notwendige Grundlage der gegenwärtigen Ausbeutung und
Unterdrückung ist. Andererseits vergessen die "postmodernen"
Kritiker der Gleichheit, welche die Differenz feiern, daß
diese Differenz auch ein unentbehrlicher Teil des gegenwärtigen
repressiven und exploitativen Gesellschafts- und Wirtschaftssystems
ist.
Der interne Widerspruch oder der Doppelcharakter
der kapitalistischen Moderne können weder durch das Begraben
der Gleichheit noch durch das Verschmähen der Differenz,
sondern nur durch die kritische Analyse des dialektischen Verhältnisses,
das zwischen ihnen besteht, überwunden werden. Das heißt,
die Überwindung der Limitationen der herrschenden Moderne
gelingt nicht im angeblichen Auszug aus ihr (begleitet von der
ausufernden Benutzung der Vorsilbe "post"), sondern
es ist vielmehr von Nöten, innerhalb der existierenden Moderne
so tiefgehend wie möglich die falschen Grundlagen der aktuellen
kapitalistischen Moderne zu analysieren.
Der Mehrwert kann in den gegenwärtigen
ökonomischen Verhältnissen nur auf Grundlage des, gleichzeitig
realen wie fiktiven, Äquivalententauschs im Moment des Kaufs/Verkaufs
der grundlegenden Ware des Kapitalismus, d.i. die Arbeitskraft,
geschaffen werden. Dieser Tausch ist einerseits einer von Äquivalenten
in dem Sinne, daß dem Arbeiter - im allgemeinen -
der Wert der Ware, die er verkaufen muß, d.i. seine Arbeitskraft,
gezahlt wird. Gleichzeitig ist dieser Austausch keiner von Äquivalenten,
weil die Arbeitskraft eine Eigenschaft hat, die keine andere Ware,
mit der sie getauscht wird, aufweist: die Fähigkeit, Wert
zu schaffen.
Das komplizierte Spiel von Gleichheit und
Differenz ist auch das Geheimnis der gegenwärtigen
internationalen Verhältnisse , insbesondere zwischen den
Ländern der sogenannten ersten Welt einerseits und der Länder
der sogenannten dritten Welt andererseits. Die Gleichheit, die
in internationalen Verträgen wie NAFTA ihren Ort hat, garantiert
den freien Fluß von Waren und Werten. Währenddessen
garantiert die Differenz, z.B. bezüglich der Ausbildungsniveaus
und der technologischen Entwicklung, die sich in den unterschiedlichen
Lohnhöhen widerspiegelt, einen Ausbeutungsgrad, der in jedem
unterschiedlichen und einzigartigen Fall sein Maximum
erreicht und durch keinerlei irgendwie geartete Gleichheit,
z.B. im Arbeitsrecht, eingeschränkt wird. Die gesetzliche
Unterbindung des Aufbaus von binationalen (oder multinationalen)
Gewerkschaften ist das differentiale Gegenstücke zur
Gleichheit der Bedingungen für die Investoren der
NAFTA-Länder. Nur diese fein entwickelte Kombination
von Gleichheit und Differenz verwirklicht den ehernen
Traum gewisser sozialer Klassen: maximale Gewinne. Der
Begriff der Differenz schreckt sie nicht, sondern gefällt
ihnen sogar, so wie ihre bürgerlichen Vorgänger vor
zweihundert Jahren auch nicht die Gleichheit fürchteten,
sondern für sie als conditio sine qua non der kapitalistischen
Produktionsweise kämpften. Es konnte sogar gefragt werden,
ob der Begriff der Differenz nicht in einer bestimmten
Weise mit dem gegenwärtigen bürgerlichen Zynismus harmoniert,
der sich nicht mehr an die historische Versprechung des Glücks
für alle erinnern möchte; eine Versprechung, mit
der große Bevölkerungsteile für den revolutionär-bürgerlichen
Kampf mobilisiert werden konnten. Da diese Versprechungen im kollektiven
Gedächtnis vor allem mit dem Begriff der Gleichheit verbunden
sind, könnte das Verwerfen dieses Begriffs sowie das Einklagen
der Differenz, und sei es mit emanzipatorischen Absichten, aus
bürgerlicher Perspektive mit Genugtuung betrachtet werden.
3. Der Begriff der Differenz hat noch einen
weiteren Mangel. Im allgemeinen wird davon ausgegangen, daß
der Haß auf den Anderen, wie er sich zum Beispiel im Rassismus,
im Antisemitismus oder im Sexismus ausdrückt, ein
Haß auf das Unbekannte, das Fremde, das nicht Vertraute,
das heißt, auf das "Andere" im weitesten Sinne
des Wortes sei.
Diese Lesart tappt in die Falle, dem Rassisten,
Antisemiten oder Sexisten Glauben zu schenken. Doch die Wörter
und andere Äußerungsformen dieser Herkunft sind nicht
notwendigerweise zutreffend. Es existiert vielmehr die gebieterische
Notwendigkeit einer tiefgehenden Analyse der zentralen Gründe
für den Haß auf den sogenannten Anderen.
Wenn ein Rassist sagt, daß diejenigen
anderer Hautfarbe faul sind und nicht arbeiten wollen, um zu rechtfertigen,
daß jemand anderer Hautfarbe die schmutzige und schwere
Arbeit anstelle von ihm erledigt, ist dies dann tatsächlich
ein Haß auf das Andere? Wenn ein Antisemit sagt,
daß Juden nur an Geld denken, um zu rechtfertigen, daß
er mittels der "Arisierung" zu schnellem Reichtum kam,
haßt dann er Antisemit tatsächlich das Andere? Wenn
ein Sexist sagt, daß Frauen schwach und irrational sind,
als Rechtfertigung für die Tatsache, daß eine Frau
ihm das ganze Leben organisieren muß, weil er nicht fähig
ist, die einfachste alltägliche rationale Organisation in
seine Hände zu nehmen, haßt dann der Sexist tatsächlich
das Andere?
Unsere These, die wir von Horkheimer und Adorno
übernehmen, ist, daß der sogenannte Haß auf das
Andere (oder den Anderen / die Andere) eher ein Haß auf
das allzu Bekannte in einem selbst ist.(1)
Da es in der gegenwärtigen Gesellschaft
praktisch keinen Platz für Selbstkritik oder Selbstfreflexion
gibt, wird der Haß, den man auf diejenigen Teile von einem
selbst hat, die -zum Beispiel aufgrund bestimmter gesellschaftlicher
Normen - von einem selbst nicht akzeptiert werden, als Haß
auf den auserkorenen Anderen, der in der Wirklichkeit der
allzu Bekannte ist, projiziert. Was am Anderen gehaßt wird,
ist nicht das Unbekannte, sondern vielmehr das allzu Bekannte;
das was man, entsprechend der herrschenden Logik, in einem selbst
zu hassen hat, wird im Anderen gehaßt.
Ein herausstechendes historisches Beispiel
ist die Vernichtung der europäischen Juden, organisiert vom
nationalsozialistischen Deutschland. Es gibt wenige Kulturen in
Europa, die derartig eng miteinander verbunden und gegenseitig
beeinflußt sind, wie die deutsche (im allgemeinen) und die
jüdische. Die gesamte deutsche Kultur ist voller Einflüsse
der jüdischen Tradition und zudem sprechen oder sprachen
die Juden Osteuropas Jiddisch, eine Sprache, die eine ihrer stärksten
Wurzeln in der deutschen Sprache hat. Die deutsche Kultur (im
allgemeinen) von der jüdischen in Europa zu unterscheiden
ist schwierig (dies war so mindestens vor dem Nationalsozialismus,
das Nazis tat alles, um das vergessen zu machen.)
Es war nicht der Abstand zwischen den deutschen
Juden und den anderen Deutschen oder den Deutschen und den europäischen
Juden, der den am perfektesten realisierten Genozid der Geschichte
ermöglichte, sondern vielmehr die Nähe zwischen deutscher
und jüdischer Kultur. Die Deutschen, die sich für die
Norm hielten, haßten nicht die deutschen Juden und die weiteren
europäischen Juden, weil sie anders waren, sondern vielmehr,
weil sie zu ähnlich waren.
Wegen dieser Nähe waren die Juden diejenige
Gruppe, die (allein aufgrund ihrer puren Existenz) am meisten
die nationalsozialistische Doktrin der "reinen Rassen"
und der angeblichen "unüberwindbaren rassischen Unterschiede"
in Frage stellten. Zugleich erleichterte diese Nähe die vorher
erwähnte falsche Projektion. Diese sind zwei der Faktoren,
die als Erklärungshinweise darauf dienen könnten, warum
die europäischen Juden das Hauptziel der nationalsozialistischen
Vernichtungspolitik waren.
4. Die Anerkennung des Anderen besteht
somit, in letzter Instanz, in der Selbstanerkennung. Das heißt:
der Haß auf den Anderen kann nicht durch die Akzeptierung
der Differenz des Anderen im Vergleich zu einem selbst
verschwinden gemacht werden, sondern dies wird vielmehr durch
die Anerkennung der internen Widersprüche, die jeder hat,
und somit durch die Überwindung der Abhängigkeit von
den gesellschaftlichen Normen, die uns alle unterdrücken,
erreicht.
5. Der Begriff der Identität, der
heute in zentraler Art und Weise in Theorien verwendet wird, die
bestimmte repressive Züge der gegenwärtigen modernen
Gesellschaft (Rassismus, Sexismus ... ) kritisieren, impliziert
nicht so sehr die Möglichkeit, die eigenen inneren Differenzen
zu retten, sondern vielmehr ein Wiederaufleben der Negation dieser
internen Widersprüche. Die Identitäten, wie sie im allgemeinen
gedacht und versucht werden zu realisieren, neigen dazu, die internen
Widersprüchen, im persönlichen wie im gruppalen auszulöschen.
Ein starker Begriff der Identität führt daher nicht
zur Anerkennung des Anderen als andere Identität,
sondern vielmehr zur Unterdrückung der inneren Widersprüche,
und somit zum Wunsch, die eigenen unterdrückten Wünsche
auf den äußeren Anderen zu projizieren und damit
zum Haß auf den auserkorenen Repräsentanten
des internen Anderen, welches durch einen starken Begriff
der Identität verboten ist.
Der Mensch ist nur als Toter mit sich selbst
identisch. Solange er lebt, bewirken alle seine Erfahrungen, äußeren
Einflüsse, Phantasien und Träume, Erfüllungen und
Enttäuschungen, selbst der biologische Prozeß des Wachstums
der Kinder, der Entwicklung und des Altems, daß er in keinem
Moment mit dem vorhergegangenen identisch ist. Aber das Problem
liegt noch tiefer, sogar in ein und demselben Moment gibt es unleugbare
innere Widersprüche. Jemand kann beispielsweise im allgemeinen
heterosexuell orientiert sein und sich plötzlich seiner
homosexuelle Wünsche gewahr werden oder umgekehrt. Aber im
allgemeinen akzeptiert keine Gruppe ohne weiteres
diese Extravaganzen. Auch Minoritäten oder unterdrückte
soziale Gruppen, wie Homosexuelle, sind im allgemeinen nicht damit
einverstanden, wenn plötzlich einer von ihnen die Definition
seiner Gruppenidentität verläßt.
Aber gemeinhin erlaubt nicht einmal einer sich
selbst solche Identitätsbrüche. Obgleich alle
wissen, daß sie an einem Tag aufwachen können und sich
zum Beispiel wünschen, mit einer bestimmten Frau zu schlafen
und an einem anderen Tag stehen sie mit ganz anderen Wünschen
auf, zum Beispiel mit einem Mann Liebe zu machen, erlaubt sich
fast niemand den Luxus, jedem Morgens mit der zuvor mühevoll
etablierten Identität zu brechen. Fast jeden Morgen wachen
wir als jemand anderes auf, aber nur in sehr wenigen Fällen
akzeptieren wir dies im Augenblick des Öffnens unserer Augen.
Das Nichtvorhandensein einer konstanten Identität
wird in unserer Gesellschaft als Verrücktheit oder
zumindest als Mangel an Kohärenz betrachtet. Dieses entspricht
der Logik der sozialen Kontrolle, in der nicht definierbare Haltungen
oder Handlungen das am wenigsten Erlaubte sind. Ein Ehepaar kann
in den staatlichen Statistiken genauso leicht eingeordnet werden
wie ein homosexuelles Paar, aber eine Person, die sich nicht definiert
und immer weniger vorhersehbare Dinge macht, ist eine wirkliche
Bedrohung für das klinisch-soziologische Auge, das die
herrschenden Klassen benötigen, um zu wissen, was die da
unten machen.
Aber auch die Gesellschaft selbst verlangt
nach Kontrolle der fixen Identitäten. Wenn schon nicht
mehr von der Möglichkeit einer freien Gesellschaft geträumt
wird, so wird doch Gerechtigkeit zumindest in irgendeiner anderen
Weise verlangt. "Niemand soll weniger unterdrückt werden
als die Mehrheit", dies ist das neue Motto unserer Gesellschaft,
ein Motto, das eines seiner Manifestationen in der Zwangsidentität
hat.(2)
6. Die Überwindung des Rassismus, Antisemitismus
und Sexismus besteht nicht so sehr in der Anerkennung des (äußeren)
Anderen und dem Aufbau einer eigenen Identität, wie uns die
sogenannten postmodern Theoretiker glauben machen wollen. Sie
bedarf vielmehr einer Analyse des intimen Verhältnisses,
das die Begriffe Gleichheit, Differenz und Identität in unserer
Gesellschaft haben, und somit einer Analyse der Züge unserer
Gesellschaft, die zu einer erhöhten Aggressivität führen,
die in letzter Instanz keine Aggressivität gegen den Anderen,
sondern vielmehr eine selbstzerstörerische Tendenz ist, welche
notwendigerweise mit unserer irrationalen und destruktiven
gesellschaftlichen Ordnung einhergeht.
7. Der Verherrlichung der Differenz und
Identität, weit entfernt davon, sich jenseits (im
"post") der kapitalistischen Moderne zu befinden, macht
vielmehr objektiv den Begriffsnebel dichter und verhindert, die
internen Widersprüche der gegenwärtigen Gesellschaft
zu sehen. Sie recycelt noch einmal die absurde Phantasie, daß
die selbstzerstörerische Tendenz der bürgerlichen Gesellschaft
innerhalb deren Schranken aufgehoben werden könnte.
[Die Postmodernen sind für die Moderne,
was das Jesuiten für die katholische Kirche waren: sie sind
augenscheinlich radikal, aber auf der Ebene des Konzeptuellen
und Wesentlich lau. Sie retten das, was zu verschwinden hat, durch
ihre pseudo-radikale Kritik, welche die kompromißlose
Kritik, die das Fortbestehen der unterdrückerischen Realität
in Bedrängnis bringt, unwirksam macht. Dies kann in bestimmten
Fällen problemlos einhergehen mit dem subjektiven Willen,
die Unterdrückung des Menschen durch den Menschen zu überwinden,
was aber nichts an den in letzter Instanz negativen Auswirkungen
für die Emanzipation ändert.]
8. Die Debatte, ob die Gleichheit oder
die Differenz, die nationale oder "ethnische"
oder gar (warum nicht?) die individuelle Identität,
das Geheimnis einer weniger abstoßenden Gesellschaft,
als diejenige der wir angehören, ist, ist eine scholastische
Debatte, weil sie in Wirklichkeit nichts anders ist, als eine
Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen begrenzten Perspektiven
auf das gleiche Gesamtphänomen, die bürgerliche Gesellschaft,
die als notwendige Grundlage hat: Zwangsgleichheit, Zwangsdifferenz
und Zwangsidentität.
Das Individuum als einzigartiges, differentes
wird historisch ab demjenigen Augenblick überhöht,
da die Vermassung der Gesellschaft anfängt, die persönliche
Identität wird gerade dann gefeiert, wenn es sie immer weniger
gibt. Die Einsamkeit jedes, in Abgrenzung zu den anderen, unterschiedlichen
und mit sich selbst identischen Individuums ist die notwendige
Grundlage der Massengesellschaft, das heißt, die Zwangsgleichheit
basiert auf der Zwangsdifferenz.
Gleichzeitig erregt die sich verbreitende Massengesellschaft
den Wunsch und den gesellschaftlichen Zwang, in derartig zentralen
Aspekten anders zu werden, wie zum Beispiel die Marke des
benutzten Autos, das bevorzugte Fußballteam, das verwendete
Parfüm, die Lieblingsfernsehserie oder das gewählte
Hobby. Auf internationaler Ebene werden immer mehr die nationalen
Unterschiede besungen, während es offenkundig ist, daß
diese tatsächlich auf beschleunigte Art und Weise verschwinden.
Die Zwangsgleichheit provoziert die Zwangsdifferenz.
9. Die Lösung einer bestimmten Form der
Abwesenheit von Freiheit kann nicht eine andere Form der Abwesenheit
von Freiheit sein. Die Unterdrückung, die notwendigerweise
die Zwangsgleichheit beinhaltet, kann nicht durch die Zwangsdifferenz
überwunden werden. Der Mangel an Freiheit, den die erzwungenen
nationale Identität beinhaltet, hat sein Gegengift nicht
in der erzwungenen "ethnischen" Identität und nicht
einmal in der Individualidentität, die, trotz ihrer im Vergleich
zu den anderen Identitäten, größeren Nähe
zur Emanzipation, in der gegenwärtigen Gesellschaft nicht
ohne ein Element des Zwangs existieren kann.
Aber: in der bürgerlichen Gesellschaft
provoziert das Einklagen oder Vorstellen einer Freiheit -
selbst der begrenztesten und flüchtigsten notwendigerweise
den Verlust einer anderen Freiheit.
10. Die Freiheit wird nicht erreicht, indem
man sie aufgibt. Das klingt, als ob es eine Binsenweisheit sei,
ist es aber nicht. Freiheit wird nur erreicht, indem ihre heutige
prinzipielle Beschränkung überwunden wird, das ist die
bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft. Gleichheit, Differenz
und Identität können sich nur in einer freien
Gesellschaft frei entwickeln.
Das Geheimnis der Emanzipation der Indígenas,
Frauen, Homosexuellen, Lesben und aller von der Mehrheitsgesellschaft
als "Andere" Bezeichneter, ist die Emanzipation der
Gesellschaft als solcher. Alles sonst ist nichts andres als der
perverse Versuch, eine Unterdrückung mit einer neuen zu überwinden.
Davon ist menschliche Geschichte voll, und es hat keinen Sinn,
dies noch einmal zu wiederholen. Anmerkungen1 Siehe: Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. In: Horkheimer, Max: Gesammelte Schriften, Band 5: >Dialektik der Aufklärung< und Schriften 1940-1950. Hrsg. v. Alfred Schmidt und Gunzelin Schmidt Noerr. Frankfurt am Main, 1987: Fischer, 461 S., insb. das Kapitel: "Elemente des Antisemitismus", S. 197-238, hier: S. 211: "Was als Fremdes abstößt, ist nur allzu vertraut". (Horkheimer und Adorno beziehen sich hier auf Sigmund Freud, "Das Unheimliche", in: Sigmund Freud, Gesammelte Werke, Frankfurt am Main, 1968, Band XII, S, 254, 259 u.a.) 2 Siehe zum Problem der Identität auch: Bolívar Echeverría, La identidad evanescente, in: Bolívar Echeverría, Las Ilusiones de la Modemidad, México, D.F. UNAM / EL Equilibrista, 1995, S. 55-74. Echeverría macht in diesem Text, von der Theorie von Wilhelm von Humboldt ausgehend, den Vorschlag, "die Universalität des Menschen auf eine konkrete Weise zu begreifen" (s. 58), womit, in unserer Begrifflichkeit ausgedrückt, die Gleichheit und zugleich die Differenz gerettet werden könnten. (Im Original: "concebir la universalidad de lo humano de manera concreta", S. 58).
Der Autor lehrt an der Universidad Autonóma de Querétaro, México.
Publikation: Peripherer Marxismus. Kritische Theorie in México.
Erschienen im Argument-Verlag, Oktober 1999, Hamburg.
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GLASNOST, Berlin 1992 - 2019 |
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