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Beiträge zur Theorie  










Michael Czollek

Bedürfnisse, Interessen und Handlungen aus der Betrachtungsweise der "Kritischen Psychologie" - Thesen (1996)

Mit dem Entstehen der menschlichen Gesellschaft ist das einzelne Individuum nicht mehr unmittelbar für seine Lebenserhaltung verantwortlich. Die Lebenserhaltung wird gesellschaftlich vermittelt. Indem die Gesellschaft sich als Ganzes erhält, erhält sie Individuen im einzelnen. Der gesamtgesellschaftliche Zusammenhang stellt sich dem Individuum als System dar, in dem Lebensmittel und -bedingungen produziert werden. "Die Individuen sind immer und unter allen Umständen von sich ausgegangen, aber... da ihre Bedürfnisse, also ihre Natur und die Weise, sie zu befriedigen, sie aufeinander bezog, ... so mußten sie in Verhältnisse treten."(1) Was sich gesellschaftlich als Handlungsnotwendigkeit darstellt, trägt für das einzelne Individuum nicht von vornherein zwingenden Charakter: Innerhalb des Systems kann es grundsätzlich auch dann seine Existenz erhalten, wenn es sich nicht an der Erhaltung des Systems beteiligt. Die Notwendigkeit der Beteiligung am Lebensgewinnungsprozeß ergibt sich erst aus der gesellschaftlichen Organisation des Zusammenhangs zwischen individueller Existenzerhaltung und Teilhabe am gesellschaftlichen Erhaltungsprozess.(2) Je unmittelbarer Existenzerhaltung eines Individuums und seine Teilhabe am gesellschaftlichen Erhaltungsprozeß aneinander gekoppelt sind, desto zwingenderen Charakter nehmen gesellschaftliche Handlungsnotwendigkeiten dem Individuum gegenüber an. Das Verhältnis zwischen gesellschaftlicher und individueller Handlungsnotwendigkeit ist also abhängig von der jeweiligen ökonomischen Gesellschaftsformation, der Klassenzugehörigkeit des Individuums sowie seiner Stellung innerhalb der Arbeitsteilung und der gesellschaftlichen Machtstrukturen.

II

Entsprechend dem dargestellten Zusammenhang muß das Individuum zu seiner personalen Lebenssicherung von den gesellschaftlich gebotenen Handlungsmöglichkeiten Gebrauch machen. Da die Bedeutung eines Ereignisses vom Individuum nicht mehr unmittelbar auf die eigene Existenz und deren Erhaltung bezogen werden muß, hängt die Existenzsicherung des Individuums auch nicht mehr unmittelbar von der Bedeutungsumsetzung seiner Handlung - sie wirkt nun auf die Gesellschaft - ab. Der Einzelne hat somit immer die Möglichkeit "nicht oder anders zu handeln, und ist in diesem Sinne den Bedeutungen als bloßen Handlungsmöglichkeiten gegenüber >frei<. Auch wo das Individuum unter historisch bestimmten, klassenspezifischen Bedingungen gravierenden Einschränkungen, Zwängen etc. unterworfen ist, sind dies immer Einschränkungen, Unterdrückungen, Deformierungen von gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten."(3)

Unter den eingeschränktesten Bedingungen bestehen immer noch Handlungsalternativen. Totales Ausgeliefertsein an die Umstände ist identisch mit dem Ende der menschlichen Existenz. Die genannten Einschränkungen erhalten einen spezifisch menschlichen Charakter, indem sie Einschränkungen menschlicher Handlungsmöglichkeiten sind. "Wo unter historisch bestimmten Verhältnissen der andere als Subjekt geleugnet, instrumentalisiert, zum Objekt gemacht wird, ... , gewinnt die >Menschlichkeit< interpersonaler Beziehungen aus ihrer Spezifik den Charakter der >Unmenschlichkeit< (ein Tier kann man nicht >unmenschlich< behandeln)."(4)

III

Die entstandene Distanz zwischen der Bedeutung eines Ereignisses und der Existenz der Individuen ermöglicht ihnen, Beziehungen von Ereignissen untereinander als objektive Gesetzmäßigkeiten zu erkennen. "Freiheit besteht also in der, auf Erkenntnis der Naturnotwendigkeiten gegründeten Herrschaft über uns selbst und über die äußere Natur; sie ist damit notwendig ein Produkt der geschichtlichen Entwicklung."(5)

Das so entstandene Bewußtsein befähigt die Individuen, sich zu ihren Handlungsmöglichkeiten und deren Bedeutungen bewußt zu verhalten und den Zusammenhang zwischen ihren Existenz- und Entwicklungsumständen und dem gesellschaftlichen Prozeß zu erfassen.

Kollektive Bewußtseinsformen (Klassenbewußtsein) sind Ergebnis von Zusammenschlüssen von Individuen auf Grund gemeinsamer objektiver Interessenlage. Das Individuum erkennt dabei seine mit dem jeweils anderen Individuum geteilten Interessen. Solche Bewußtseinsformen sind keine selbständigen Wesenseinheiten, die unabhängig von individueller Bewußtheit oder Subjektivität existieren.(6)

IV

Mit der Herausbildung der gesellschaftlichen Natur des Menschen durch die neue Lebensgewinnungsform auf der Basis gesellschaftlicher Arbeit entwickelt sich die individuelle Umweltkontrolle zu einer gesellschaftlichen Verfügung über Arbeitsmittel bei der Schaffung von Lebensmitteln und -bedingungen.

Mit dem Eintritt in diese gesellschaftliche Vermittlung der Lebenserhaltung kann das Individuum die Verfügung über seine eigenen Lebensbedingungen (individuelle Umweltkontrolle) nur noch mittels der Teilhabe an der Verfügung über den gesellschaftlichen Prozeß realisieren (personale Handlungsfähigkeit). Diese Teilhabe ist Voraussetzung für die Handlungsfähigkeit des einzelnen Individuums.

Um diese Handlungsfähigkeit zu erweitern, verhalten sich die Individuen bewußt zueinander, gehen Verhältnisse ein. Gleichzeitig ist das "menschliche Wesen ... kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse"(7). Indem sich das Individuum verhält, handelt, wirkt es auf die Verhältnisse ein und verändert sie. Indem es die Verhältnisse ändert, ändert es sich selbst.

V

"Die in der gesellschaftlichen Natur des Menschen liegenden Bedürfnisse realisieren sich also hier in der Erweiterung der Handlungsfähigkeit, d.h. sie treten in Erscheinung als subjektive Erfahrung der Einschränkung von Handlungsfähigkeit, was gleichbedeutend ist mit der subjektiven Notwendigkeit der Überwindung dieser Einschränkungen."(8) Interessen sind nichts anderes als die Ausrichtung eines Individuums auf die Befriedigung seiner Bedürfnisse. Dementsprechend bildet Interesse an Handlungsfähigkeit die geistige Grundlage und allgemeine Voraussetzung für das Streben nach Überwindung erfahrener Einschränkungen.

Handlungsfähigkeit ist mithin das zentrale, objektive Bedürfnis des Menschen. "Die Teilhabe an der Verfügung ist also kein Selbstzweck sondern wesentliche Qualität der >menschlichen< Weise individueller Bedürfnisbefriedigung und Daseinserfüllung."(9) Handlungsfähigkeit ist die allgemeinste Qualität eines menschlichen und menschenwürdigen Daseins - Handlungsunfähigkeit die des menschlichen Elends: Auslieferung an die Verhältnisse, Angst, Unfreiheit und Erniedrigung.

Kontrolle als individuelles Streben ist ein Abrücken von der erreichten Qualität der gesellschaftlichen Lebensvorsorge und -vermittlung und somit ein Symptom der Isolierung des Individuums von den gesellschaftlichen Verfügungsmöglichkeiten. Es verweist auf die Unfähigkeit des Individuums, wirkliche Verfügung über die Lebensbedingungen zu erhalten und damit menschliche Lebensqualität zu erlangen. "Bedürfnisse sind gleichermaßen Produkt wie Ausgangspunkt, weil Triebkraft, Impuls der Produktion, und drücken zunächst die objektiven Lebens- und Entwicklungsnotwendigkeiten aus, die aber nur arbeitsteilig realisiert werden können, nicht in individueller Isolierung."(10)

VI

Der Mensch ist in der Lage, weiterreichenden Lebensinteressen die Befriedigung selbst vitaler Bedürfnisse unterzuordnen. Das Bedürfnis nach Handlungsfähigkeit tritt als Hauptbedürfnis, das Interesse an ihr als Haupttriebkraft auf.

Freilich muß dem Individuum das Ziel, um dessen Willen die Befriedigung anderer Bedürfnisse zurückgestellt wird, irgendwie erreichbar erscheinen. Mit einer Gesellschaft in einigen hundert Jahren verbindet das Individuum wenig; und die Inaussichtstellung der Lösung jetziger, für das Individuum essentieller Probleme in einer so entfernten Gesellschaft ist weniger als "das alte Entsagungslied, das Eiapopeia vom Himmel"(11). Bedürfnisse und Interessen bestimmen die Handlungen der Individuen; eine zukünftige Gesellschaft ist dabei für das Individuum nur insofern von Interesse, als ihre Vorbereitung dem Individuum eine Erweiterung seiner Handlungsfähigkeit ermöglicht.

Im Denken, in der Reflexion gesellschaftlicher Realität durch das Individuum kann der Zusammenhang zwischen Zielrealisierung und Lebensqualität unerkannt bleiben. Ebenso aber kann auf ideologische Weise ein nicht bestehender Zusammenhang vorgetäuscht sein. Daraus kann sich die (unbewußte) Verletzung eigener, langfristiger Lebensinteressen ergeben.

Durch die gesellschaftliche Vermitteltheit individueller Existenz sind gesellschaftliche Unterdrückungsverhältnisse möglich geworden. Unter "dem Druck der Verhältnisse" kann das Individuum "auch gesellschaftliche Ziele übernehmen, die im herrschenden Partialinteresse und somit nicht im allgemeinen Interesse an der Verfügungserweiterung und Erhöhung der Lebensqualität der Individuen (deren >Fall< ich bin) liegen"(12).

Zur bewußten Verletzung seiner Lebensinteressen kann das Individuum gezwungen werden, wenn es ihm damit möglich erscheint, einer von gesellschaftlichen Herrschaftsinstanzen ausgehenden unmittelbaren Gefährdung seiner Existenz zu entgehen.

VII

Der von Seiten der SED-Führung gegen Ende der institutionalistischen Ära vertretenen Auffassung, Frieden sei ein "allgemeinmenschliches Bedürfnis, weil er für die progressive Fortexistenz der menschlichen Gesellschaft unabdingbar geworden sei"(13), ist grundsätzlich zu widersprechen. Sie setzt voraus, dass es sich bei der Erkenntnis über die Fortexistenz der Menschheit um eine allgemeinmenschliche Erkenntnis handeln müßte, die alle Individuen erfaßt hätte.

Zutreffend ist zweifellos, dass Krieg für die große Mehrzahl der Individuen mit einer wesentlichen Einschränkung ihrer Handlungsfähigkeit einhergeht. Aus ihr entsteht als emotionaler Aspekt die Angstbereitschaft. Das Interesse an Frieden zeigt sich als Bedürfnis in Richtung auf die Aufhebung der Handlungsfähigkeitseinschränkung, als "elementare subjektive Notwendigkeit der Überwindung der Gefahr der Ausgeliefertheit an die unmittelbaren Bedingungen"(14), also die Notwendigkeit der Angstvermeidung. Nicht zu verkennen ist jedoch, daß für einige Individuen auf Grund ihrer Stellung in der Gesellschaft Krieg eine Erweiterung ihrer individuellen Handlungsfähigkeit mit sich bringt. ("Mir bekommt der Krieg wie eine Badekur.", Reichspräsident Generalfeldmarschall Hindenburg)

Da sich Handlungsnotwendigkeiten für das Individuum erst sekundär aus dem Zusammenhang zwischen individueller Existenzerhaltung und Teilhabe am gesellschaftlichen Prozeß ergeben (s. o.), kann sich ein Friedensbedürfnis bei einem durch Krieg seine Handlungsfähigkeit erweiternden Individuum erst dann entwickeln, wenn von diesem Individuum jede Art von Krieg als bedrohend für die eigene Existenz erkannt wird. Damit entfällt jedoch die reale Grundlage für den Krieg als Handlungsmöglichkeit. (Es sei denn, er wird unter diesen Umständen von einem Individuum als Möglichkeit eines globalen erweiterten Selbstmordes betrachtet.)

VIII

Es gibt nur ein allgemeinmenschliches Bedürfnis: Handlungsfähigkeit. Sie ist bestimmende Triebkraft der Entstehung und Ablösung von Gesellschaftsformationen:

1. Die ökonomische Gesellschaftsformation bildet die materielle Grundlage, auf der sich - vermittelt durch die unterschiedliche Teilhabe der Individuen am gesellschaftlichen Prozeß der Produktion von Lebensmitteln und -bedingungen - die Bedürfnisse entwickeln. Aus ihnen resultiert das bewußte Verhalten der Individuen zueinander, indem sie unter historisch bestimmten, klassenspezifischen Handlungsmöglichkeiten auswählen. "Die ökonomischen Verhältnisse einer gegebenen Gesellschaft stellen sich zunächst dar als Interessen"(15), indem sie Ausdruck einer unterschiedlichen Handlungsfähigkeit von Individuen (Gruppen, Schichten, Klassen) sind. Dies treibt die Individuen, durch ihr Verhalten zueinander die Verhältnisse (Teilhabe, Handlungsfähigkeit, Verfügungsmöglichkeiten, Gesellschaftsformation) zu verändern.

2. In Abhängigkeit davon, inwieweit die entsprechende Formation Ausdruck des historisch-konkret erreichbaren gesellschaftlichen Fortschritts ist, realisieren sich Bedürfnisse in einer Erweiterung von Handlungsfähigkeit bzw. treten als Erfahrung von deren Einschränkung in Erscheinung. Auch beim Vergleich innerhalb einer Formation ist das Hervortreten/Überwiegen von individuellen Handlungsfähigkeitserweiterungen oder Handlungsfähigkeitseinschränkungen im gesellschaftlichen Rahmen Maßstab für den historisch erreichbaren Fortschritt oder für Stagnation und Rückschritt einer Gesellschaft.

3. Bedürfnisse sind formationsspezifisch und historisch bedingt. Eine neue Formation befriedigt vorhandene Bedürfnisse und ist so Ausdruck einer erweiterten Handlungsfähigkeit der Individuen, einer besseren gesellschaftlichen Kontrolle über die Produktion von Lebensmitteln und -bedingungen. In jeder Formation treten neue Bedürfnisse in Erscheinung. Wenn sie im Rahmen der Formation nicht mehr realisiert werden können, und die Erfahrung von Einschränkung der Handlungsfähigkeit der Individuen gesellschaftliche Bedeutung erhält, ergibt sich zwingend der Übergang zu einer neuen Formation.

IX

Da einerseits Handlungsfähigkeit abhängig ist von der Teilhabe am gesellschaftlichen Prozeß (diese wiederum von der klassenspezifischen Stellung der Individuen in der Gesellschaft), andererseits die gesellschaftlichen Verfügungsmöglichkeiten abhängig sind von der Entwicklung des gesellschaftlichen Prozesses der Produktion von Lebensmitteln und -bedingungen, ergibt sich ein Widerspruch zwischen Handlungsfähigkeitserweiterung und Verfügungsmöglichkeiten. Dieser Widerspruch entspricht dem Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen.

"Die Rückwirkung der Staatsmacht auf die ökonomische Entwicklung" verkörpert sich darin, die Individuen zur Auswahl einer bestimmten Handlungsmöglichkeit aus den vorhandenen zu veranlassen. Wenn die Individuen durch die veranlaßte Wahl der Handlungsmöglichkeit ihre Handlungsfähigkeit erweitern können, "dann geht's rascher", wenn nicht, dann geht die ökonomische Entwicklung "heutzutage auf die Dauer in jedem großen Volke kaputt"(16).

Die Unterdrückung von Interessen durch politische Machtausübung ist auf Dauer nicht zu erreichen: Sie können nur mit den Verhältnissen, die sie hervorbringen, aufgehoben werden. Die Artikulation von Interessen erfolgt schließlich nicht nur im politischen Willensbildungsprozeß einer Gesellschaft, sondern vor allem im Verhalten der Individuen zueinander und damit auch in der Ignorierung von Rechtsvorschriften und bewußter Hinnahme möglicher Sanktionen.

X

Herstellung der Übereinstimmung von grundlegenden persönlichen und gesellschaftlichen Interessen bedeutet, einen Prozeß in Gang zu setzen, in dem die Erweiterung der Handlungsfähigkeit des einzelnen Individuums mit der Erweiterung der Handlungsfähigkeit aller Individuen einher geht.

Dies ist nichts anderes als die Idee von der Selbstverwaltung einer Gesellschaft, "einer Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist"(17).

XI

Produktive Tätigkeit (Arbeit) ist grundlegender Prozeß, in dem sich die gesellschaftliche Lebensgewinnung, die Produktion von Lebensmitteln und -bedingungen vollzieht. Wer innerhalb dieses Prozesses (oder gar über ihn) entscheiden und bestimmen kann, verfügt über die gesellschaftlichen Möglichkeiten der Lebensgewinnung und Lebenserhaltung, der realisiert sein Handlungsfähigkeitsinteresse.

In Bezug auf den MARXschen Satz von der "Arbeit als erste(s) Lebensbedürfnis"(18) bedeutet dies, daß Arbeit nur in soweit erstes Lebensbedürfnis wird, "wie sie dem Einzelnen die Teilhabe am gesellschaftlichen Prozeß erlaubt, ihn also >handlungsfähig< macht"(19).

Eine Teilhabe am gesellschaftlichen Prozeß durch Arbeit ist dem Individuum tatsächlich nur dann möglich, wenn es in die Lage versetzt wird, als Eigentümer der Produktionsmittel, als Produzent und Machtausübender zugleich tätig zu werden. Nur so ist das Individuum in der Lage, Verfügung über die gesellschaftlichen Möglichkeiten zu erhalten.

XII

An einem politischen Willensbildungsprozeß hat das Individuum nur dann Interesse, wenn es durch ihn das Bedürfnis, die Verfügung über Eigentum, Produktion und Machtausübung zu erweitern, realisieren kann.

Auf horizontaler Ebene erscheint es noch relativ einfach, Mechanismen zu schaffen, die dem Individuum als Produzent und Eigentümer gestatten, auf die unmittelbare Produktion Einfluß zu nehmen. Demokratie in der Produktion ist zweifellos eine der wichtigsten Wirkungsgebiete der Demokratie, zum einen, weil Produktion den größten Lebensbereich des Individuums ausmacht, zum andern weil Produktion die Voraussetzung für die gesellschaftliche Organisation, den Überbau ist. Jedoch wirkt die gesamtgesellschaftliche Organisation der Produktion, wirkt der Überbau auf die Basis zurück.

Insofern lassen sich demokratische Mechanismen auf horizontaler Ebene wirkungsvoll und dauerhaft nur gestalten, wenn wirkungsgleiche Mechanismen auf vertikaler Ebene existieren. Diese Sachlage ergab unter den bestimmten historischen Bedingungen die Errichtung des Staates vom Typ der Pariser Kommune (allgemeines Stimmrecht; gewählte, verantwortliche und jederzeit absetzbare Räte), eine "arbeitende Körperschaft", deren Arbeit darin bestand, "vollziehend und gesetzgebend zu gleicher Zeit..." zu sein.(20)

XIII

Die mit der bürgerlichen Gesellschaft entstandene "Gewaltenteilung", insbesondere die Teilung zwischen Legislative und Exekutive kann nicht geeignet sein, dem Individuum unter neuen (sozialistischen) Bedingungen die Realisierung seiner Bedürfnisse, eine umfassende Teilhabe am gesellschaftlichen Prozeß der Verfügung über Lebensmittel und -bedingungen, eine Erweiterung der Handlungsfähigkeit zu sichern - weil diese Teilung Ergebnis und Instrument der kapitalistischen Gesellschaftsformation ist.

Eine "arbeitende Körperschaft" besteht aus Individuen, die als Interessenvertreter anderer tätig werden, rechenschaftspflichtig und jederzeit abwählbar sind. Die Spezifik besteht darin, daß von diesen Individuen nicht nur Interessen artikuliert (z.B. als Gesetze formuliert) werden, sondern diese auch von ihnen selbst realisiert (z.B. Ausführung der Gesetze, Kontrolle ihrer Durchführung, unmittelbare Verantwortlichkeit vor den Wählern) werden müssen.

Das parlamentarische Mäntelchen, das sich der Institutionalismus überwarf, war schlimmer als Parlamentarismus. Er war weniger und behauptete Besseres zu sein. Er engte die mit dem Entstehen der bürgerlichen Gesellschaft die dieser Gesellschaft potentiell innewohnende Handlungsfreiheit des Individuums erneut ein. Die erneute Konzentration der Macht an einem Punkt schloß so die Mehrheit der Gesellschaft von der gesellschaftlichen Teilhabe an den Verfügungsmöglichkeiten aus. "Ohne Vertretungskörperschaften können wir uns eine Demokratie nicht denken, auch die proletarische Demokratie nicht; ohne Parlamentarismus können und müssen wir sie uns denken, soll die Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft für uns nicht ein leeres Gerede sein..."(21)

IV

Nur scheinbar kann das Individuum innerhalb vertikaler Machtstrukturen nicht machtausübend tätig werden, während es zugleich produziert. Die von Marx vorhergesagte immer schnellere Entwicklung der Produktionsmittel ist nirgendwo so deutlich wie in der Mikroelektronik. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, wann die unmittelbare Produktion ausschließlich elektronisch erfolgt. Auf dieser Grundlage wird zum einen die Aufhebung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung beginnen können.

Zum anderen bestehen bereits heute die Möglichkeiten umfassender Kommunikation, die potentiell auch die Gleichzeitigkeit von Produktion und Entscheidung - also Machtausübung - auch in vertikalen Strukturen ermöglichen. Die Möglichkeit weltweiter nichthierarchischer Vernetzung ist die Basis, auf der sich eine unterdrückungsfreie Gesellschaft nur denken läßt. Sie gestattet die universelle Teilnahme der Individuen am gesellschaftlichen Lebensgewinnungsprozeß. So kann eine arbeitende Körperschaft, zunächst noch arbeitsteilig, schließlich alle Individuen erfassend, beschließend und vollziehend zugleich diesen Prozeß gestalten.

© Michael Czollek, Berlin 1996


Literaturangaben

Marx, Karl und Engels, Friedrich: Deutsche Ideologie. MEW Bd. 3, S. 9-532
Marx, Karl und Engels, Friedrich: Manifest der Kommunistischen Partei, MEW, Bd. 4, S. 459-493
Marx, Karl: Bürgerkrieg in Frankreich, MEW, Bd. 17, S. 336
Marx, Karl: Kritik des Gothaer Programms, MEW, Bd. 19, S. 11-32
Marx, Karl: Thesen über Feuerbach, MEW, Bd. 3, S. 5-8
Engels, Friedrich: Brief an C. Schmidt, MEW, Bd. 37, S. 488-495
Engels, Friedrich: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft. (Anti-Dühring), MEW, Bd. 20, S. 5- 306
Engels, Friedrich: Zur Wohnungsfrage, MEW, Bd. 18, S. 209-287
Lenin, Wladimir Illjitsch, Staat und Revolution, Lenin, Werke, Bd. 25, S. 393-507
Heine, Heinrich, Deutschland. Ein Wintermärchen, Gesammelte Werke, Berlin 1951, Bd. 2, S. 95-170
Holzkamp, Klaus: Grundlegung der Psychologie, Campus-Verlag Frankfurt/New York, Studienausgabe 1985
Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Berlin, 7/1980, 8/1987


Anmerkungen:

1 MEW 3, 423
2 Holzkamp, Klaus, Grundlegung der Psychologie, Campus-Verlag Frankfurt/New York, Studienausgabe 1985, S. 235, im Folgenden: Holzkamp
3 Holzkamp, 236
4 Holzkamp, 238
5 MEW 20, 106
6 Holzkamp, 238
7 MEW 3, 6
8 Holzkamp, 241
9 Holzkamp, 243
10 Barnick/Richter, Zur Dialektik von Produktionsweise - Lebensweise und Bedürfnisse - Interessen, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 7 (1980), S. 809 f.
11 Heine, Heinrich, Deutschland. Ein Wintermärchen, in: Gesammelte Werke, Berlin 1951, Bd. 2, S. 103
12 Holzkamp, 323
13 Deutsche Zeitschrift für Philosophie 8 (1987), S. 757
14 Holzkamp, 242
15 MEW 18, 274
16 vgl. MEW 37, 490 f.
17 MEW 4, 482
18 MEW 19, 21
19 Holzkamp, 243
20 vgl. MEW 17, 336 - 339 und Lenin, Werke 25, 434 - 437
21 Lenin, Werke, 25, 437











 

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