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Beiträge zur Theorie  










Martin Blumentritt

Zu K. R. Poppers "Kritischer Rationalismus" - Teil 7

Es war bereits vom Fortschrittsbegriff und Poppers Idee vom Fortschritt als Trial-and-error, als Empor-Irren zur Wahrheit, die nie erreicht wird die Rede.

"Wir koennen also sagen, dass wir auf der Suche nach der Wahrheit die wissenschaftliche Sicherheit durch den wissenschaftlichen Fortschritt ersetzt haben. (...)Denn die Wissenschaft entwickelt sich ...durch eine allmaehliche enzyklopaedische Anhaeufung wesentlicher Information, sondern auf eine weit mehr revolutionaerer Weise; sie schreitet fort durch kuehne Ideen, durch die Verbreitung neuer und hoechst seltsamer Theorien (...) und durch die Verwerfung der alten."(Popper, Falsche Propheten II, S. 19).

Dass das Wissen nicht einfach akkumuliert ist zutreffend. Dennoch ist zu problematisieren, ob die Verwerfung der alten Theorie durch neue stattfindet. Thomas S. Kuhn hat dem heftig widersprochen.

Als der Vorlaeufer kopernikanische Astronomie, "das Ptolomaeische System, in den beiden letzten Jahrhunderten vor Christus entwickelt wurde, war es bewundernswert erfolgreich in der Voraussage der veraenderlichen Positionen von Fixsternen und Planeten. Kein anderes System des Altertums hatte so gut funktioniert. Fuer die Fixsterne wird die Ptolomaeische Astronomie heute noch weitgehend als technische Naeherung verwendet; fuer die Planeten waren die Voraussagen des Ptolomaeus ebenso gut wie die des Kopernikus. Aber bewundernswert erfolgreich zu sein, bedeutet bei einer wissenschaftlichen Theorie niemals, vollkommen erfolgreich zu sein. In Bezug auf die Planetenpostionen und die Praezision der Tag- und Nachtgleiche stimmten die aufgrund des ptolomaeischen Systems gemachten Voraussagen niemals ganz mit den besten verfuegbaren Beobachtungen ueberein. Die weitere Reduzierung jener geringen Diskrepanzen bildete ein guten Teil der Hauptprobleme normaler astronomischer Forschung fuer viele Nachfolger des Ptolomaeus, wie auch ein aehnlicher Versuch, die Himmelsbeobachtungen und die Newtonsche Theorie in Uebereinstimmung zu bringen, normale Forschungsprobleme fuer Newtons Nachfolger im achtzehnten Jahrhundert mit sich brachte. (...) Mit der Zeit aber konnte jemand, der den Endeffekt der normalen Forschungsbemuehungen der vielen Astronomen betrachtete, feststellen, dass die Kompliziertheit der Astronomie viel schneller wuchs als ihre Exaktheit, und dass eine Diskrepanz, die an der einen Stelle korrigiert wurde, wahrscheinlich an einer anderen zu einer neuen wuchs."(Struktur Wissenschaftlicher Revolutionen, S.81)

Die normale Wissenschaft kann also in die Krise geraten, nicht weil sie einem Gegenbeispiel sich aussetzt, das ihre Falsifikation beinhaltet. Sie wird trotzdem weiter versuchen, Theorie und Tatsachen in Uebereinstimmung zu bringen. Er wenn es eine neue Theorie gibt, die sie ersetzt oder ein fuer einen Teil des Gegenstandsbereichs ersetzt, dann kann man von Paradigmawechsel reden. Solange wird sie die Theorie als Mittel verwenden einen bestimmten Gegenstand, den sie konstituiert, zu begreifen. Nur ein schlechter Zimmermann schimpft ueber sein Werkzeug, behauptet Kuhn. Zwar tauchen Anomalien auf, Diskrepanzen zwischen Voraussagen und Tatsachen, aber das ist kein Grund die Theorie aufzugeben. Daher muss schon mehr passieren als die die reproduzierbare Falsifikation eines Basissatzes.

"Irgendwo gibt es bei der Anpassung von Paradigma und Natur immer Schwierigkeiten; die meisten werden frueher oder spaeter behoben, oft genug durch Vorgaenge, die niemand voraussehen konnte."(a.a.O. S. 95)

Oft genug ist die Krise gar nicht bewusst und Theorien bestehen nebeneinander, bis dann die Theoretiker aussterben, die  jene vertreten. Der Geozentrismus war gleichzeitig mit einer hierarchischen Ordnung der Welt verbunden, die Theologie hatte die Funktion von Autoritaet und hatte den Anspruch auf unbedingte Wahrheit. Erst als mit dem Nominalismus und den daraus entstehenden Materialismus, der dem entstehenden Buergertum entgegenkam, die staendische Ordnung in Frage gestellt war, konnte sich der Kopernikanismus endlich durchsetzen. Popper musste ja dann auch auf die Argumente Kuhns antworten: "Die Kritik, die Professor Kuhn meinen Ansichten ueber die Wissenschaft zukommen liess, ist eine der interessantesten, denen ich bisher begegnet bin."(Die Normalwissenschaft und ihre Gefahren, in : Lakatos/Musgrave Kritik und Erkenntnisfortschritt, S. 51)

Was auch immer man von dem Chaoten Paul Feyerabend halten mag, negativ hatte er recht, wenn er den Falsifikationismus Poppers und die vom spaeten Popper schliesslich zur Geschichtsphilosophie aufgeblaehte trial-and-error-Theorie, wie sie anhand der Amoebe-Einstein-Kontinuitaet schon anhand von "Objektive Erkenntnis" gezeigt wurde, anhand der Forschungspraxis kritisierte. Die Grenzen von Feyerabend bestehen darin, dass er zwar z.B. Aristoteles und Galilei gegenueberstellt, aber nicht das Alltagsleben, der die Personen entstammen. So verbleibt er noch in Poppers Bahnen und es scheint so zu sein, dass Theorien sich abwechseln, im Sinne einer bloss geistigen Bewegung. Wenn Feyerabend bemerkt, "In diesem Zusammenhang gewinnt die Entstehung einer neuen historischen Klasse grosse Bedeutung.."(Wider den Methodenzwang, 213), dann haette man eigentlich die Ausfuehrung dieses Zusammenhangs erwartet. Wenn bestimmte Paradigmen im Interesse einer aufstrebenden Klasse sind, dann werden sie auch, mit gewisser Sicherheit, sich besser durchsetzen, wenn die Klasse sich etabliert. Das kann man auch daran sehen, das Poppers Lehre zeitweilig zur Staatsphilosophie erhoben wurde (vgl. den Aufsatz von Bodo v. Greiff, Staatsphilosophie - eine bisher unbekannte Form der Innenpolitik, in: H.Heimann, Dialog statt Dogmatismus, 169ff).

Wenn man Poppers Falsifikationismus der wirklichen Forschungspraxis kontrastiert, kann man ihn entweder deskriptiv, als nachkonstruierte Logik der Forschung betrachten oder normativ, als Anspruch an die Forschung. Beides ist nicht zu trennen, zum einen fuehrt die Forschungsprxis zur Erweiterung methodologischer Reflexionen, auf der anderen Seite wirkt so eine Theorie auch auf die Forschungspraxis ein.

Nun liess sich von Kuhn und Feyerabend aufweisen, dass entgegen Popper Theoretiker nicht Daten suchen, die ihre eigene Theorie widerlegen koennen, sondern solche welche die gegnerische widerlegen. Man rangelt mehr um die Immunisierung der eigenen Theorie, da koennte der Anspruch an Popper, diese partiell aufzuheben ja heilsam sein, nur Popper haelt sich ja selber nicht dran, da seine Falsifikationstheorie nicht falsifizierbar ist und daher schon nach seinen Massstaeben als falsifiziert zu gelten haette.

Bei der Bewertung von negativen experimentellen Ergebnissen wird die Ausgangshypothese nur dann verworfen, wenn es nicht gelingt stoerende Faktoren, nicht konstant gehaltene Bedingungen und dergl. fuer den Befund verantwortlich zu machen. Wenn das nicht moeglich ist, wird gegebenfalls nicht die Theorie verworfen, sondern nur ihre Gueltigkeit auf bestimmten Bedingungen eingeschraenkt. Popper hat gar nicht mal so Unrecht, wenn er die Immunisierung beklagt. In den Sozialwissenschaften ist das ja sogar oft der Fall. So argumentiert die neoliberale Wirtschaftstheorie stets mit den boesen Gewerkschaften und der Staatsintervention, wenn der freie Markt nicht die gewuenschten Ergebnisse bringt. Nicht das Modell wird als falsch erkannt, sondern wenn Theorie und Tatsachen nicht uebereinstimmen, um so schlimmer fuer die Tatsachen (das ist eine Anspielung auf eine aehnliche Formulierung Hegels, die dort aber etwas anderes besagt, weil Wirklichkeit und Realitaet unterschieden werden). Es wird behauptet, unter anderen Bedingungen wuerde eben alles in der Wirtschaft glatt gehen, nur verhalten sich die Machtgruppen und der Staat falsch, es werden externe Erklaerungen eingefuehrt, um die Theorie zu immunisieren. Die Theorie hat immer recht. Daher ist abgesehen von den Missverstaednissen Poppers hinsichtlich von Hegel und Marx sein Lob der Marxschen und der Ricardianischen oekonomischen Theorie gar nicht so gering. Er fuehrt sogar den Staatsinterventionismus als Grund ein, warum bestimmte Trends sich nicht rein entfalten. Woran liegt es nun, dass Popper den realen Forschungsprozess so sehr verfehlt.

Dazu muss ich eine kategoriale Unterscheidung einfuehren, die Popper nicht macht. Ich unterscheide hinsichtlich des Gesetzesbegriffs zwischen Rahmenbedingungen und Randbedingungen.

Die Form des Gesetzes bei Popper kann man so formalisieren:

   "Fuer alle x gilt, immer wenn eine Bedingung p auf x zutrifft,    ereignet sich q."

Statt p kann auch eine Menge von Bedingungen, konjunktivisch oder adjunktivisch vorliegen (mit Und- oder Oder-Verknuepfungen).

Die Bedingung p (oder das Bedingungsgefuege) ist die Randbedingung. Tritt p ein, dann folgt q. Folgt q nicht, dann ist q falsch und da aus etwas Wahren nichts Falsches erschlossen werden darf, haben wir eine Falsifikation.

Ich war am Anfang schon auf die _Stoerfaktorentheorie_ eingegangen. Diese muss ja die Bedingungen, die in der Gesetzesaussage stehen, von den Bedingungen unterscheiden, die nicht drinstehen, aber trotzdem wirken, die _Rahmenbedingungen_. Dabei kann es sich um bekannte Gesetze handeln oder um unbekannte, bzw. um die vollstaendige Totalitaet von Bedingungen der Naturerscheinungen, die niemals zum Gegenstand von Wissenschaft werden koennen. Popper kann aus logischen Gruenden die Unterscheidung nicht machen, da er auf _jegliche_ Induktion zur Begruendung einer Gesetzeshypothese verzichtet. Die Beziehung von Allsaetzen und Basissaetzen ist ja bei ihm als rein _deduktive_ vorgeschrieben.

So koennen durch diese Unterscheidung negative Befunde die Gesetzesaussage nicht tangieren bzw. es koennen bei positiven Befund einige der Rahmenbedingungen zur Randbedingungen werden.

Das Problem, dass Gesetzesaussagen unmittelbar mit der Realitaet konfrontiert werden haengt mit dem positivistischen Erfahrungsbegriff zusammen, der Notwendigkeit und Wirklichkeit zu eng miteinander koppelt.


© Martin Blumentritt, Hamburg 1995

Fortsetzung - Teil 8


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