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Beiträge zur Theorie  










Martin Blumentritt

Zu K. R.Poppers "Kritischer Rationalismus" - Teil  3

"Induktionslogische Elemente treten in dem hier skizzierten Verfahren nicht auf; niemals schliessen wir von der Bedeutung der singulaeren Saetze auf die der Theorien. Auch durch ihre verifizierten Folgerungen koennen Theorien niemals als "wahr" oder auch nur als wahrscheinlich" betrachtet werden."(Logik der Forschung S.8)

Die Verve, mit der Popper sich gegen die Induktion richtet, setzt eine Gleichsetzung der Induktionslogik mit den induktiven Schluss voraus, dem Schluss vom Besonderen zum Allgemeinem, von den singulaeren Saetzen zu den Allsaetzen. Eine andere Funktion der Induktion kennt er nicht. Denoch muss allerdings in jeder empirisch gehaltvollen Theorie das Besondere, Beobachtbare vorkommen und wenn es nur die Stellung des Zeigers oder das Leuchten der Digitalanzeige ist.

Dem Empirischen entsprechen in der Theorie die Basissaetze. Diese sind aber ihrer Urspruenglichkeit beraubt. Die Basissaetze sind "theoriegeladen".

"Basissaetze sind also - in realistischer Ausdrucksweise - Saetze, die behaupten, dass sich in einem individuellen Raum-Zeit-Gebiet ein beobachtbarer Vorgang abspielt.(...) Jede Nachpruefung einer Theorie, gleichgueltig, ob sie als deren Bewaehrung oder als Falsifikation ausfaellt, muss bei irgendwelchen Basissaetzen haltmachen, die _anerkannt_ werden. Kommt es nicht zu einer Anerkennung von Basissaetzen, so hat die Ueberpruefung ueberhaupt kein Ergebnis...;jeder Basissatz kann neuerdings durch Deduktion anderer Basissaetze ueberprueft werden; wobei unter Umstaenden die gleiche Theorie wieder verwendet werden muss oder auch eine andere. Dieses Verfahren findet niemals ein "natuerliches" Ende."(Logik der Forschung S. 69)

Die Falsifizierbarkeit bezieht sich auf Basissaetze, klassisch also singulaere Urteile, die auf Empirie gehen. Popper unterscheidet Falsifizierbarkeit allerdings von Falsifikation, wo widersprechende Tatsachen nur eine notwendige Bedingung, kein zureichender Grund einer Falsifikation sind.

"Falsifizierbarkeit fuehren wir lediglich als Kriterium des empirischen Charakters von Satzsystemen ein; wann ein System als falsifiziert anzusehen ist, muss durch eigene Regeln bestimmt werden."

und dann kommt es:

"Wir nennen eine Theorie nur dann falsifiziert, wenn wir Basissaetze anerkannt haben, die ihr widersprechen ...Diese Bedingung ist notwendig, aber nicht hinreichend, denn nichtreproduzierbare Einzelereignisse sind...fuer die Wissenschaft bedeutungslos; widersprechen also der Theorie nur einzelne Basissaetze, so werden wir sie deshalb noch nicht als falsifiziert betrachten."(Logik der Forschung S. 54)  

Es ist also nicht so, dass eine einzelne Beobachtung, die einen Basissatz, der sich aus einem System herleiten laesst, Popper zufolge schon das System falsifiziert. Die Beobachtungen muessen reproduzierbar sein. Aber was sind die Bedingungen der Moeglichkeit der Reproduzierbarkeit? Dies hatten Kant und Nachfolger in der Konstitutionproblematik thematisiert. Die Bedingung der Moeglichkeit der Erfahrung, sind auch die Bedingungen der Moeglichkeit der Gegenstaende der Erfahrung. Die Poppersche Interpretation interpretiert Kant allerdings aus der Perspektive Humes und kommt zu anderen Schlussfolgerungen:

"Zu dieser grossen Tradition stehe ich dadurch im Gegensatz, dass ich gewisse von Kants Beitraegen zu der Erkenntnistheorie fuer grundlegend, ja geradezu fuer entscheidend halte, obwohl ich nicht daran glaube, dass es synthetische Saetze gibt, die a priori als gueltig eingesehen oder begruendet werden koennen. Das heisst, ich glaube, dass es unter den (wahren) synthetischen Saetzen sowohl solche gibt, die empirisch nachpruefbare Hypothesen sind und daher zur Naturwissenschaft gehoeren, als auch solche die _nicht_ empirisch nachpruefbar sind und daher als 'metaphysisch' bezeichnet werden koennen. Aber fuer die 'Begruendung' dieser letzteren Saetze haben wir, meiner Meinung nach, nicht staerkere, sondern schwaechere Argumente zur Verfuegung: sie sind zwar keine empirischen Hypothesen, aber sie sind oft nicht weniger, sondern mehr 'hypothetisch' - im Sinne von 'unsicher' - als die wissenschaftlichen Hypothesen." (Logik der Forschung, Vorwort zur zweiten Auflage, S. XXIV)

Hier stellt sich dann spaeter fuer uns die Frage, ob nicht genau dieses Kriterium der Reproduzierbarkeit das Falsifikationsprinzip selber in Frage stellt und ob vielleicht in der vollendeten Theorie gar keine Basissaetze vorkommen koennen, die falsch sind, weil die wissenschaftliche Erfahrung gar nicht mit dem positivistischen Erfahrungsbegriff getroffen wird. Nun geht ja Popper selber schon einige Schritte in die Richtung, wenn er von den Bedingungen der Reproduzierbarkeit spricht

"Nur dort, wo gewisse Vorgaenge (Experimente) aufgrund von Gesetzmaessigkeiten sich wiederholen, bzw. reproduziert werden koennen, nur dort koennen Beobachtungen, die wir gemacht haben, grundsaetzlich von jedem nachgeprueft werden."(Logik der Forschung S.19)

Aber wie muessen Erscheinungen, Tatsachen beschaffen sein, damit sie intersubjektiv, von jedem (bei Kant auch noch jederzeit) ueberpruefbar sein sollen. Denn nicht jede Beobachtung, die einem System widerspricht, ist eine falsifizierende Beobachtung, sie ist eine notwendige Bedingung kein zureichender Grund.

"Wir nennen eine Theorie nur falsifiziert, wenn wir Basissaetze anerkannt haben, die ihr widersprechen (...). Diese Bedingung ist notwendig, aber nicht hinreichend, denn nichtreproduzierbare Einzelereignisse sind, wie wir schon mehrfach erwaehnt haben, fuer die Wissenschaft bedeutungslos; widerprechen also der Theorie nur einzelne Basissaetze, so werden wir sie deshalb noch nicht als falsifiziert betrachten. Das tun wir vielmehr erst dann, wenn ein die Theorie widerlegender _Effekt_ gefunden wird; anders ausgedrueckt: wenn eine (diesen Effekt beschreibende) empirische Hypothese von niedrigerer Allgemeinheitsstufe, die der Theorie widerspricht, aufgestellt wird und sich bewaehrt. Eine solche Hypothese nennen wir _falsifizierende Hypothese_"(a.a.O.S.54)

(Zur niedrige Allgemeinheitstufe gehoeren z.B. Verhaltenskonstanzen)

Der Terminus des Basissatzes ist bei Popper also aequivok, bezeichnet einmal alle singulaeren Saetze, in Bezug mit der Frage der Falsifizierbarkeit allerdings nur solche, die sich als reproduzierbaer Effekt im Rahmen einer Theorie ergeben. Waeren allein Basissaetze im ersten Sinne fuer die Falsifikation verantwortlich, dann gaebe es niemals ein Falsifikation. In der zweiten Bedeutung handelt es sich aber gar nicht mehr um Basissaetze als singulaere Saetze, sondern um generelle, hypothetische Saetze, die experimentell realisiert werden. Die Falsifizierbarkeit einer Theorie beruht dann aber gar nicht mehr auf falsifizierenden Basissaetzen, sondern auf den falsifizierenden Hypothesen.

Dann stellt sich die Frage, wie man ueberhaupt zu einer Hypothese gelangt, sie muss es ja erst einmal geben. Nun schliesst Popper die Modifikation einer Theorie z.B. durch Ad-hoc Hypothesen aus. Anders als in der dialektischen Theorie, die im Grunde von jeder falschen Theorie ausgehen kann und durch immanete Kritik und Modifikationen dann zu einer richtigen Theorie gelangt, behandelt Popper theoretische System wie Monaden, abgeschlossene Einheiten, die nur als Ganze falsch oder wahr sind

"Wir werden naemlich versuchen(...), die _empirische Methode_ gerade durch den Ausschluss jener Verfahren zu kennzeichnen, die der angefuehrte Einwand mit Recht als logisch zulaessig hinstellt: Nach unserem Vorschlag kennzeichnet es diese Methode, dass sie das zu ueberpruefende System in jeder Weise einer Falsifikation aussetzt; nicht die Rettung unhaltbarer Systeme ist ihr Ziel, sondern: in moeglichst strengen Wettbewerb das relativ haltbarste auszuwaehlen."(a.a.O. 16)

Da Popper die Funktion der Induktion fuer die Hypothesenbildung ausschliesst und Induktion nur als Induktionsschluss versteht, kommt er gar nicht auf die Idee die Anfaenge mit Hypothesen oder mit dem Problem zu problematisieren. Die Genesis von Theorien wird als psychologisch oder wissenschaftshistorischer Sachverhalt abgetan unter Berufung auf die Unterscheidung zwischen Entstehung und Geltung von Theorien. Dass die Induktion (nicht der Induktionsschluss) fuer die Hypothesenbildung von entscheidender Bedeutung ist und dass man erfahrungslos niemals ein Problem haette und schon gar nicht dann die Hypothese als Loesungsvorschlag, wird von Popper nicht so gesehen und thematisiert.

Wenn man nicht aus der alten Theorie die Modifikationen erschliesst, z.B. versucht Tycho Brahe den Geozentrismus zu retten durch Abwandlungen des ptolomaeischen Weltbegriffs, oder durch Induktion, wie kommt man dann zu einer neuen Hypothese. Das ist nicht bloss eine erkenntnispsychologische oder wissenschaftshistorische Frage, sondern auch eine erkenntnistheoretische. Die blendet Popper aus, aber muss sie vorausetzen.

Unreflektiert muss Popper also doch die Induktion (unmittelbar oder tradiert) voraussetzen, denn woher soll die falsifizierende Hypothese denn herkommen? Man kann es an den Dialogen des Galilei sehr schoen sehen, wie aus Induktionen und Aufweis von deren widerspruechlichen Konsequenzen das aristotelische Fallgesetz z.B. in Frage gestellt wird und wie aus Verallgemeinerungg, die absurde Konsequenzen haben (das Gewicht spielte bei Aristoles eine Rolle fuer den Fall, und Galilei laesst dann einen der Dialogpartner die Konsequenz ziehen, dass dann zwei gleiche Steine zusammengebunden doppelt so schnell fallen wuerden, wenn das gelte).

Das Falsifikationprinzip Poppers sitzt selber der Aequivokation auf, denn die Basissaetze, die in der Lage waeren etwas zu falsifizieren, sind immer Menschenwerk, denn ohne Eingriff keine Reproduzierbarkeit.

Auf der anderen Seite behauptet Popper:

"dass die Frage, ob unsere von Menschen gemachten Theorien wahr sind oder nicht, von den realen Tatsachen abhaengt, die mit wenigen Ausnahmen ganz gewiss kein Menschenwerk sind. Unsere von Menschen geschaffenen Theorien koennen diesen realen Tatsachen widersprechen, und so muessen wir bei unserer Wahrheitsuche unsere Theorien oft abaendern oder aufgeben."(Objektive Erkenntnis S. 357)

Die Konsequenz, die Alleinherrschaft des Falsifikationsprinzips im Bezugsrahmen deduktiver Nachpruefung, zu brechen, hat Popper nicht gezogen. Aber das Falsifikationsprinzip setzt ein Verifikationsprinzip heimlich voraus. Aus der die Notwendigkeit reproduzierbare Basissaetze zu erhalten ergibt sich auch die Moeglichkeit technischer Anwendung. Niemals wuerden wir uns ja wohl in ein Flugzeug setzen, wenn es die Moeglichkeit gebe, dass die Naturgesetze, die bei Flugzeugbau angewendet werden irgendwann falsifiziert werden koennten. Die Implikationen der Popperschen Theorie fuehren ueber Popper hinaus. Dass Popper die Falsifizierbarkeit zum Totschlagargument gegen alles und jedes macht, kann man an den politischen Schriften sehen, zu denen die Kritiken an Platon und Hegel gehoeren, in den Schimpftiraden die Kritik ersetzen, die sich besonders dadurch auszeichnet, dass sie an ihren Gegenstand nicht heranreicht.

Hier geht die Darstellung notgedrungen ueber in die Kritik. Als naechstes soll dann die Kantkritik Poppers dargelegt werden. Denn bei Kant findet sich ein Ansatz in Form der synthetischen Urteile Apriori, dem Popper nicht folgt, aufgrund - wie zu zeigen ist - eines Rezeptionsfehlers. Auf die Interpretation seiner Platon und Hegelkritik verzichte ich ganz, da duerfte es Allgemeingut sein, dass sie nicht haltbar ist und im schlechten Sinne Polemik, was er selber ja auch zugab. Sie hat weder mit Platon noch mit Hegel irgendetwas zu tun. Jedenfalls wuerde niemand diese als Sekundaerliteratur ueberhaupt ernst nehmen.


Martin Blumentritt, Hamburg 1995

 Fortsetzung - Teil 4


Unser Buchtipp:












 

GLASNOST, Berlin 1992 - 2019