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Martin Blumentritt
Mord und Totschlag
Konsequenzen der deutschen Einheit
Nichts verbindet mehr als gemeinsam begangenes Unrecht. Das Abitur
des Mafiosi ist der Mord, der ihn auf Gedeih und Verderb an die
kriminelle Gemeinschaft kettet. Blut ist allemal dicker als Wasser,
sagt der Volksmund, und nicht nur das organisierte Verbrechen beruht
auf Blutsbanden. Auch die organisierte Gesellschaft, die Nation, muss
die Erinnerung an ihr Gruendungsverbrechen am Leben halten. Fahnen
und Hymnen bezeugen ihr souveraenes Recht auf das Leben und den Tod
ihrer Angehoerigen. Sie mahnen an die bedingungslose Verpflichtung auf
die politische Einheit und an den kollektiven Mord, der im Namen des
Volkes begangen werden musste. Das politische Ritual vergegenwaertigt
das Opfer, auf dem die Gemeinschaft gruendet. Die
Friedhofsschaendungen von Ihringen und das Pogrom von Hoyerswerda
dermonstrierten, dass die Erinnerung an die Opfer langsam verblasst,
dass die "nationale Identitaet" allmaehlich schlapp macht und der
Erneuerung bedarf. Die Totschlaeger und die Moerder sind im Westen wie
im Osten die Avantgarde der inneren Wiedervereinigung, die den
Staatsvertrag mit wirklichem Leben erfuellen wird.
Auschwitz, das Gruendungsverbrechen der buergerlichen Gesellschaft der
Deutschen, hat fuenfzig Jahre nach der Wannsee-Konferenz seine
vergemeinschaftende Kraft eingebuesst. Die "Kollektivschuld", die die
Westdeutschen erfanden, um allen Widrigkeiten zum Trotz das nationale
Wir-Gefuehl zu retten, verliert im genauen Masse ihre Bindewirkung, in
der die durch die Wiedervereinigung provozierte Krise der sozialen
Integration voranschreitet. Als Ideologie war sie wahr und Luege
zugleich - nichts als die blanke Wahrheit, weil sie das historische
Endergebnis des Nationalsozialismus aussprach, und schamlos gelogen,
weil sie dies als veritablen Pluspunkt verbuchte und um die
Erkenntnis der gesellschaftlichen Gruende sich drueckte. Die
Anerkennung der Schuld mit den Mitteln ihrer systematischen
Verleugnung fuehrte zur "kalten Amnestierung" der Buerokraten und
danach zur Justizposse der 60er Jahre, als die Huefsarbeiter der
Vernichtung vor Gericht gestellt wurden; eine politische Farce hob
an, deren letzter Akt nur die allseits ersehnte "biologische
Endloesung der Nazi-Frage" sein konnte. Ein kollektives Unrecht von
der Statur des Massenmordes juristisch, d.h. in Kategorien von Moral,
Schuld und Vergeltung beheben zu wollen, konnte nur bedeuten, es
staatstragend zu bewaeltigen, d.h. seine gesellschaftlichen Ursachen
prinzipiell auszuklammern. Ausgerechnet der Staat, der 1933 als
Nothelfer der aus allen Fugen geratenen kapitalistischen Gesellschaft
sich bewaehrte, sollte nach 1945 als probates Hilfsmittel gegen
rotbraunen Totalitarismus taugen. Aus dieser abgruendigen
Zweideutigkeit bezog der "hilflose Antifaschismus" sein besonderes
Gepraege: Die demokratische Abneigung gegen den Fuehrer hatte den
"wehrhaften Staat" der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und
seine Wirtschaft zu rechtfertigen. Darin bestand der objektive
Zynismus der postfaschistischen Gesellschaft im Westen. Die
NS-Diktatur hatte den Bund zwischen Volk und Staat unwiderruflich
besiegelt, aber die Niederlage von 1945, die nicht zur Befreiung
werden durfte, machte es unmoeglich, den Ursprung dieser Einheit offen
zu bekennen. Dass der Fuehrer den Krieg gegen die Alliierten verloren
hatte, war sein allgemein beklagter Fehler; dass er den
Vernichtungsfeldzug gegen die Juden jedoch im wesentlichen gewann,
das konnte unmoeglich gefeiert werden. Die Volksgemeinschaft war zum
klassenuebergreifenden, gar klassenvernichtenden Fundament des Staates
geworden, aber das, was alle wussten, musste doch, dem
Ultrakonservativen Hermann Luebbe zufolge, "kollektiv beschwiegen"
werden. Nur selten kam die Sache so drastisch zur Sprache wie in der
"Volks- und Schulausgabe" des Grundgesetzes, die Ende der fuenfziger
Jahre ein Doktor R.W. Fuesslein, Ministerialdirektor im
Bundesministerium des Innern, besorgte. Das Kapitel "Die
Volksgemeinschaft in der Demokratie" kommentiert: "In der Verfassung
sucht man vergeblich Vorschriften ueber die Volksgemeinschaft, ihre
Foerderung und ihr Wirken. Diese - vielleicht wichtigste - Seite des
Staatslebens entzieht sich jeder Rechtssetzung." Das macht: Sie ist
Sache der Staats-Gewalt. Was der Ministerialdirigent raunte, macht
sich der jugendliche Neonazi heute zu eigen. So wenig macht ihn dies
zum "Ewiggestrigen" wie den Staat, dem er brachial zu Hilfe eilt. Er
spricht nur den Zynismus aus, dass es eines neuerlichen Opfers bedarf,
um die soziale Integration zu reparieren. Indem er selbst Hand
anlegt, macht er dem Staat etwas vor.
Das kapitalistische Deutschland bewaeltigte den Nationalsozialismus,
indem es seiner Lebensluege, die Demokratie haette mit dem Fuehrer nicht
das Geringste gemein, bis zur vollendeten Selbsthypnose verfiel. Die
konsequenzlose Rede von der "Kollektivschuld" log mit der Wahrheit
und lobte die Bundesrepublik als die gesunde Mitte der Extreme. Das
"Sozialistische" am Nationalsozialismus wurde generoes der
Sozialistischen Einheitspartei uebereignet, waehrend der Westen von
Europa her am "Nationalistischen" sich therapieren liess. Wo alle
schuld waren, da konnte, nach den Geboten deutscher Logik, kein
einziger mehr verantwortlich gemacht werden, und das
Kapitalverhaeltnis gleich gar nicht.
Das sozialistische Deutschland konnte diesen strategischen Kniff des
Westens im ideologischen Wettstreit der Systeme unmoeglich wettmachen.
Denn gegen die "Kollektivschuld" konnte es nur die Klassenschuld der
Bourgeoisie aufbieten, die mit der Gruendung der besseren, der
proletarischen Nation verheilt sein sollte. Waehrend der Westen das
volksgemeinschaftliche Resultat ohne dessen Geschichte haben wollte,
bemaengelte dies der Osten, aber nur, um die urploetzlich proletarisch
auferstandene Staatsraeson zu rechtfertigen. Nicht Staatlichkeit als
solche und also das herrschaftliche Verhaeltnis von Befehl und
Gehorsam, das den Ausbeutungscharakter der Oekonomie getreu anzeigt,
sollte fuer Hitler verantwortlich gewesen sein, sondern allein der
arbeiterfeindliche, gar "volksfeindliche" Gebrauch des Staates durch
die besitzenden Klassen. Das war ebenfalls nichts als die Wahrheit,
aber gleichwohl gelogen. Denn selbstverstaendlich hatten die Buerger
dem Fuehrer den Steigbuegel gehalten, aber als blosse Vertreter und
Nutzniesser der kapitalen Vergesellschaftung hatten sie es in einer
Weise tun muessen, die im Ergebnis auch ihre politische Herrschaft
vernichtete. Nur so konnte die Herrschaft des Kapitals als
Produktionsverhaeltnis behauptet werden. Denn in dieser
bonapartistischen Verkehrung war der Nationalsozialismus nicht nur
genoetigt, die Interessen des Kapitals gegen die Buerger zu
verwirklichen, sondern ueberdies dazu, das Interesse der
Arbeiterklasse gegen die Arbeiterparteien durchzusetzen.
Aus dieser doppelten Frontstellung gegen Buerger und Arbeiter zugleich
im Interesse von Kapital und Arbeit erwuchs der Mythos des
"Nationalsozialismus", der bis heute nachhallt. Die Nazis
verstaatlichten die gesellschaftliche Arbeitskraft und erfuellten so
den statistischen Traum, den die deutsche Arbeiterbewegung seit
Ferdinand Lassalle und spaeter, je nach Fraktion, mit Karl Kautsky
oder Wladimir Iljitsch Lenin hegte; Karl Marx und Michail Bakunin zum
Spott. Durch die Vorbereitung der allseitigen Vernichtung enthob der
Nazismus die Arbeiter der Sorge um den Verkauf ihrer einzigen Ware,
der Arbeitskraft. Der "antifaschistische Staat", die DDR, durfte
diese proletarische Kollaboration umso weniger wahrhaben, als er das
"Recht auf Arbeit" so unermuedlich zum Staatsziel erhob wie nur sein
westlicher Zwilling die "Vollbeschaeftigung". Kein Wunder daher, dass
im Osten der "Staat des ganzen Volkes" den Antisemitismus in Gestalt
des Antizionismus ebenso am Leben hielt, wie es der Westen in der
faschistoiden Hochachtung der Springer-Presse fuer die "Blitzkriege"
Israels tat. Was dem demokratisierten Nazi im Westen zur Widerlegung
des Urteils ueber die Juden taugte und zum perversen Beweis, dass die
Opfer sich mittlerweile gebessert haetten, das diente seinem
sozialisierten Pendant zur Befestigung der Arbeitsmoral gegen
"Parasitismus" und zur Hebung des Nationalgefuehls gegen ein
"wurzelloses Weltbuergertum", das, wie Otto Grothewohl 1950 meinte,
"den Voelkern raet, ihre nationale Selbststaendigkeit im Interesse eines
imaginaeren allgemeinen Wohls ueber Bord zu werfen", dabei aber nur
"das Wohl der amerikanischen Finanzmagnaten" im Auge habe. Und so
drueckt sich heute in der rassistischen Wut oestlich der Elbe nichts
anderes aus als die Enttaeuschung darueber, dass es der Staat noch nicht
eimmal mit bolschewistischen und staatskapitalistischen Methoden
vermochte, die Arbeitskraft auf Dauer sich einzuverleiben und die
Arbeiter in pensionsberechtigte Staatsdiener zu verwandeln, die sich
nur noch die Muehe machen muessen, die Praemie ihrer politischen
Loyalitaet zu kassieren.
So waren, jedes nach seiner Facon, die beiden Haelften des gespaltenen
Deutschland auf ihre Wiedervereinigung praechtig vorbereitet, und die
politische Einheit konnte nur in der solidarischen Tilgung der
Kollektivschuld muenden, zu der der Westen das Knowhow und die
Finanzen beisteuerte und der Osten die definitive Rehabilitation der
Totschlagparole vom "Volk", das einzig und allein "wir" sind. Die
Ironie dieser Geschichte mag, wer fuer Makabres empfaenglich ist, darin
erblicken, dass der "sozialistische Staat" ausgerechnet an dem Versuch
zugrunde ging, der Wiederkehr des Nationalsozialismus ein fuer alle
Mal vorzubeugen. Indem er im Zuge seiner gegen alle
Kapitalrationalitaet ruecksichtslosen Arbeitsbeschaffung sich
oekonomisch uebernahm und kurz vor der Zwangsvollstreckung jaemmerlich
einging, schuf er im Zusammenbruch eine Situation, die der Ende der
zwanziger Jahre schon jetzt so aehnlich sieht, dass nur noch der
Kladderadatsch auf dem Weltmarkt fehlt. Jedenfalls besteht die Rache
der Geschichte in dem Tatbestand, dass die "wehrhafte Demokratie" in
ihrem nationalen Wahn sich noetigen lassen musste, eine nach Massgabe
der Kapitalrationalitaet unproduktive und also ueberfluessige
Menschenmasse nur deshalb sich einzuverleiben, weil sie zweifellos
ueberaus deutsch ist.
"Aus der Geschichte lernen" zu wollen, ist vergebliche Liebesmueh, wie
schon das Scheitern aller Versuche, den Deutschen endlich Hitlers
Autobahnen aus dem Kopf zu schlagen, zur Genuege beweist. Nicht eine
bloede Reprise der Geschichte bahnt sich an, sondern der
Wiederholungszwang macht sich Luft, dem die kapitalistische
Vergesellschaftung in ihren Katakomben bestaendig Futter gibt.
Waehrend die Feuilletons den Rassismus, wie unter Paedagogen ueblich,
zum psychologisch verstaendlichen "Vorurteil" ueber den "Fremden" und
"Anderen" stilisieren, und waehrend sie ihn, wie unter Soziologen
beliebt, als Ausdruck "relativer Unterprivilegierung" sich
zurechtbiegen, ignorieren sie konsequent seinen zutiefst politischen
Charakter. Es scheint, als haetten die Soziologen, Psychologen und
Politologen klammheimlich darauf sich verstaendigt, ihren geballten
Sachverstand ganz allein zum Beweis des Wunsches zu verausgaben, dass
alles verstehen alles vergeben heisst. Als Aufstand fuer die Ordnung,
als konformistische Rebellion gegen die Regierung und fuer den Staat
findet der Rassismus fuer Demokraten nicht statt. Hitler, der, nach
einem Wort Theodor W. Adornos, "wie kein anderer Buerger das Unwahre
am Liberalismus durchschaute", ist der immer noch verleugnete
Doppelgaenger des demokratischen Staates.
Der in Verruf geratene Satz, dass, wer vom Kapitalismus nicht reden
wolle, vom Faschismus gefaelligst zu schweigen habe, meinte die
toedliche Konsequenz jener Subjektivitaet, die die Verwertung des
Kapitals als Zwangsjacke ihrer Selbsterhaltung den Menschen
aufherrscht. Deren Krise ist die begriffslose Selbstkritik des
politischen Systems der Freiheit und Gleichheit als einer unmoeglichen
Gesellschaftsform. Denn frei und gleich sind die Menschen nicht, wie
der Liberalismus verspricht, wie sie gehen und stehen, sondern als
Subjekte, d.h. als Privateigentuemer und Marketing-Direktoren ihrer
Arbeitskraft, der einzigen Ware, mit der sie auf eigenes Risiko zu
wuchern haben. Das Menschenrecht ist alles andere als ihr Recht und
vielmehr der juristische Inbegriff aller Zumutungen, die die
Verwertung gegen die Individuen geltend macht. Genau hier setzte der
haemische Egalitarismus der Nazis den Hebel an. "Menschenrecht bricht
Staatsrecht", heisst es in Hitlers "Mein Kampf": Das verwirklichte den
Liberalismus mit den Mitteln seiner Vernichtung. Weil der Einzelne
nur als kapitalproduktives und staatsloyales Subjekt von Belang ist,
weil seine Existenz fuer den Fortgang des Betriebs herzlich egal ist,
weil seine allseits gelobte "Identitaet" nicht die seine ist und ganz
im Gegenteil davon abhaengt, ob ueberhaupt und wozu er taugt, weil
daraus summa summarum folgt, dass seine "Anthropologie" nur in der
jedem Einzelnen vertrauten, allgemein bekannten und genau darum
kollektiv verdraengten Angst davor wurzelt, seiner insgeheim laengst
geahnten sozialen Ueberfluessigkeit auch noch oeffentlich ueberfuehrt zu
werden - eben darum fuehlt er sich genoetigt, "ein Deutscher" zu sein,
vorauseilenden Gehorsam zu beweisen und die Flucht nach vorn
anzutreten. Die sozialen Schichten im deutschen Westen, die ihre
Tauglichkeit fuer die mutmasslichen zukuenftigen Zwecke ihres Staates
heute schon unter Beweis stellen wollen - die rechtsextremistischen
"Protestwaehler" also, denen die liberale Oeffentlichkeit alles andere
unterstellen mag als ausgerechnet bewussten Neofaschismus -,
rekrutieren sich aus den sensibelsten Teilen des deutschen Volkes:
aus der auf dem Arbeitsmarkt unverkaeuflichen Jugend, aus den
Eigenheimbesitzern des Stuttgarter "Speckguertels", die befuerchten,
das die Inflation das muehsam Zusammengeraffte schmelzen laesst wie Eis
in der Sonne, aus den Polizisten und Militaers, die als Spezialisten
fuer koerperliche Gewalt schon immer den siebten Sinn fuer die
Beduerfnisse des Staates besassen, dazu aus den Proleten und der neuen
Massenarmut, in deren "Neue Heimat" die Fluechtlinge absichtlich
hineingepresst werden, um dem Asylrecht sodann mit Volkes Stimme den
Garaus zu machen. So entsteht der Poebel, der vom Staat als
Schwungmasse in Richtung Diktatur benoetigt werden wird. Im Osten
dagegen liegen die Dinge einfacher: Wer kein anderes Argument dafuer
beibringen konnte, am demokratischen Wohlstand zu partizipieren als
ausgerechnet das, "deutsch" zu sein, wird nie vergessen, wer "das
Volk" in Wahrheit ist. Mord und Totschlag sind daher das gebotene
Mittel, sich um einen Posten beim Staat zu bewerben, die integrative
Kraft des Gruendungsverbrechens zu erneuern und sich zum Dank fuer
unabkoemmlich erklaeren zu lassen.
"Es ist offenbar", schrieb der Anarchokommunist Michail Bakunin vor
ueber einem Jahrhundert, "dass alle sogenannten allgemeinen Interessen
der Gesellschaft, die der Staat angeblich vertritt, eine Abstraktion,
eine Fiktion, eine Luege bilden und dass der Staat gleichsam eine grosse
Schlaechterei und ein ungeheuerer Friedhof ist". Keine
kapitalistische Gesellschaft hat leidenschaftlicher und
unnachgiebiger daran gearbeitet, diese Luege wahrzumorden, als die der
Deutschen. Und es sieht ganz und gar nicht danach aus, als wuerde sie
jemals von ihrem Wahn ablassen koennen.
aus: J.Bruhn, Was deutsch ist
© Martin Blumentritt, Hamburg


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