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Beiträge zur Theorie  










Martin Blumentritt

Einfuehrung Lukacs: Geschichte und Klassenbewusstsein - Das Problem der Verdinglichung

Georg Lukacs' "Geschichte und Klassenbewußtsein" gehört zu den Klassikern linker Theoriebildung, ohne die der ganze "westliche Marxismus" nicht möglich gewesen wäre. Die ganze Kritische Theorie und Denker wie Hans-Jürgen Krahl (SDS-Frankfurt) ist unverständlich ohne die Rezeption und Kritik des jungen Lukacs. Hier beginnt ein Strand an Marx orientierter Theoriebildung, der sich toto coelo von dem beim späten Engels und Lenin anknüpfender dogmatisierten Marxismus unterscheidet. Nun gehört Geschichte und Klassenbewußtsein nicht zu den einfachsten Schriften. Daher eine - wohl auch nicht ganz leichte, aber immer noch verständliche - Einführung. Da ich der Auffassung bin, daß man die Verblödung den Rechten überlassen sollte, poste ich den 1988 an der (heute) Universität Lüneburg gehaltenen Vortrag.

Einleitung

Die Krise des bürgerlichen Selbstbewußtseins, wie sie zuerst wohl in der Philosophie Nietzsches sich reflektiert, welche insbesondere die Soziologie Max Webers und die Lebensphilosophie Georg Simmels inspirierte, hatte die weltweite Expansion des Kapitalismus zum mehr oder weniger bewußten Erfahrungsgehalt. Nicht nur wurden die traditionalen Lebensformen zersetzt, sondern auch die klassische idealistische Kultur. Folgende Passage aus Nietzsches fröhlicher Wissenschaft gibt etwas wieder von der Grundstimmung der Epoche :

"Ebenso steht es mit jenem Glauben, mit dem sich jetzt so viele materialistische Naturforscher zufrieden geben, dem Glauben an eine Welt, welche im menschlichen Denken, in menschlichen Wertbegriffen ihr Äquivalent und Maß haben soll, an eine »Welt der Wahrheit«, der man mit Hilfe unserer viereckigen kleinen Menschenvernunft letztgültig beizukommen vermöchte - wie? wollen wir uns dergestalt das Dasein zu einer RechenknechtsÜbung und Stubenhockerei für Mathematiker herabwürdigen lassen? Man soll es vor allem nicht seines vieldeutigen Charakters entkleiden wollen: das fordert der gute Geschmack, meine Herren, der Geschmack der Ehrfurcht vor allem, was über euren Horizont geht!"(1)

Die Kritik der mathematischen Naturwissenschaften als Verdinglichung, wie die Kritik der Rationalisierung, der kapitalistischen Moderne, war im 19.Jahrhundert nicht unüblich. Sie knüpft direkt an der klassisch-idealistischen Philosophie Schellings und Hegels an, deren Kritik an der Verstandesrationalität sie zu einer an der Subjekt-Objekt-Verkehrung transformieren, die an der "zweiten Natur". So auch der - noch nicht von Marx beeinflußte - Simmel- Schüler Lukacs:

"Die zweite Natur der Menschengebilde hat keine lyrische Substantialität: ihre Formen sind zu starr, um sich dem symbolschaffenden Augenblick anzuschmiegen; der inhaltliche Niederschlag ihrer Gesetze ist zu bestimmt, um die Elemente, die in der Lyrik zu essayistischen Veranlassungen werden müssen, je verlassen zu können; diese Elemente aber leben so ausschließlich von der Gnade der Gesetzlichkeiten, haben so gar keine von ihnen unabhängige sinnlich Valenz des Daseins, daß sie ihnen in Nichts zerfallen müssen. Diese Natur ist nicht stumm, sinnfällig und sinnesfremd, wie die erste: sie ist ein erstarrter, fremdgewordener, die Innerlichkeit nicht mehr erweckender Sinneskomplex; sie ist eine Schädelstätte vermoderter Innerlichkeiten und wäre deshalb - wenn dies möglich wäre - nur durch den metaphysischen Akt einer Wiedererweckung des Seelischen, das sie in ihrem früheren oder sollenden Dasein erschuf oder erhielt, erweckbar, nie aber von einer anderen Innerlichkeit belebbar."(2)

Die Thematisierung der Verdinglichung losgelöst von ihrem gesellschaftlichen Realgrund gehörte zum Zeitgeist des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Die einzige Ausnahme bildete Marx, der das dialektische Verhältnis von ökonomischen Realgrund und Erkenntnisgrund, von Warenform und Denkform, nicht nur in dem berühmten Kapitel über den Fetischcharakter der Ware thematisierte. Die spätbürgerliche Kulturkritik thematisierte das Problem der Verdinglichung unabhängig von ihrem Realgrund, dafür aber - was die phänomenale Ebene angeht - wesentlich differenzierter. Dies kritisiert wie anerkennt der Lukacs von Geschichte und Klassenbewußtsein am Beispiel Simmel:

"Und genauso wie die Ökonomie des Kapitalismus in dieser ihrer selbst geschaffenen Unmittelbarkeit stehen bleibt, so auch die bürgerlichen Versuche, sich das ideologische Phänomen der Verdinglichung bewußt zu machen. Sogar Denker, die das Phänomen selbst keineswegs verleugnen oder verwischen wollen, ja mit seinen menschlich verheerenden Wirkungen mehr oder weniger im Klaren sind, bleiben bei der Analyse der Unmittelbarkeit der Verdinglichung stehen und machen keinen Versuch, von den objektiv abgeleitetsten, vom eigentlichen Lebensprozeß des Kapitalismus entferntesten, also von den am meisten veräußerlichten und entleerten Formen zu dem Urphänomen der Verdinglichung vorzudringen. Ja sie lösen diese entleerten Erscheinungsformen von ihrem kapitalistischen Naturboden ab, verselbständigen und verewigen sie als ein zeitlosen Typus menschlicher Beziehungsmöglichkeiten überhaupt. (Am deutlichsten zeigt sich diese Tendenz in dem in Einzelheiten sehr interessanten und scharfsinnigen Buch Simmels »Die Philosophie des Geldes«.) Sie geben eine bloße Beschreibung dieser »verzauberten, verkehrten und auf den Kopf gestellten Welt, wo Monsieur le Capital und Madame la Terre als soziale Charaktere und zugleich unmittelbar als bloße Dinge ihren Spuk treiben«."(3)

Das Phänomen der Verdinglichung ist demnach weder auf die Sphäre der Ökonomie beschränkt, noch kann es unabhängig vom gesellschaftlichen Realgrund begriffen werden. Die ökonomischen Kategorien der Kritik der politischen Ökonomie sind ja nicht ökonomistisch zu begreifen, sie stellen reale Verhältnisse von als Charaktermasken fungierenden Personen dar. Entscheidend ist dabei das Verhältnis von Einheit und Mannigfaltigkeit. Der Kapitalismus ist - in heutiger Terminologie ausgedrückt - funktional ausdifferenziert und kann nicht als von einem zentralen Punkt steuerbar begriffen werden, daher erweist sich auch jede Staatsintervention nur post festum als richtig oder unrichtig, systemerhaltend oder als Störfaktor. Insbesondere der Umkreis individuellen Handelns und dessen Reflexionsform ist dadurch ausgezeichnet, daß es niemals unmittelbar eine universelle Dimension hat. Die Individuen können als ihr als eigenstes Handeln gedeutete Handeln nicht als gesellschaftlich durchschauen, weil die Konstitution des Allgemeinen durch die individuellen Aktionen hindurch erfolgt, nicht als bewußter Akt, d.h. sie erfolgt bewußtlos. Dennoch sind alle individuellen Aktionen so beschaffen, daß sie in letzter Instanz zusammenstimmen. In letzter Instanz: das bedeutet durch Krisen wird hinterrücks die Einheit des Ganzen hergestellt, so daß es, wenn nicht um eine prästabilierte Harmonie, so doch um eine prästabilierte Disharmonie handelt.

Die Isoliertheit aller Aktionen, ihre Gleichgültigkeit voneinander, erzeugt den Schein ihrer Individualität, aber die Notwendigkeit ihrer »Anschlußfähigkeit« gegenüber anderen Interaktionen, ob sie vom betroffenen Individuum nun eingesehen wird oder nicht, zwingt ihnen bewußtlos eine allen identische Form auf. So lassen die Formen des Warentausches auch in außerökonomischen Sphären sich aufweisen. Dazu sei Simmel zitiert:

"Das Geld stellt Handlungen und Verhältnisse des Menschen so außerhalb des Menschen als Subjekts, wie das Seelenleben, soweit es rein intellektuell ist, aus der persönlichen Subjektivität in die Sphäre der Sachlichkeit, die es nun abspiegelt, eintritt. Damit ist ersichtlich ein Überlegenheitsverhältnis angelegt. Wie der, der das Geld hat, dem überlegen ist, der die Ware hat, so besitzt der intellektuelle Mensch als solcher eine gewisse Macht gegenüber dem, der mehr Gefühle und Impulse lebt. Denn soviel wertvoller des letzteren Gesamtpersönlichkeit sein mag, so sehr seine Kräfte in letzter Instanz jenen überflügeln mögen - er ist einseitiger, engagierter, vorurteilsvoller als jener, er hat nicht den souveränen Blick und die ungebundenen Verwendungsmöglichkeiten über alle Mittel der Praxis wie der reine Verstandesmensch. Aus diesem Überlegenheitsmoment heraus, in dem das Geld und die Intellektualität durch ihre Objektivität gegenüber jedem singulären Lebensinhalt zusammentreffen, hat Comte in seinem Zukunftsstaat an die Spitze der weltlichen Regierung die Bankiers gestellt, das sie die Klasse der allgemeinsten und abstraktesten Funktionen bildeten. Und dieser Zusammenhang klingt schon bei den mittelalterlichen Gesellenverbänden an, in denen der Seckelmeister zugleich der Vorstand der Bruderschaft zu sein pflegt.

Diese Begründung der Korrelation zwischen Intellektualität und geldmäßiger Wirtschaft auf die Objektivität und charakterologische Unbestimmtheit, die beiden gemeinsam wären, begegnet nun aber einer entschiedenen Gegeninstanz. Neben der unpersönlichen Sachlichkeit nämlich, die der Intelligenz ihren Inhalten nach eigen ist, steht eine äußerst enge Beziehung, die sie gerade zur Individualität und zum ganzen Prinzip des Individualismus besitzt; das Geld seinerseits, so sehr es die impulsiv-subjektivistischen Verfahrensweisen in überpersönliche und sachlich normierte überführt, ist dennoch die Pflanzstätte des wirtschaftlichen Individualismus und Egoismus."(4)

Die letzte Formulierung ist bereits sehr nahe an der Thematisierung des dialektischen Verhältnisses von gesellschaftlichem Realgrund und Erkenntnisgrund und beinhaltet mehr Einsichten als die Unterstellung, daß der Sozialismus eine Verfassung der Gesellschaft anstrebe, "in der der Nützlichkeitswert der Objekte, im Verhältnis zu der darauf verwendeten Arbeitszeit, eine Konstante bildet"(5), was das vom Marx am Kapitalismus Kritisierte als sozialistische Norm ausgibt.

Lukacs vollzieht seine Kritik an der Verdinglichung in drei Schritten, die wir im Folgenden nachvollziehen. Der erste beginnt mit dem Phänomen der Verdinglichung und schreitet fort zu seinem Wesen, der zweite thematisiert die Antinomien die aus der Verdinglichung sich ergeben anhand der klassischen idealistischen Philosophie, der dritte intendiert die praktische Aufhebung der Antinomie durch das Proletariat aufzuweisen. Daß Lukacs der von ihm aufgewiesenen Antinomie dann selbst erliegt, gilt es dann an Ort und Stelle aufzuweisen.

Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats

Das Phänomen der Verdinglichung

Das Problem der Verdinglichung weist - wie erwähnt - auf das des Warenfetischismus. Es taucht jedoch nicht in allen Gesellschaften auf, wo Waren getauscht werden, sondern nur im modernen Kapitalismus. Dies ist nicht nur eine quantitative Frage, der Anzahl von Tauschakten, sondern eine qualitative:

"Der Unterschied zwischen einer Gesellschaft, in der die Warenform die herrschende, alle Lebensäußerungen entscheidend beeinflussende Form ist, und zwischen einer, in der sie nur episodisch auftritt, ist vielmehr ein qualitativer Unterschied. Denn sämtliche subjektive wie objektive Erscheinungen der betreffenden Gesellschaften erhalten diesen Unterschied gemäß qualitative verschiedenen Gegenständlichkeitsformen."(6)

Marx hatte drei Formen von Warenaustausch unterschieden: 1. den punktuellen Warenaustausch (7), 2. Warenaustausch, der zersetzend auf das Innere des Gemeinwesen einwirkt (8) und 3. die Warenform als konstitutive Form der Gesellschaft. Nur um die dritte Form geht es Lukacs.

Die marxsche Kapitalanalyse beginnt mit einer Gesellschaft, in der aller Reichtum - auch das menschliche Arbeitsvermögen - als Ware erscheint, d.h. in der Form partikulares Dinge erscheint. Dies ist jedoch nur die scheinhafte Gestalt von ursprünglich menschlichen Beziehungen, wie sie historisch noch im Handelskapital etc. durchschaubarer waren. Die anamnetische Verfaßtheit der Vernunft, ihre Fähigkeit der Erinnerung ist so ein wesentliches Moment der Gesellschaftsanalyse, wie sie in »Geschichte und Klassenbewußtsein« entfaltet wird.

"Und diese Entwicklung der Warenform zur wirklichen Herrschaftsform der gesamten Gesellschaft ist erst in dem modernen Kapitalismus entstanden. Darum ist es nicht weiter verwunderlich, daß der Personalcharakter der ökonomischen Beziehungen noch zu Beginn der kapitalistischen Entwicklung manchmal relativ klar durchschaut wurde, daß aber, je weiter die Entwicklung fortschritt, je komplizierter und vermitteltere Formen entstanden sind, ein Durchschauen der dinglichen Hülle immer seltener und schwerer geworden ist."(9)

Das gesellschaftliche Verhältnis der Menschen, so Marx, nimmt die Form des Verhältnisses von Dingen an. D.h. die menschliche Tätigkeit erscheint in ihrer resultativen Form als etwas von der menschlichen Tätigkeit Unabhängiges, sie nimmt die Form »zweiter Natur« an.

"An dieser struktiven Grundtatsache ist vor allem festzuhalten, daß durch sie dem Menschen seine eigene Arbeit als etwas Objektives, von ihm Unabhängiges, ihn durch menschenfremde Eigengesetzlichkeit Beherrschendes gegenübergestellt wird. U.z. geschieht dies sowohl in objektiver wie in subjektiver Hinsicht. Objektiv, indem eine Welt von fertigen Dingen und Dingbeziehungen entsteht (die Welt der Waren und ihrer Bewegung auf dem Markte), deren Gesetze zwar allmählich von den Menschen erkannt werden, die aber auch in diesem Falle ihnen als unbezwingbare, sich von selbst auswirkende Mächte gegenüberstehen. Ihre Erkenntnis kann zwar vom Individuum zu seinem Vorteil ausgenützt werden, ohne daß es ihm auch dann gegeben wäre, durch seine Tätigkeit eine verändernde Einwirkung auf den realen Ablauf selbst auszuüben."(10)

Arbeit ist in diesem Zusammenhang nicht als isolierte Subjekt-Objekt- Beziehung aufgefaßt, als Beziehung des Menschen zu den natürlichen Bedingungen seiner Existenz. Es ist gemeint: Arbeit immer schon in Beziehung zu anderen Personen, d.h. die Arbeitsteiligkeit - nicht nur als innerbetriebliche, sondern auch die gesellschaftliche Arbeitsteilung ist mitgedacht. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß Lukacs auch von einer Vergegenständlichung der Warenform spricht und die marxsche Differenzierung von Entäußerung und Vergegenständlichung hegelianisierend - er spricht im Vorwort von 1967 selbst von "Überhegeln Hegels"(11) - einebnet:

"Die Universalität der Warenform bedingt also sowohl in subjektiver wie in objektiver Hinsicht eine Abstraktion der menschlichen Arbeit, die sich in den Waren vergegenständlicht."(12)

Wenn Lukacs in diesem Zusammenhang von «Gegenständlichkeitsform» de Objekte und Subjekte spricht, so ist dies durchaus auch im neukantianischen Sinne zu verstehen.


Gegenstandstheorie des Neukantianismus (Natorp)

Paul Natorp spricht von Gegenständen als Produkt einer bewußtlosen Abstraktion, die deren Ansichsein suggerieren. Es ist zu bedenken, daß hier in allgemeineren Sinne von Gegenständen, nicht bloß von Gegenständen, die Produkt von Geschichte sind, die Rede ist.

"Das Ansichsein des Gegenstandes ist selber ein Räthsel, kann also nicht dienen, das aufgegebene Räthsel zu lösen. Verständen wir, was es heisst: der Gegenstand ist an sich da, unabhängig von aller Subjectivität, und wird dann, durch das Erkennen, unserer Subjectivität angeeignet, so läge in der Erkenntnis der Gegenstände, in der Gegenständlichkeit der Erkenntnis kein Problem.

Und so wird man von selbst darauf geführt, die Auflösung vielmehr auf dem umgekehrten Wege zu suchen. Nicht vom Gegenstande, der ja nicht gegeben, sondern in Frage ist, hat man den Ausgang zu nehmen und von ihm aus, in Beziehung auf ihn, das subjective Erkennen begreiflich zu machen; sondern man muss sich zunächst auf den Standpunkt der Erkenntnis stellen und fragen, wie sie selbst, die Erkenntnis, die Gegenständlichkeit versteht, wie sie es anstellt, und was es ihr bedeutet, wenn sie den Gegenstand, als von der Subjectivität des Erkennens unabhängig, sich gegenüberstellt."(13)

"Nur erscheint (...) die Gegenständlichkeit selber zunächst fast mehr denn je bedroht, indem, was Gegenstand sei, doch nur aus dem Gesichtspunkte der Erkenntnis, mithin der Subjectivität, bestimmt zu werden scheint. Erkenntnis selbst stellt, gleichsam aus eigener Machtvollkommenheit, nur ihrem Gesetz gehorchend, den Gegenstand sich gegenüber;(...)

(...) das Ansichsein des Gegenstands kann verständlicherweise nur die Abstraction von der Subjektivität bedeuten, deren Recht und Nothwendigkeit nur als ganz selbstverständlich, keiner Begründung bedürftig angesehen wird. Thatsächlich vollzieht sich ja diese Abstraction auf ganz unreflectirte Weise; und so scheint der Gegenstand voraus da und gegeben, nicht erst auf dem Wege der Abstraction gewonnen zu sein."(14)

Diese Denkfigur, die man bei Fichte, dem Schelling der Identitätsphilosophie und Hegel findet, verfehlt zwar auch hier die Intention der negativen Metaphysik Kants, an der der Neukantianismus kein Interesse hatte, weil er die Kantische Kritik der reinen Vernunft auf die Begründung mathematischer Naturwissenschaft reduziert, um sie dann um eine Kulturwissenschaft ergänzen zu können. Dennoch läßt das Problem der Verdinglichung in diesen Kategorien sich thematisieren, weil die Form, wie entäußerte, verdinglichte Phänomene, zustande kommen, durch bewußtlose Abstraktion, identisch ist mit dem bei Natorp und dem klassischen Idealismus Thematisierten. Die versteinerte Gegenständlichkeitsform soll demnach durch Bewußtmachung der Genesis, also durch Reflexion auf den Realgrund der reifizierten Beziehungen der Menschen, zerschlagen werden.

Lukacs vollzieht nun nicht alle Reflexionsschritte der drei Bände des Marxschen Kapitals nach, sondern knüpft an der Thematisierung einer bestimmten Form der materiellen Produktion, der unter das Kapital reell subsumierten Arbeit an. Der Zusammenhang der partikulären Arbeiten erscheint Marx zufolge in folgender Weise:

"Der Zusammenhang ihrer (der Lohnarbeiter) Funktionen und ihre Einheit als produktiver Gesamtkörper liegen außer ihnen, im Kapital, das sie zusammenbringt und zusammenhält. Der Zusammenhang ihrer Arbeiten tritt ihnen daher ideell als Plan, praktisch als Autorität des Kapitalisten gegenüber, als Macht eines fremden Willens, der ihr Tun seinem Zweck unterwirft."(15)

Nicht die einzelnen Kapitaleigentümer und deren Funktionäre, sondern der Funktionszusammenhang des gesellschaftlichen Gesamkapitals erzwingt die bestimmten Formen betrieblicher und juristischer, staatlicher etc. Organisation.

Gegenüber Marxens Zeiten hat sich diese universalisiert und auch die akademische Soziologie war gezwungen dies zu thematisieren. Eine der avancierten Formen der Thematisierung, auf die Lukacs sich bezieht, ist die Theorie der Rationalisierung Webers, die er auf den gesellschaftlichen Realgrund des Phänomens der Rationalisierung und dem Prinzip der Kalkulation bezieht.


Theorie der Rationalisierung (Max Weber)

Weber verweist auf die strukturelle Homologie des kapitalistischen Betriebs mit dem des Staats. In dem Aufsatz »Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland«, den Lukacs auch heranzieht, schreibt Weber:

"Der moderne kapitalistische Betrieb ruht innerlich vor allem auf der Kalkulation. Er braucht für seine Existenz eine Justiz und Verwaltung, deren Funktionieren wenigstens im Prinzip ebenso an festen generellen Normen rational kalkuliert werden kann, wie man die voraussichtliche Leistung einer Maschine kalkuliert."(16)

Eine bestimmte rationale Form des Staats ist demnach Bedingung kapitalistischer Produktion. Dabei ignoriert er weder den herrschaftlichen Charakter des Staates noch den des Betriebs:

"Ein »Betrieb« ist der moderne Staat, gesellschaftswissenschaftlich angesehen, ebenso wie eine Fabrik: das ist gerade das historisch Spezifische. Und gleichartig bedingt ist auch das Herrschaftsverhältnis innerhalb des Betriebs hier und dort. Wie die relative Selbständigkeit des Handwerkers oder Hausindustriellen, des grundherrlichen Bauern, des Kommendatars, des Ritters und Vasallen darauf beruhte, daß er selbst Eigentümer der Werkzeuge, der Vorräte, der Geldmittel, der Waffen war, mit deren Hilfe er seinen ökonomischen, politischen, militärischen Funktion nachging und von denen er während deren Ableistung, so beruht die hierarchische Abhängigkeit des Arbeiters, Kommis, technischen angestellten, akademischen Institutsangestellten und des staatlichen Beamten und Soldaten ganz gleichmäßig darauf, daß jene für den Betrieb und die ökonomische Existenz unentbehrlichen Werkzeuge, Vorräte und Geldmittel in der Verfügungsgewalt, im einen Fall: des Unternehmers, im anderen: des politischen Herrn konzentriert sind. (...) Diese entscheidende ökonomische Grundlage: die »Trennung« des Arbeiters von den sachlichen Betriebsmitteln: den Produktionsmitteln in der Wirtschaft, den Kriegsmitteln im Heer, den sachlichen Verwaltungsmitteln in der öffentlichen Verwaltung, den Forschungsmitteln im Universitätsinstitut und Laboratorium, den Geldmitteln bei ihnen allen, ist dem modernen macht- und kulturpolitischen und militärischen Staatsbetrieb und der kapitalistischen Privatwirtschaft gemeinsam."(17)

Lukacs reflektiert auf die spezifische Rationalitätsstruktur kapitalistischer Rationalisierung, des Auseinanderfallens von formaler und materialer Rationalität, von Allgemeinem und Besonderem. Wie dem Warenbesitzer der Gebrauchswert der Ware gleichgültig ist, mit Ausnahme des Gebrauchswerts der Arbeitskraft, den Wert seiner selbst als Ware um den Mehrwert zu erhöhen, so ist der formalen Rationalität ihr Inhalt gleichgültig, sie ist eine prozedurale Rationalität, der ihr ontisches Substrat gleichgültig ist, gleichwohl jene dieses verändert. Ohne den realen Vermittlungsprozeß zu kennen, noch kennen zu müssen, handeln die Individuen, wenn man sie noch so nennen mag, solipsistisch, sie sind atomisiert. Der Vermittlungszusammenhang kann auch nicht von einer zentralen Stelle bewußt gelenkt werden, dennoch besteht er, d.h. er ist ein Zusammenhang, der sich hinter dem Rücken der Beteiligten herstellt, damit die partikulären - für das Ganze notwendigen - Funktionen in prästabilierter Disharmonie zusammenstimmen. Über den Mechanismus der Krise werden die immer wieder auftretenden Störungen beseitigt, wobei nicht feststeht, ob die betroffenen Individuen Schaden erleiden oder ihren Profit oder Lohn erhöhen. Nur im Durchschnitt im Allgemeinen findet eine Gesetzmäßigkeit statt, so daß die Isoliertheit aller Akte nicht bloß real, sondern auch Schein ist:

"Die Bewegung der Waren am Markte, das Entstehen ihres Wertes, mit einem Wort der reale Spielraum einer jeden rationellen Kalkulation ist nicht nur strengen Gesetzen unterworfen, sondern setzt als Grundlage der Kalkulation eine strenge Gesetzmäßigkeit der Kalkulation eine strenge Gesetzmäßigkeit alles Geschehens voraus. Diese Atomisierung des Individuums ist also nur der bewußtseinsmäßige Reflex dessen, daß die »Naturgesetze« der kapitalistischen Produktion sämtliche Lebensäußerungen der Gesellschaft erfaßt haben, daß - zum erstenmal in der Geschichte - die ganze Gesellschaft wenigstens der Tendenz nach, einem einheitlichen Wirtschaftsprozesse untersteht, daß das Schicksal aller Glieder der Gesellschaft von einheitlichen Gesetzen bewegt wird."(18)

Diese Gesetze sind nach der Einsicht Engels zufolge Gesetze des Zufalls. Da die Einzelereignisse, die Tauschakte etc., anschlußfähig sein müssen, ist die Temporalisierung durch eine abstrakte Zeitökonomie notwendig, die die Teilsysteme kennzeichnet, sie müssen Zeit sparen oder - was dasselbe ist - die Produktivität der Prozesse erhöhen durch Erhöhung der technischen Zusammensetzung der Produktionsmittel. Dies erfordert eine enorme funktionelle Ausdifferenzierung:

"Rationalisierung ist undenkbar ohne Spezialisierung. Das Einheitliche Produkt als Gegenstand des Arbeitsprozesses verschwindet. Der Prozeß wird zu einer objektiven Zusammenfassung rationalisierter Teilsysteme, deren Einheit rein kalkulatorisch bestimmt ist, welche also einander gegenüber als zufällig erscheinen müssen. Die rationell- kalkulatorische Zerlegung des Arbeitsprozesses vernichtet die organische Notwendigkeit der aufeinander bezogenen und im Produkt zur Einheit verbundenen Teiloperationen. Die Einheit des Produkts als Ware fällt nicht mehr mit seiner Einheit als Gebrauchswert zusammen: die technische Verselbständigung der Teiloperationen, als wachsende Relativierung des Warencharakters eines Produkts auf den verschiedenen Stufen seines Hervorbringens aus. Wobei mit dieser Möglichkeit eines raum-zeitlichen usw. Auseinanderreißens der Produktion eines Gebrauchswerts die raum-zeitliche usw. Verknüpfung von Teilmanipulationen, die wiederum auf ganz heterogene Gebrauchswerte bezogen sind, Hand in Hand zu gehen pflegt."(19)

Die Einheit der Mannigfaltigkeit wird also nicht mehr empirisch gestiftet und entzieht sich der unmittelbaren Erfahrung. Die menschlichen Eigenschaften sind daher auch gleichgültig im Produktionsprozeß, sie sind nur Fehlerquellen der kalkulierbaren Funktionsabläufe eines Systems, dem der Einzelne sich kontemplativ gegenüber verhält. Die Norm abstrakter, nichtempirischer Zeit gegenüber der psychologischen Zeit oder der von natürlichen Abläufen wie Jahrezeiten, wird der Arbeit aufgezwungen. Jede Stunde ist gleich gültig und damit gleichgültig.

"Die Zeit verliert damit ihren qualitativen, veränderlichen, flußartigen Charakter: sie erstarrt zu einem genau umgrenzten, quantitativ meßbaren »Dingen« (den verdinglichten, mechanisch objektivierten, von der menschlichen Gesamtpersönlichkeit genau abgetrennten »Leistungen« des Arbeiters) erfüllten Kontinuum: zu einem Raum. In dieser abstrakten, genau meßbaren, zum physikalischen Raum gewordene Zeit als Umwelt, die zugleich Voraussetzung und Folge der wissenschaftlich-mechanisch zerlegten und spezialisierten Hervorbringung des Arbeitsobjekts ist, müssen die Subjekte ebenfalls dementsprechend zerlegt werden."(20)

Von hier aus kann Lukacs eine Analogie zur Philosophie Kants konstruieren. Für Kant ist die Zeit Anschauung, "weil alle Verhältnisse sich an einer äußeren Anschauung ausdrücken lassen"(21).Aufgrund ihrer Gestaltlosigkeit wird Kant zufolge die "Zeitfolge durch eine ins Unendliche fortgehende Linie" vorgestellt, d.h. verräumlicht. Natur wird als ein auf in räumlichen Koordinatensystemen darstellbaren Gesetzeszusammenhang aufgefaßt, der in Differenzialgleichungssystemen berechnet werden kann. Was sie qualitativ, was sie für sich selbst sonst noch sein mag, das entzieht sich der naturwissenschaftlichen Erkenntnis. Der Modus der Erkenntnis wurde im Deutschen Idealismus "Vorstellen" genannt und dem Verstand zugeordnet, im Unterschied zum "Begreifen", das der Vernunft zugeordnet wurde.

Lukacs beruft sich auf die Hegelsche Kritik am Kantischen Dingen an sich und identifiziert die Position des Verstandes mit der bürgerlichen Schranke:

"Es ist bereits (...) darauf hingewiesen worden, daß die Krise das Problem ist, das dem ökonomischen Denken des Bürgertums eine unübersteigbare Schranke setzt. Wenn wir nun - unserer Einseitigkeit voll bewußt - diese Frage einmal vom rein methodischen Standpunkt betrachten, so erweist es sich, das gerade das Gelingen der restlosen Durchrationalisierung der Ökonomie, ihr Verwandeltsein in ein abstraktes, möglichst mathematisierbares Formsystem von »Gesetzen« die methodische Schranke für die Begreifbarkeit der Krise bildet. Das qualitative Sein der »Dinge«, das als unbegriffenes und ausgeschaltetes Ding an sich, als Gebrauchswert sein außerökonomisches Leben führt, das man während des normalen Funktionierens der ökonomischen Gesetze ruhig vernachlässigen zu können meint, wird in den Krisen plötzlich (plötzlich für das verdinglichte, rationelle Denken) zum ausschlaggebenden Faktor."(22)

Von hier aus begreift Lukacs die Philosophiegeschichte des Deutschen Idealimus von Kant bis Hegel.


Die Antinomien des bürgerlichen Bewußtseins

Die Verdinglichung und die Schranken des bürgerlichen Bewußtseins führt Lukacs auf ihren Realgrund zurück, aus dem verdinglichten Bewußtsein wiederum die idealistische Philosophie. Ob er dabei konsequent genug ist oder, ob er letzlich jenen von ihm diagnostizierten Schranken selbst verfällt, ist noch einzugehen. Dabei ignoriert er nicht die Eingebundenheit neuzeitlicher Philosophie in Tradition, legt aber Wert auf die spezifische historische Differenz.

Von der kopernikanische Wende zum hiatus irrationalis

"Aus der verdinglichten Struktur des Bewußtseins ist die moderne kritische Philosophie entstanden. Aus ihr entstammen ihre spezifischen Probleme den früheren philosophischen Fragestellungen gegenüber. Eine gewisse Ausnahme bildet bloß die griechische Philosophie. Auch dies nicht zufällig. Denn das Phänomen der Verdinglichung hat auch in der entwickelten griechischen Gesellschaft eine Rolle gespielt. Aber dem ganz anders gearteten gesellschaftlichen Sein entsprechend, sind die Fragestellungen und Lösungen der antiken Philosophie von denen der modernen doch qualitativ verschieden."(23)

Die qualitative Differenz drückt sich in der "kopernikanischen Wende"(24) aus, die von Kant radikalisiert wurde. Lukacs sieht sie in der Tradition von Descartes bis Kant als vollzogen an. Demnach richtet die Erkenntnis sich nicht nach den Gegenständen, sondern die Gegenstände nach unserer Erkenntnis. Der naive Realismus des Empirismus wurde von Kant bekanntlich kritisiert. Der Auffassung, alle Erkenntnis hätte ihre Quelle allein in der sinnlicher Erfahrung, wurde bereits vom Humeschen Skeptizismus der Boden entzogen. Nach Hume sind die Wahrnehmungen zwar verläßlich, nicht jedoch ihre Verknüpfung, die aus der Wahrnehmung nicht sich ergibt. Demnach darf aus der Gewohnheit, einem Ereignis immer wieder ein anderes folgen zu sehen, nicht auf die Notwendigkeit ihrer Abfolge zu schließen:

"Die Vernunft kann uns niemals überzeugen, daß die Existenz eines beliebigen Gegenstandes die eines anderen in sich schließe. Wir werden also, wenn wir vom Eindruck eines Gegenstandes zu Vorstellung oder zum Glauben an einen anderen übergehen, nicht durch die Vernunft, sondern durch die Gewohnheit oder ein Prinzip der Vorstellungsverknüpfung geleitet."(25)

Unter der Prämisse, alles Erkennen beruhe auf sinnlicher Erfahrung, lassen sich Hume zufolge, keine Kausalitätsurteile fällen, die dem Anspruch auf Notwendigkeit genügen. Die Notwendigkeit der Verknüpfung wird nicht wahrgenommen, daher kann aus einem Nacheinander(post hoc) kein Weil(propter hoc) erschlossen werden.

Dies gibt Kant zu, aus der Wahrnehmung folgt keine bündige Erkenntnis. Aber die Wissenschaft verknüpft die mathematische Erkenntnis, dessen zwingenden Charakter auch Hume zugibt, mit dem verifizierenden Experiment, das die Erscheinungen gemäß einer mathematisch beschreibbaren Regel erzeugt. Die formalen Regeln der Verknüpfung liegen a priori im Gemüte vor, nur der Inhalt ergibt sich aus der sinnlichen Erfahrung.

Die Naturforscher (Galilei und Torricelli) "begriffen, daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt, daß sie mit Prinzipien ihrer Urteile nach beständigen Gesetzen vorangehen und die Natur nötigen müsse, auf ihre Fragen zu antworten, nicht aber sich von ihr allein gleichsam am Leitbande gängeln lassen müsse; denn sonst hängen zufällige, nach keinem vorher entworfenem Plane gemachte Beobachtungen gar nicht in einem notwendigen Gesetze zusammen, welches doch die Vernunft sucht und bedarf. Die Vernunft muß mit ihren Prinzipien, nach denen allein übereinkommende Erscheinungen für Gesetze gelten können, in einer Hand, und mit dem Experiment, das sie nach jenen ausdachte, in der anderen, an die Natur gehen, zwar um von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der Qualität eines Schülers, der sich alles vorsagen läßt, was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegen."(26)

Die Welt, sofern wir sie erkennen können, wird also nicht als unabhängig vom erkennenden Subjekt entstandendes betrachtet, sondern als Produkt. Der Vorrang der Mathematik in der Naturerkenntnis ist dabei auch für Lukacs ein Signum der Neuzeit, sie macht dessen "Rationalismus" aus.

"Denn »Rationalismus«, d.h. ein Formsystem, dessen Zusammenhang auf die verstandesgemäß erfaßbare, vom Verstand erzeugbare und darum vom Verstand beherrschbare, voraussehbare und berechenbare Seite der erscheinungen gerichtet war, hat es in den verschiedensten Epochen gegeben. Es entstehen aber grundlegende Unterschiede, je nachdem auf welches Material dieser Rationalismus bezogen wird und welche Rolle ihm im Gesamtsystem der menschlichen Erkenntnisse und Zielsetzungen zugemutet wird. Das Neue im modernen Rationalismus besteht nun darin, daß er - im Laufe der Entwicklung in steigenden Maße - mit dem Anspruch auftritt, das Prinzip des Zusammenhangs sämtlicher Phänomene, die sich dem Leben des Menschen in Natur und Gesellschaft gegenüberstellen, entdeckt zu haben. dagegen war jeder frühere Rationalismus stets nur ein Teilsystem."(27)

Damit ist insbesondere das Kantische System gemeint, mit dem berühmten Begriff des Dinges an sich. Wir sehen zunächst davon ab, wie Kant diesen auffaßt und ob Lukacs ihn angemessen interpretiert und vollziehen den Gedankengang von Lukacs nach, den er - wie bereits erwähnt - als ein "Überhegeln Hegels" später betitelte.

Der Begriff des Dinges an sich füllt nach Lukacs zwar verschiedene kontextabhängige Funktionen aus, allen gemeinsam ist, daß sie die Grenze des "abstrakten. formal-rationalistischen »menschlichen« Erkenntnisvermögen darstellt"(28), wobei die Grenze einmal die der Erkenntnisformen gegenüber dem Inhalt bedeutet, andererseits die der Erkenntnis gegenüber dem Ganzen, der Totalität.

Gegenüber dem Inhalt läßt die Grenze sich nur durch Aufhebung der Trennung von Theorie und Praxis aufheben. Denn aus dem allgemeinen Schema z.B. des Fallgesetzes folgt keineswegs der Fall des Newtonsschen Apfels vom Baum. Es stellt sich daher auch hinsichtlich der praktischen Tätigkeit die Frage nach der Gegenstandskonstitution. Ein bestimmter Wahrnehmungsinhalt läßt sich nach unserem Modell hervorbringen. Die Annahme unbekannter Dinge an sich ist für Lukacs - Hegel folgend - nur Denkfaulheit und Irrationalismus. Nach Kant ist die nicht-sinnliche Ursache der Erscheinungen gänzlich unbekannt und nicht als Objekt anschaubar:

"Indessen können wir die bloße intelligible Ursache der Erscheinungen überhaupt, das transzendentale Objekt nennen, bloß damit »wir etwas haben, was der Sinnlichkeit als einer Rezeptivität korrespondiert«. Von diesem Objekt heißt es nun, »daß es vor aller Erfahrung an sich selbst gegeben sei«. Das Problem des Begriffsinhalts ist jedoch viel weitergehend(er) als das der Sinnlichkeit,wenn es freilich auch nicht zu leugnen ist (was einzelne, besonders »kritische«, besonders vornehme Kantianer zu tun pflegen), daß zwischen beiden eine nahe Beziehung besteht. Denn die Irrationalität, die rationelle Unauflösbarkeit des Begriffsinhalts für den Rationalismus, die wir sogleich als ganz allgemeines Problem der modernen Logik kennen lernen werden, zeigt sich in der Frage der Beziehung des sinnlichen Inhalts zur rationell-kalkulatorischen Verstandesform am krassesten. Während die Irrationalität anderer Inhalte eine positionelle, eine relative ist, bleibt das Dasein, das Sosein der sinnlichen Inhalte eine schlechthin unauflösbare Gegebenheit. Wenn aber das Problem der Irrationalität in das Problem der Undurchdringlichkeit jeder Gegebenheit durch Verstandesbegriffe, in das Problem der Unableitbarkeit aus Verstandesbegriffen mündet, so erhält diese Seite der Frage des Dinges an sich, die im ersten Augenblick dem metaphysischen Problem der Beziehung von »Geist« und »Materie« nahezukommen schien, einen völlig anderen, einen logisch-methodisch, system-theoretisch ausschlaggebenden Aspekt. Dann lautet die Fragestellung so: ob die empirischen Tatsachen (einerlei, ob sie rein »sinnlich sind«, oder ob ihre Sinnlichkeit bloß das letzte materielle Substrat ihres Wesens als »Tatsachen« bildet) in ihrer Faktizität als »gegeben« hinzunehmen sind, oder ob sich diese ihre Gegebenheit in rationelle Formen aufgelöst, also von »unserem« Verstand erzeugt denken läßt."(29)

Der Verstand kann nach Kant keine synthetische, gegenstandskonstitutive Sätze vollziehen, ohne auf etwas Zufälliges, Erfahrung, bezogen zu sein. Daher ergibt sich auch die schrankenziehende Funktion des Dings an sich hinsichtlich der Erkenntnis der Totalität: die Erfahrung ist prinzipiell unabschließbar. So sind beide Momente des Ding-an-sich-Problems, das der Irrationalität des Begriffsinhalts und der Unerkennbarkeit der Totalität Lukacs zufolge aufeinander bezogen. Die Kategorien sollen universelle Bedeutung haben, könne es aber nicht aufgrund der Unvollziehbarkeit dieser Forderung. Es können also nur Teilsysteme gebildet werden. Diese dürfen nicht gleichgültig nebeneinander sein:

"Denn das System im Sinne des Rationalismus (...) kann nichts anderes bedeuten als eine solche Neben- beziehungsweise Über- und Unterordnung der verschiedenen Teilsysteme der Formen (und innerhalb dieser Teilsysteme der einzelnen Formen), wo diese Zusammenhänge stets als »notwendig«, d.h. als aus den Formenbildung einleuchtend, von ihnen »erzeugt« gedacht werden können; wo also das richtige Setzen des Prinzips - der Tendenz nach - das Setzen des ganzen von ihm bestimmten Systems bedeutet, wo die Folgerungen in dem Prinzip enthalten, aus ihm erweckbar, voraussehbar, kalkulierbar sind. Die reale Entwicklung sämtlicher Forderungen mag als »unendlicher Prozeß« erscheinen diese Beschränkung bedeutet aber nur so viel, daß wir nicht imstande sind, das System in seiner entfalteten Totalität auf einmal zu überblicken; am Prinzip der Systematisation ändert jedoch diese Einschränkung nichts."(30)

Das Prinzip der Systematisation ist so jedoch mit der Tatsächlichkeit eines Inhalts unvereinbar, welcher aus dem Prinzip der Formgebung nicht herleitbar ist. Der Deutsche Idealismus versucht dieses Problem zu lösen, indem sie den Anspruch auf restlose Ableitung und den der Unableitbarkeit einer Gegebenheit miteinander vermittelt. Dabei werden Lukacs zufolge zwei Positionen vermieden: 1. der naiv- dogmatische Rationalismus, der einen irrationalen Begriffsinhalt leugnet, 2. einen dogmatischen Realismus, nach dem der ansichseiende Inhalt "in die Struktur des Systems selbst bestimmend hineinragt"(31). Das Dilemma zwischen diesen beiden Positionen soll überwunden werden, indem eine dynamische Relativierung des Gegensatzes vollzogen wird. D.h. daß "der auf den ersten Anblick als »gegeben« erscheinende Inhalt nunmehr ebenfalls als »erzeugt« erscheine, daß die Faktizität sich in Notwendigkeit auflöse."(32)

Die Erzeugung des Inhalts fällt nun nicht zusammen mit der Konstruktion in der Mathematik, in der Erzeugung und Begreifbarkeit zusammenfallen. Erzeugen eines Inhalts bedeutet Lukacs zufolge nur die Erzeugung der verstandesmäßigen Begreifbarkeit, nicht das Zusammenfallen von Erzeugung und Begreifen des Gegenstandes Dabei beruft er sich auf Fichtes Wissenschaftslehre von 1804, nach der das Objekt bewußtlos entsteht, durch eine Projektion per hiatum. Fichte schreibt:

"Dies Projektion per hiatum ist sichtbar dasselbe, was wir ehemals und jetzt auch genannt haben: die äussere Existentialform, die sich offenbart in allem kategorischen Ist. Denn was bedeutet dies, als eine Projektion, über die weiter keine Rechenschaft abgelegt wird, also per hiatum: ist dasselbe, was wir genannt haben den Tod in der Wurzel; der hiatus, das Abbrechen des Intelligirens an ihm, ist eben das Lager des Todes. Diese Projektion nun, oder äußere Existentialform, sollen wir, ungeachtet wir faktisch uns ihrer nie entledigen können, dennoch als wahr nicht gelten lassen, und wissen, daß sie doch nur Resultat und Effekt des bloßen Bewußtseins ist, ungeachtet etwa dieses Bewußtseins uns in seiner Wurzel verborgen blieben darum uns nicht durch sie irre machen lassen."(33)

Das Zitat stammt aus der 15. Vorlesung, aus der Lukacs eine Passage gleichen Gehalts zitiert. Sie bringt überdies den idealistischen Charakter noch deutlicher hervor. Wo das Bewußtsein aufhört, ist der Tod. Diese Auffassung ragt nach der Einsicht von Lukacs in die neuere Philosophie - namentlich des Neukantianismus hinein.

"Vor dieser Irrationalitätslehre liegt die Epoche des philosophischen »Dogmatismus« oder - sozialgeschichtlich gesprochen - die Epoche, in der das Denken der bürgerlichen Klasse ihre Denkformen, die Formen, in denen sie ihrem gesellschaftlichen Sein entsprechend die Welt denken mußte, mit der Wirklichkeit, mit dem Sein naiv gleichgesetzt hat. Die bedingungslose Anerkennung dieses Problems, der Verzicht auf seine Überwindung, führt geraden Wegs zu den verschiedenen Formen der Fiktionslehre: zu der Ablehnung einer jeden »Metaphysik« (in dem Sinne einer Wissenschaft vom Sein), zu der Zielsetzung, die Phänomene einzelner, genau spezialisierter Teilgebiete vermittels ihnen genau angepaßten abstrakt- kalkulatorischen Teilsystemen zu begreifen, ohne selbst den Versuch zu unternehmen, ja diesen Versuch als »unwissenschaftlich« ablehnend, das Ganze des Wißbaren von hieraus zu bewältigen. "(34)

Lukacs führt die Irrationalitätslehre hinsichtlich des Begriffsinhalts, die These der Unerzeugtheit, Gegebenheit des Inhalts, auf die Prämisse zurück, daß voneinander isolierte Einzelwissenschaften, die nur partikuläre Funktionszusammenhänge untersuchen, existieren und unproblematisiert vorausgesetzt werden. Die neukantianische rekursive Methode des Fortschreiten von den existierenden Einzelwissenschaften zu ihren kategorialen Bedingung ist ihm Modell.


Der Primat der praktischen Philosophie

Überwindung des hiatus irrationalis

Der Idealismus des Fichtes von 1804, dessen Positionen von Schelling so polemisch destruiert wurden, daß beide sich schließlich auch persönlich entzweiten, sollte durch eine Neufassung eines Primats der praktischen Philosophie gelöst werden, der Erzeugungsidealismus führte auf eine unüberwindliche Schranke der Gegebenheit.

"Wollte es (das Denken) nicht auf das Erfassen des Ganzen verzichten, so mußte es den Weg nach Innen gehen. Es mußte versuchen, jenes Subjekt des Denkens aufzufinden, als dessen Produkt das Dasein - ohne hiatus irrationalis, ohne jenseitiges Ding an sich - gedacht werden kann. Der oben angedeutete Dogmatismus ist hierbei zugleich Wegweiser und Irrlicht gewesen. Wegweiser, indem das Denken über das bloße Hinnehmen der gegebenen Wirklichkeit, über die bloße Reflexion, über die Bedingungen ihrer Denkbarkeit hinausgetrieben und in die Richtung auf ein Hinausgehen über die bloße Kontemplation, das bloße Anschauen gelenkt wurde. Irrlicht, indem es eben derselbe Dogmatismus nicht gestattet hat, das wahrhaft gegenseitige und die Kontemplation wirklich überwindende Prinzip des Praktischen aufzufinden."(35)

Die Philosophie des Deutschen Idealismus sucht zu einer Konzeption vorzudringen, in der das Subjekt als Erzeuger nicht nur der Formen, sondern auch der Totalität der Inhalte, ist. Zu diesem Zwecke mußte ein Einheitspunkt gefunden werden, von dem aus die schwerlich zu leugnende Differenz zwischen Subjekt und Objekt abgeleitet werden kann. Daß die Empirie unabhängig vom Subjekt da ist wurde also keineswegs übersehen, geleugnet wurde nur die bloße Gegebenheit der empirischen Gegenständlichkeit. Wenn die empirischen Gegenstände bloß gegeben wären, so gäbe es keine Wahrheit, keine Einflußmöglichkeit auf die Natur. Kühe, die Gras fressen - so Hegel - führten die Unabhängigkeit der Gegenstände ad absurdum. Dazu sei die Selbstkritik von Lukacs zitiert:


Die Überhegelung Hegels (Selbstkritik Lukacs)

"Denn bei Hegel erscheint zum erstenmal das Problem der Entfremdung als Grundfrage der Stellung des Menschen in der Welt, zu der Welt. sie ist aber bei ihm, unter dem Terminus Entäußerung, zugleich das Setzen einer jeden Gegenständlichkeit. Entfremdung ist deshalb, zu Ende gedacht, mit dem Setzen von Gegenständlichkeit identisch. Das identische Subjekt-Objekt muß deshalb, indem es die Entfremdung aufhebt, zugleich auch die Gegenständlichkeit aufheben. Da jedoch der Gegenstand, das Ding bei Hegel nur als Entäußerung des Selbstbewußtseins existiert, wäre deren Rücknahme ins Subjekt ein Ende der gegenständlichen Wirklichkeit, also der Wirklichkeit überhaupt. »Geschichte und Klassenbewußtsein« folgt nun Hegel insofern, als auch in ihm Entfremdung mit Vergegenständlichung (um die Terminologie der »Ökonomisch-Philosophischen Manuskripte« von Marx zu gebrauchen) gleichgesetzt wird."(36)

Da die Gegenständlichkeit nicht aufhebbar ist, nach Hegel & Co. jedenfalls in der objektiven Welt nicht, sondern nur philosophisch, so folgt bei Identifizierung von Entäußerung und Vergegenständlichung, die Notwendigkeit der Entfremdung in der Welt und eine bloß theoretische Versöhnung:

"Die Vernunft als die Rose im Kreuze der Gegenwart zu erkennen und damit dieser sich zu erfreuen, diese vernünftige Einsicht ist die Versöhnung mit der Wirklichkeit, welche die Philosophie denen gewährt, an die innere Anforderung gegangen ist zu begreifen..."(37)

Auch wenn diese Passage zur damaligen Zeit keine affirmative Intention hatte, da die Notwendigkeit der Verwirklichung der Vernunft und der revolutionären Gehalte der Französischen Revolution vorausgesetzt wird, schlägt mit der Durchsetzung kapitalistischer Gesellschaft diese um in Affirmation, wie Lukacs betont.

Die Selbstkritik von Lukacs nimmt jedoch auch - aus Parteiraison - zugunsten einer Abbildtheorie die revolutionären Gehalte seiner Schrift zurück; sie ist daher auch gegen spätere Verlautbarungen zu retten.


Fortsetzung: Überwindung des hiatus irrationalis

Fichte, auf den Lukacs sich bezieht, versuchte den hiatus zu überwinden durch eine Einheit von theoretischer und praktischer Philosophie, die die Amphibolie der Reflexionsbegriffe, entweder auf Empirisches oder Intelligbles zu gehen, zum Prinzip macht. Dabei wird das praktische nicht das theoretische Ich zum ersten Prinzip. Die intellektuellen Anschauung Fichtes geht so auf ein Handeln:

"Die intellektuelle Anschauung, von welcher die Wissenschaftslehre redet, geht gar nicht auf ein Sein, sondern auf ein Handeln, und sie ist bei Kant gar nicht bezeichnet (außer, wenn man will, durch den Ausdruck reine Apperzeption."(38)

Fichte denkt von einem Primat der praktischen Vernunft aus, d.h. das Ich denke, das alle Vorstellungen muß begleiten können, wird im praktischen Sinne - als identisch gesetzt mit dem kategorischen Imperativ - genommen. Von der intellektuellen Anschauung heißt es:

"Doch läßt im Kantischen Systeme sich ganz genau die Stelle nachweisen, an der von ihr gesprochen werden sollte. Des kategorischen Imperativs ist man nach Kant sich doch wohl bewußt? Was ist denn dies nun für ein Bewußtsein? Diese Frage vergaß Kant sich vorzulegen, weil er nirgends die Grundlage aller Philosophie behandelte, sondern in der Kritik der reinen Vernunft nur die theoretische, in der der kategorische Imperativ nicht vorkommen konnte; in der Kritik der praktischen Vernunft nur die praktische, in der es nur um den Inhalt zu tun war, und die Frage nach der Art des Bewußtseins nicht entstehen konnte. - Dieses Bewußtsein ist nun ohne Zweifel ein unmittelbares, aber kein sinnliches; also gerade das, was ich intellektuelle Anschauung nenne."(39)

Die theoretische Philosophie Kants liefert demnach nur die Form des "Ich denke", ein für das Denken unbestimmt bleiben- des Ich, dessen Erscheinungen wir erkennen können, dessen an sich seienden Inhalt, uns nur praktisch - als unmittelbar gewissen kategorischen Imperativ - vergegenwärtigen können. Die getrennte Behandlung beider Probleme, so Fichte würde die Erkenntnis versperren. Die praktische Philosophie soll bei ihm die theoretische begründen. Die intellektuelle Anschauung als unmittelbare Gewißheit des kategorischen Imperativs begründet so auch die theoretische Vernunft, die Ideen werden nicht nur angesichts von Praxis, sondern auch von Theorie konstitutiv. Daran knüpft Lukacs an, um dann in Rekurs auf Kant die Grenzen einer bloß ethischen praktischen Vernunft, die nicht tauglich ist, wahre Einheit zu stiften, aufzuweisen:

"Im Gegensatz zum dogmatischen hinnehmen einer - subjektfremden - bloß gegebenen Wirklichkeit, entsteht die Forderung: von dem identischen Subjekt-Objekt aus jede Gegebenheit als Produkt dieses identischen Subjekt-Objekts, jede Zweiheit als abgeleiteten Spezialfall dieser Ureinheit zu begreifen.

Diese Einheit ist aber Tätigkeit. Nachdem bereits Kant in der methodisch vielfach falsch verstandenen und zur Vernunftskritik in falschen Gegensatz gebrachten »Kritik der praktischen Vernunft« die theoretisch (kontemplativ) unüberwindlichen Schranken als praktisch auflösbar aufzuzeigen versucht hat, stellt Fichte das Praktische, das Handeln, die Tätigkeit in den methodischen Mittelpunkt der vereinheitlichten Gesamtphilosophie."(40)

Die Fichtische Philosophie ist nun jedoch bloß subjektiver Idealismus, d.h. das identische Subjekt-Objekt ist selbst bloß subjektives Subjekt- Objekt. Die wirkliche Empirie bleibt als absoluter Abstoß als Gegebenheit bestehen. D.h. der Dualismus reproduziert sich:

"In dem Augenblick, wo die Frage nach dem konkreten Wesen dieses identischen Subjekt-Objekts auftaucht, ist das Denken vor folgendes Dilemma gestellt: einerseits ist nur in dem Akt ethischen Handelns, in der Beziehung des ethisch handelnden (individuellen) Subjekts zu sich selbst, diese Struktur des Bewußtseins, diese ihre Beziehung zu ihrem Gegenstand real und konkret auffindbar, andererseits ist für das ethische Bewußtsein des handelnden Individuums die unüberbrückbare Zweiheit der selbsterzeugten, aber rein nach innen gewendeten Form (der ethischen Maxime bei Kant) und der verstandes- und sinnesfremden Wirklichkeit, der Gegebenheit, der Empirie in noch schrofferer Weise vorhanden als für das kontemplative Subjekt der Erkenntnis."(41)

Lukacs kritisiert die Ethik Fichtes und Kants anhand vier Gesichtspunkten:

1. Die ethischen Tatbestände werden bei Kant ausgedeutet und auf ihre formelle Gültigkeit überprüft, der Inhalt gilt als gegeben. 2.Die Autonomie reduziert sich auf den Gesichtspunkt der Beurteilung von inneren Tatbeständen, die in ihren - z.B. psychologischen - Folgen der Heteronomie unterworfen bleiben. 3. Die Spaltung von Phänomen und Noumenon (Erscheinung und Wesen) wird so in das Subjekt selbst hineingetragen. 4. Die Ethik bleibt inhaltslos, formell.

Bei Kant ist in der Tat der Inhalt der ethischen Beurteilung nicht aus der Vernunft hergeleitet, d.h. die Maxime meines Handelns wird nach Prinzipien der Glückseligkeit, die nur subjektive Gültigkeit haben, gebildet. Erst dann kann eine Maxime einem praktischen Gesetz widersprechen, wenn sie bereits inhaltlich bestimmt ist.

"In einem pathologisch-affizierten Willen eines vernünftigen Wesens kann ein Widerstreit der Maximen, wider die von ihm selbst erkannte praktische Gesetze, angetroffen werden." D.h., daß eine Maxime "als Regel für den Willen eines jeden vernünftigen Wesens, in einer und derselben Maxime, mit sich nicht zusammenstimmen könne."(42)

Dies ist möglich, weil nicht wie in der Naturerkenntnis, in der die Prinzipien Gesetze der Natur sind und der theoretische Gebrauch der Vernunft durch die Beschaffenheit des Objekts bestimmt ist, die praktische Regel sich nach der besonderen Beschaffenheit des Begehrungsvermögen richtet. Die Regel ist ein Imperativ, sie drückt ein Sollen aus, welches nur dann unausbleiblich geschehen würde, wenn der Wille gänzlich von der Vernunft bestimmt sein würde. Dies ist nach Kant aber nicht der Fall. Daher ist die Bildung eines wirklichen Willens empirisch bestimmt, d.h. heteronom:

"Alle praktischen Prinzipien, die ein Objekt (Materie) des Begehrungsvermögens, als Bestimmungsgrund des Willens, voraussetzen, sind insgesamt empirisch und können keine praktische Gesetze abgeben.

Ich verstehe unter der Materie des Begehrungsvermögens einen Gegenstand, dessen Wirklichkeit begehret wird."(43)

Bei der Empirie handelt es sich nicht in jedem Fall um Naturgesetze, wie das Fallgesetz. Unter der Bedingung kapitalistischer Produktion herrscht ein unerbittliches Produktionsverhältnis, dessen Wesen dem Maximen bildenden Willen erscheinen und die er dem kategorischen Imperativ unterwerfen soll. Was Resultat menschlicher Praxis ist, kann nicht gänzlich unerkennbar sein, wie die Kantischen Dinge an sich.

"Damit führt die ethische Fragestellung Kants zu dem auch hier unüberwundenen methodischen Problem des Dinges an sich zurück. Wir haben die philosophisch bedeutsame, die methodische Seite dieses Problems bereits früher als das der Beziehung von Form und Inhalt, als das Problem der Unauflösbarkeit des faktischen, als das der Irrationalität der Materie bestimmt. Die formale, auf das individuelle Bewußtsein zugeschnittene Ethik Kants vermag zwar eine metaphysische Perspektive auf die Lösung des Ding an sich Problems zu eröffnen, indem sämtliche von der transzendentalen Dialektik zersetzten Begriffe einer als Totalität begriffenen Welt in der Form von Postulaten der praktischen Vernunft am Horizont erscheinen, methodisch bleibt jedoch der subjektiv-praktische Lösungsversuch in denselben Schranken befangen, die die objektiv-kontemplative Fragestellung der Vernunftkritik eingefangen gehalten haben.

Denn damit erhellt sich für uns ein neuer bedeutsamer, struktiver Zusammenhang dieses Problemkomplexes: um die Irrationalität in der Ding-an-sich-Frage zu lösen, genügt es nicht, daß der Versuch unternommen wird, über die kontemplative Verhaltensweise hinauszugehen, sondern es zeigt sich - als konkretere Fragestellung - daß das Wesen des Praktischen darin besteht: die Gleichgültigkeit der Form dem Inhalt gegenüber, worin die Ding-an-sich-Frage methodologisch spiegelt, aufzuheben. Das Praktische ist also als Prinzip der Philosophie nur dan wirklich gefunden, wenn zugleich ein Formbegriff aufgezeigt wird, der - als Grundlage und methodische Voraussetzung seines Geltens - nicht mehr diese Reinheit von jeder inhaltlichen Bestimmtheit, diese reine Rationalität an sich trägt. Das Prinzip des Praktischen als Prinzip des Veränderns der Wirklichkeit muß deshalb auf das konkrete, materielle Substrat des Handelns zugeschnitten sein, um infolge seines Inkrafttretens auf dieses in solcher Weise einwirken zu können."(44)

Die Anspielungen auf die Marxschen Feuerbachthesen sind unüberhörbar, nach der der Gegenstand nicht allein unter der Form des Objekts, sondern als sinnlich menschliche Tätigkeit gefaßt werden soll und die Wirklichkeit des Denkens eine praktische Frage ist. Dies diskutiert Lukacs anhand der Kantischen Kritik des ontologischen Gottesbeweises, Hegels Kritik daran und die Modifikationen der letzteren durch Marx.

Kant kritisierte den ontologischen Beweis, weil er vom Begriff einer Sache auf die Existenz der Sache selbst schlösse. Die Existenz ist jedoch keine reales Prädikat, das den Begriffsinhalt vermehren würde. Für eine rein theoretische Betrachtung eines einzelnen Dinges gilt dies mit Fug und Recht, gilt dies aber auch für einen praktischen Zusammenhang? Hegel hatte Kant ein relatives Recht zugestanden:

"Für diesen als isoliert betrachteten Inhalt ist es in der Tat gleichgültig, zu sein oder nicht zu sein; es liegt in ihm kein Unterschied des Seins oder Nichtseins; dieser Unterschied berührt ihn überhaupt gar nicht;..."(45)

100 gedachte Taler sind inhaltlich nicht mehr als 100 wirkliche, der Gegenstand kommt lediglich synthetisch meinem Begriffe hinzu. In einem methodisch isolierten Zusammenhang, so Lukacs, kommt in der Tat einer Hypothese durch das Sein des Zusammenhangs nichts hinzu. Nach Hegel ist jedoch jedes endliche Sein auf sein Anderssein bezogen:

"Ein bestimmtes, ein endliches Sein ist ein solches, das sich auf anderes bezieht; es ist ein Inhalt, der im Verhältnisse der Notwendigkeit mit anderem Inhalte, mit der ganzen Welt steht."(46) Zu der Welt gehört auch das praktisch tätige Subjekt, das einen bestimmten Inhalt hervorgebracht hat. Dies gilt insbesondere für das Geld - man denke an das Phänomen der Verdinglichung -, Geld ist isoliert nicht zu analysieren. Marx schreibt in den Anmerkungen zu seiner Doktordissertation:

"Hat nicht der alte Moloch geherrscht? War nicht der delphische Apollo eine wirkliche Macht im Leben der Griechen? Hier heißt auch Kants Kritik nichts. wenn jemand sich vorstellt, hundert Taler zu besitzen, wenn diese Vorstellung ihm keine beliebige, subjektive ist, wenn er an sie glaubt, so haben ihm hundert eingebildete Taler denselben Wert wie hundert wirkliche. er wird z.B. Schulden auf seine Einbildung machen, sie wird wirken, wie die ganze Menschheit Schulden auf ihre Götter gemacht hat. Im Gegenteil. Kants Beispiel hätte den ontologischen Gottesbeweis bekräftigen können. Wirkliche Taler haben dieselbe Existenz, die eingebildete Götter [haben]. Hat ein wirklicher Taler anderswo Existenz als in der Vorstellung der Menschen. Bringe Papiergeld in ein Land, wo man diesen Gebrauch des Papiers nicht kennt, und jeder wird lachen über deine subjektive Vorstellung."(47)

Isoliert von der menschlichen Tätigkeit existiert kein Geld. Eine Erkenntnistheorie, die ihre Gegenstände vorab als Inbegriff von Funktionszusammenhängen, die "ohne Zutun des Subjekts" da sind traktiert und das Subjekt der Erkenntnis vom Menschen ablöst, birgt ein Widerpruch in sich. Einerseits ist die Erkenntnis ein von uns Erzeugtes andererseits kontemplativ. Dieser Widerpruch gründet nach Lukacs jedoch nicht in der Unfähigkeit der Philosophen, sondern ist ein objektiver Sachverhalt:

"D.h. der hier zum Vorschein gelangte Widerspruch zwischen Subjektivität und Objektivität der modernen rationalistischen Formsysteme, die Problemverschlingungen und Äquivokationen, die in ihren Subjekts- und Objektbegriffen verborgen liegen, der Widerstreit zwischen ihrem Wesen als von »uns« »erzeugten« Systemen und zwischen ihrer menschenfremden und menschenfernen fatalistischen Notwendigkeit ist nichts anderes als die logisch- methodologische Formulierung des modernen Gesellschaftszustands: eines Zustands, in dem die Menschen einerseits in ständig steigenden Maße die bloß»naturwüchsigen«, die irrationell-faktischen Bindungen zersprengen, ablösen und hinter sich lassen, andererseits aber gleichzeitig in dieser selbstgeschaffenen, »selbsterzeugten« Wirklichkeit eine Art zweiter Natur um sich errichten, deren Ablauf ihnen mit derselben unerbittlichen Gesetzesmäßigkeit entgegentritt, wie es früher die irrationellen Naturmächte (pünktlicher: die in dieser Form erscheinenden gesellschaftlichen Verhältnisse) getan haben."(48)

Die Welt erscheint als Folge notwendiger Gesetzessysteme, die wie Naturgesetze wirken, die nur partiell, nicht in ihrer Totalität begriffen werden können. Lukacs wendet die Kritik Hegels an dem Kantischen Begriff der Dinge an sich nur hinsichtlich der zweiten Natur an, da er die Naturdialektik von Engels ablehnt. Auch die Engelsche Deutung der Dinge an sich als das Noch-Nicht-Erkannte weist er ab. Die Erweiterbarkeit der Erkenntnis der Phänomene ist von Kant ja nicht abgestritten worden, es geht nicht um die empirische Frage des Fortschritts der Erkenntis, sondern um die prinzipielle der Erkennbarkeit der Dinge, wie sie unabhängig von kategorialen Bedingungen sind.

Lukacs problematisiert jedoch nicht, ob das Problem der Grenzen der Erkenntnis nicht auch für die gegenstandskonstitutive Praxis selbst relevant ist. Auch wenn der Inhalt der Erkenntnis produziert ist, so setzt die Produktion selbst kategoriale Bedingungen voraus, die an einem Material sich vollzieht, das nicht produziert ist, also ein Moment von Unverfügbarkeit, von Nichtidentität in sich birgt, so daß die Kantkritik nur modifiziert zu übernehmen wäre.


Die Schranken des bürgerlichen Bewußtseins (Vor Hegel)

Mit dem Begriff des "bürgerlichen Bewußtseins" ist in den 70ger Jahren inflationär umgegangen wurde. Lukacs geht es um einen präzisen Sinn dieses Begriffs. Kritisiert wird der methodologische Atomismus, der verhindert, daß über einzelne gesellschaftliche Phänomene hinausgegangen wird. Er faßt die Ergebnisse der bisherigen Untersuchung auf dieses Problem zentriert zusammen:

"Es zeigt sich erstens, daß infolge der sich entwickelnden bürgerlichen Gesellschaft alle Probleme des gesellschaftlichen Seins ihre Menschenjenseitigkeit verlieren, als Produkt der menschlichen Tätigkeit erscheinen im Gegensatz zur Gesellschaftsauffassung des Mittelalter und der beginnenden Neuzeit (z.B.Luther). Zweitens, daß dieser Mensch der vom Kapitalismus künstlich isolierte , individuelle, egoistische Bourgeois sein muß, daß also das Bewußtsein, als dessen Folge Tätigkeit und Erkenntnis erscheinen, ein individuelles, isoliertes, robinsonhaftes Bewußtsein ist. Gerade dadurch wird aber drittens der Tätigkeitscharakter des gesellschaftlichen Handelns aufgehoben."(49)

Es ist demnach, nicht der Sensualismus materialistischer Aufklärung, sondern die spezifische Stellung des Bürgers im kapitalistischen Produktionsprozeß ausschlaggebend für die "bürgerliche Schranke". Diese reflektiert Lukacs anhand des Begriffs der Natur.


Der Begriff der Natur

Lukacs unterscheidet drei Begriffe der Natur, die im Rahmen bürgerlicher Emanzipation eine Rolle spielen. Der erste Begriff, der Kantische im Sinne der "Kritik der reinen Vernunft", ist der der Natur im Sinne des Inbegriffs von Gesetzmäßigkeiten.

Der zweite Begriff entspricht der antiken Unterscheidung von physei und thesei. Als Wertbegriff im Naturrecht hatte er eine emanzipative Bedeutung:

"Denn hier hat die Natur sehr wesentlich einen bürgerlich- revolutionären Kampfakzent: die »gesetzmäßige«, die kalkulierbare, die formell-abstrakte Wesensart der kommenden, der sich entfaltenden bürgerlichen Gesellschaft erscheint als Natur neben der Künstlichkeit, der Willkür, der Regelosigkeit von Feudalismus und Absolutismus."(50)

Der dritte Begriff ist von Rousseau geprägt worden - in Anspielung auf Lukrez "De rerum naturae" - er ist der Kultur und Zivilisation entgegengesetzt. Der mechanisierten, unbeseelten, verdinglichten Gesellschaft wird das "Organisch-Gewachsene" entgegengesetzt, die in der politischen Romantik ein reaktionären Akzent erhielt. Bei Schiller hatte er noch ein emanzipative Intention auf Aufhebung der Entfremdung. Die Naturformen "sind, was wir waren" und "das, was wir werden sollen", wie Lukacs zitiert(51).


Der Begriff der Kunst

An den ästhetischen Schriften Schillers entfaltet Lukacs, was unter der Aufhebung des Formalismus gemeint war. Bei Schiller finden wir bereits ein Kritik der Verdinglichung. Das Prinzip der Kunst - nicht unbedingt die Kunst selbst (52) bekommt zur Zeit Schillers eine immense Bedeutung:

"Dieses Prinzip ist das Schaffen einer konkreten Totalität infolge einer Konzeption der Form, die gerade auf die konkrete Inhaltlichkeit ihres materiellen Substrats gerichtet ist, die deshalb in der Lage ist, die »zufällige« Beziehung der Elemente zum Ganzen aufzulösen, Zufall und Notwendigkeit als bloß scheinbare Gegensätze aufzuheben. Bekanntlich hat bereits Kant in der »Kritik der Urteilskraft« diesem Prinzip die Vermittlerrolle zwischen den sonst unversöhnbaren Gegensätzen, also die Funktion der Vollendung des Systems zugewiesen."(53)

Schiller hatte im "15. Brief über die ästhetische Erziehung des Menschen" der spielerischen Tätigkeit als eine Form konzipiert, in der Form und Inhalt nicht mehr gleichgültig voneinander sind, d.h. wo die gedachte Welt als konkrete, sinnvolle und gleichwohl von uns erzeugte erscheint, nämlich als lebendige Gestalt. Das Lebendige gilt als Inhalt, das sich seine Form selbst gibt, nicht eine Äußere aufgezwungen bekommt:

"Der Gegenstand des sinnlichen Triebs, in einem allgemeinen Begriff ausgedrückt, heißt Leben in weitester Bedeutung; ein Begriff, der alles materiale Sein und alle unmittelbare Gegenwart in den Sinnen bedeutet. Der Gegenstand des Formtriebs, in einem allgemeinen Begriff ausgedrückt, heißt Gestalt, sowohl in uneigentlicher als in eigentlicher Bedeutung; ein Begriff, der alle formalen Beschaffenheiten der Dinge und alle Beziehungen derselben auf die Denkkräfte unter sich faßt. Der Gegenstand des Spieltriebs, in einem allgemeinen Schema vorgestellt, wird also lebendige Gestalt heißen können; ein Begriff der allen ästhetischen Beschaffenheiten der Erscheinungen und mit einem Worte dem, was man in weitester Bedeutung Schönheit nennt, zu Bezeichnung dient."(54)

Dann später der berühmte Satz den auch Lukacs zitiert:

"Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt."

Dies ist dem gesellschaftlichen Sein entgegengesetzt, das dem Menschen eine verdinglichte Form von Gesetzen aufzwingt, die nicht lebendiger Ausdruck ihrer selbst ist. Lukacs verweist auch auf die Differenzschrift Hegels, die das Bedürfnis der Philosophie aus den unharmonischen Gegensätzen entspringen läßt. So wie Schiller diese Gegensätze nur im Spiel, so hebt Hegel die Gegensätze nur in der Philosophie auf. Oder die Welt wird ästhetisiert, wie in der Romantik:

"D.h. die Welt muß entweder ästhetisiert werden, was einem Ausweichen vor dem eigentlichen Problem bedeutet und in einer anderen Weise das Subjekt wieder in ein rein kontemplatives verwandelt und die »Tathandlung« zunichte macht. Oder das ästhetische Prinzip wird zum Gestaltungsprinzip der objektiven Wirklichkeit erhoben: dann aber muß das Auffinden des intuitiven Verstandes mythologisiert werden."(55)


Die Schranken der Dialektik Hegels

Die Kantische Philosophie hatte nach Lukacs ihre Grenze darin, daß sie das Erzeugen der Wirklichkeit als gegeben hinnahm, das Erzeugen des Subjekts des Erzeugens, die Selbstkonstituition des Subjekts ist Thema der nachkantischen Philosophie. Die Fragestellung geht so über die reine Erkenntnistheorie hinaus, da sie die Starrheit der Trennung von Subjekt und Objekt aufzuheben trachtet, ohne diese zu leugnen.

"Die Wiederherstellung der Einheit des Subjekts, die gedankliche Rettung des Menschen geht bewußt den Weg über Zerrissenheit und Zerstückelung. Die Gestalten der Zerstückerlung werden als notwendiger Etappen zum wiederhergestellten Menschen festgehalten und lösen sich zugleich ins Nichts der Wesenlosigkeit auf, indem sie in ihre richtige Beziehung zur erfaßten Totalität geraten, indem sie dialektisch werden."(56)

Das identische Subjekt-Objekt, das Hegel in seinem Theorem der List der Vernunft, nach der das Absolute, die Vernunft, über die Aktionen und Leidenschaften der Individuen vermittelt etwas durchsetzt, was sie nicht gewollt haben, kann Hegel Lukacs zufolge nicht in der Welt selbst aufweisen. Ginge das, so wäre es eine geniale Konstruktion für noch nicht bewußte Stufen von Geschichte. Nur die Methode - so Lukacs - weise über die bürgerliche Gesellschaft hinaus.

"Die Fortsetzung jener Wendung ihres Weges, die wenigstens methodisch über diese Schranken hinauszuweisen begann, die dialektische Methode als Methode der Geschichte ist jener Klasse vorbehalten geblieben, die das identische Subjekt-Obejt, das Subjekt der Tathandlung, das »Wir« der Genesis von ihrem Lebensgrund aus in sich selbst zu entdecken befähigt war: dem Proletariat."(57)


Der Standpunkt des Proletariats

Die Ziele des Proletariats sind die objektiven Ziele der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft, die zwar nicht ohne bewußte Tat des Proletariats mehr als bloße Möglichkeiten sind, aber dennoch objektiv sind und in diesem Sinne »gegeben«, wenn man spöttisch sein will. Das Proletariat, wie es hier und jetzt existiert, ist Produkt der kapitalistischen Wirtschaftsordnung und unterliegt wie die Bourgeoisie der Verdinglichung des Bewußtseins. Die letztere fühlt sich in diesem Zustand jedoch wohl, während das erstere der Einsicht Marxens gemäß in der Entfremdung nur Ohnmacht und eine unmenschliche Existenz spürt. Die Notwendigkeit einer Umwälzung ist daher nur eine hypothetische, da sie eine Bedingung hat, die Einsicht des Proletariats.


Geschichtsphilosophie aus dem Lichte des Proletariats

Die hegelsche Wesenslogik als Logik der Vermittlung spielt bei Lukacs ein große Rolle bei der Aufgabe die Unmittelbarkeit der Gegebenheit zu destruieren, die für alle gleich ist, während die objektive Wirklichkeit differiert.

"Es ist klar, daß wir mit dieser Fragestellung - von einer anderen Seite - wieder an die Grundfrage des bürgerlichen Denkens, an das Ding-an-sich Problem gerührt haben. Denn die Annahme, daß die Umwandlung des unmittelbar Gegebenen in wirklich erkannte (nicht nur unmittelbar bekannte) und darum wirklich objektive Wirklichkeit, also die Wirkung der Vermittlungskategorie am Weltbild nur etwas »Subjektives«, nur eine »Bewertung« der dabei »gleichbleibenden« Wirklichkeit sei, heißt soviel, wie der objektiven Wirklichkeit wieder einen Ding-an-sich-Charakter zuzusprechen. Freilich behauptet jene Art von Erkenntnis, die diese »Wertung« als bloß »Subjektives«, das Wesen der Tatsachen nicht Berührendes auffaßt, gerade zu der wirklichen Tatsächlichkeit vorzudringen. Ihre Selbsttäuschung liegt darin, daß sie sich zu der Bedingtheit ihres eigenen Standpunktes (und besonders zu dessen Bedingtheit durch das ihm zu grunde liegende gesellschaftliche Sein) unkritisch verhält."(58)

Der Präsentismus Rickerts, den Lukacs im Auge hat, setzt die Werte der Gemeinschaft, der ein Historiker angehört, als gegeben, als Ding an sich voraus. Sie werden zu objektiv gültigen Werturteilen. einer materialen Wertethik, die bekanntlich Max Webers Postulat der Wertfreiheit zum Opfer fiel. Objektivität ist Lukacs zufolge nicht in dieser Weise begründen:

"Die Willkür und die Subjektivität wird aus dem Stoffe der Einzeltatsachen und aus dem Urteil über diesen Maßstab selbst, in die »geltenden Kulturwerte« verschoben, über die ein Urteil, ja selbst die Untersuchung ihrer Gültigkeit auf diesem Boden unmöglich wird: die »Kulturwerte« werden für den Historiker zum Ding an sich..."(59)

Diese Form materialer Geschichtsphilosophie verharrt in einer unbegriffenen Faktizität, da sie nicht die Totalität begreift. D.h. Geschichte als Totalität darf weder als Inbegriff der Ereignisse noch als transzendentes Prinzip begriffen werden. Was heißt dann Totalität. Bei Hegel bedeutet die Totalität die Vollständigkeit der Bedingungen einer mannigfaltigen Existenz:

"Wenn alle Bedingungen einer Sache vollständig vorhanden sind, so tritt sie in Wirklichkeit; die Vollständigkeit der Bedingungen ist die Totalität als am Inhalte, und die Sache selbst ist dieser Inhalt, bestimmt, ebenso ein Wirkliches als ein Mögliches zu sein."(60)

Diese Amphibolie der Sache, ein Mögliches und ein Wirkliches zu sein, d.h. veränderbar zu sein, von ihrer Möglichkeit in ihre Wirklichkeit überzugehen. Als mögliche ist sie nur zu erkennen, wenn das Einzelne auf sein Anderssein bezogen wird, d.h. wenn Eigenschaften, die eine Sache hat, auf ihr Bedingungsgefüge bezogen werden. Als Beispiel führt Lukacs Marxens Auffassung der Maschinerie. Die inhaltliche Bestimmung der Maschine ist von ihrer ökonomischen Formbestimmtheit nicht loszulösen. Für sich selbst betrachtet führt die Produktivitätssteigerung einer Maschine zur Arbeitszeitverkürzung und Arbeitserleichterung, in der Wirklichkeit ist jedoch das Gegenteil der Fall. Eine Methodologie, die den geschichtlichen Gegenstand als Monade betrachtet, die von jeder Wechselwirkung mit dem Anderen ausgeschlossen ist, kann weder das Ereignis, noch seine Veränderbarkeit durchschauen. Die Strukturformen, durch die die Ereignisse vermittelt sind das Wesen dieser Ereignisse:

"Dabei besteht (...) das Wesen der Geschichte gerade in der Änderung, jener Strukturformen, vermittels welcher die Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Umwelt jeweilig stattfindet, die die Gegenständlichkeit seines inneren wir äußeren Lebens bestimmen. Dies ist aber nur dann objektiv-real möglich (...), wenn die Individualität, die Einzigartigkeit einer Epoche, einer Gestalt usw. in der Eigenart dieser Strukturformen besteht, in ihnen und durch sie gefunden und aufgezeigt wird. Jedoch die unmittelbare Wirklichkeit kann weder für den sie erlebenden Menschen noch für den Historiker unmittelbar in diesen ihren wahren Strukturformen gegeben sein."(61)

Veränderungen erscheinen als unbegreifbarer Wechsel, wenn die unmittelbaren Formen der Dinge als das Reale genommen werden, ihre Beziehungen als bloß Sekundäres aufgefaßt werden. Das kapitalistische System ist ja ein nicht nur ausdifferenziertes, sondern auch allseitig vermitteltes System. Da die Genesis der unmittelbaren Gegenstände der Erkenntnis in Unmittelbarkeit versinkt, kann die wahre Erkenntnis nur im Aufspüren des Erzeugungprozesses des Objekts sein:

"Dies setzt aber voraus, daß jene Vermittlungsformen, in denen und durch die über die Unmittelbarkeit des Daseins der gegebenen Gegenstände hinausgegangen wird, als struktive Aufbauprinzipien und reale Bewegungstendenzen der Gegenstände selbst aufgezeigt werden, daß also: gedankliche und geschichtliche Genesis - dem Prinzip nach - zusammenfallen."(62)

Die Identitätsthese folgt der Hegelschen Logik, nach der jeder Gegenstand erklärbar ist aus dem, woraus es geworden ist. Dies Woraus ist der realen Möglichkeit nach das, was wird. Da die Möglichkeit bloß Gedanke ist, solange die Bedingungen der Existenz nicht erfüllt sind, betrachtet Hegel das, was in Existenz tritt als Äußerung dieser Gedankenform, die zunächst ein bloß Inneres war. Aber eine Potenz beweist sich nur im Akt, das Innere muß heraustreten, um erkannt werden zu können. Der Gedanke kommt insofern später als das Ereignis, wie Schelling an Hegel kritisiert:

"Die Begriffe als solche existieren in der Tat nirgends als im Bewußtsein, sie sind objektiv genommen nach der Natur, nicht vor derselben."(63)

Nun geht auch die transzendentalistische Betrachtung über das Unmittelbare hinaus, nämlich zu formalen Gesetzen, deren Form bereits im Subjekt vorliegen. Unmittelbarkeit und Vermittlung stehen sich so als ergänzend gegenüber. Die Vermittlung wird als Unmittelbares hingenommen, d.h. ungeschichtlich. Die Genesis wird in Geltung aufgehoben. Das bürgerliche Denken hat daher ein ungeschichtlichen Charakter. Die Gegenwart wird nicht mehr als geschichtlich betrachtet, sondern kontemplativ hingenommen.


Die Geschichtserkenntnis des Proletariats

"Die Geschichtserkenntnis des Proletariats setzt mit Erkenntnis der Gegenwart, mit der Selbsterkenntnis der eigenen gesellschaftlichen Lage, mit dem Aufzeigen ihrer Notwendigkeit (im Sinne der Genesis) ein. Daß Genesis und Geschichte zusammenfallen oder genauer gesagt, bloß Momente desselben Prozesses sind, ist nur dann möglich, wenn einerseits sämtliche Kategorien, in denen sich das menschliche Dasein aufbaut, als Bestimmungen dieses Daseins selbst (und nicht bloß seiner Begreifbarkeit) erscheinen, andererseits wenn ihre Abfolge, ihr Zusammenhang und ihre Verknüpfung sich als Momente des historischen Prozesses selbst, als struktive Charakteristik der Gegenwart zeigen. Abfolge und innerer Zusammenhang der Kategorien bilden also weder eine rein logische Reihe, noch ordnen sie sich nach der rein historischen Faktizität"(64)

Die Frage, die hier gestellt wird, ist die nach der ökonomischen Struktur der Gesellschaft. Der Begriff der Notwendigkeit ist nach Lukacs nicht im Sinne der bloßen fatalistischen Hinnahme der jeweiligen unmittelbaren ökonomischen Struktur zu verstehen. Die jeweilig geschichtliche Vermitteltheit jeder Produktionsweise ist dabei entscheidend.

Das Nicht-Hinnehmen der Produktionsweise darf jedoch nicht als bloßes Sollen dem Sein entgegengestellt werden:

"Ein solcher Wille, eine solche Bewertung der Empirie würde in der Tat rein subjektiv bleiben: ein »Werturteil«, ein Wunsch, eine Utopie."(65)

Der Kantische Dualismus von Sein und Sollen insbesondere besagt, daß der Begriff der Freiheit in den Erscheinungen nichts erkläre, sondern daß nur der Naturmechanismus in ihnen walte. Eine sinnlose - sollenslose könnte man übersetzen - Empirie steht einem seinslosen Sollen gegenüber, so daß das Dilemma durch den unendlichen Progreß ins Unerreichbare gelöst werden mußte. Diesen hat bekanntlich Hegel als schlechte Unendlichkeit kritisiert. Der Grund der schlechten Unendlichkeit besteht nach Hegel darin, daß relative Bestimmungen als absolut genommen werden und daß qualitativ Unvergleichbares in eine bloß quantitative Beziehung gebracht werden, d.h. die Übergänge werden immer als allmählich interpretiert und die qualitativen Differenzen, d.h. die Sprünge an den Knotenpunkten der Maßverhältnisse, entziehen sich der Erkenntnis. Dies spielt bei der Diskussion des Verhältnisses von Evolution und Revolution eine große Rolle. Nach Hegel wird das Unendliche, das Absolute in das Endliche hinabgezogen, so daß das Sollen eines ist, das immer schon mit dem Endlichen vermittelt ist. Gemäß seiner entelechialen Verfaßtheit, geht ein Endliches daher immer in sein Anderes über, das es der realen Möglichkeit (dynamei on) bereits schon ist. Dem folgt Lukacs:

"Das Hinausgehen über die Unmittelbarkeit der Empirie und ihren ebenso bloß unmittelbaren rationalistischen Spiegelungen darf sich also zu keinem Versuch, über die Immanenz des (gesellschaftlichen) Seins hinauszugehen, steigern, wenn dieses falsche Transzendieren nicht die Unmittelbarkeit der Empirie mit allen ihren unlösbaren Fragen in einer philosophisch sublimierten Weise noch einmal fixieren und verewigen soll. Das Hinausgehen über die Empirie kann im Gegenteil nur soviel bedeuten, daß die Gegenstände der Empirie selbst als Momente der Totalität, d.h. als Momente der sich geschichtlich umwälzenden Gesamtgesellschaft erfaßt und verstanden werden. Die Kategorie der Vermittlung als methodischer Hebel zur Überwindung der bloßen Unmittelbarkeit der Empirie ist also nichts von außen (subjektiv) in die Gegenstände Hineingetragendes, ist kein Werturteil oder Sollen, das ihrem Sein gegenüberstände, sondern ist das Offenbarwerden ihrer eigentlichen, objektiven, gegenständlichen Struktur selbst."(66)

Gegenständlichkeit wird hier im hegelschen, nicht marxschen Sinne genommen. Die Differenz von realer und kognitiver Vermittlung wird eingebnet. Aus der richtigen Einsicht Hegels, daß es kein voraussetzunglosen Neuanfang gibt, daß eine abstrakte Negation, dem, was sie negiert verhaftet bleibt, wird geschlossen, daß es weder ein Moment des Unableitbaren, Unverfügbaren, Nichtidentischen gibt, noch ein gedankliches Transzendentes, das mit dem Endlichen sich nicht vermitteln läßt.

Die bürgerliche Gesellschaft ist daher für den proletarischen Klassenstandpunkt Ausgangspunkt, nicht etwas nur zu Negierendes:

"Die methodologische Funktion der Vermittlungskategorien besteht darin, daß durch ihre Hilfe jene immanenten Bedeutungen, die den Gegenständen zukommen, die aber ihrer unmittelbaren Erscheinung in der bürgerlichen Gesellschaft notwendig zukommen, die aber ihrer unmittelbaren Erscheinung in der bürgerlichen Gesellschaft und dementsprechend ihrer gedanklichen Spiegelungen im bürgerlichen Denken ebenso fehlen, objektiv wirksam werden und darum ins Bewußtsein des Proletariats gehoben werden können. D.h. es ist gerade so wenig ein Zufall wie ein rein theoretisch-wissenschaftliches Problem, daß das Bürgertum theoretisch in der Unmittelbarkeit stecken bleibt, während das Proletariats darüber hinausgeht. In dem Unterschied dieser beiden theoretischen Einstellungen drückt sich vielmehr die Verschiedenheit des gesellschaftlichen Seins beider Klassen aus. Freilich ist die Erkenntnis, die sich vom Standpunkt des Proletariats ergibt, die objektiv wissenschaftlich höhere; liegt doch in ihr methodisch die Auflösung jener Probleme, um die die größten Denker der bürgerlichen Epoche vergeblich gerungen haben, sachlich die adäquate geschichtliche Erkenntnis des Kapitalismus, die für das bürgerliche Denken unerreichbar sein muß."(67)

Die Schranken des bürgerlichen Denkens sind bereits wiederholt thematisiert worden, das quantifizierende, rationalistische Denken, der unendliche Progreß und die Ding-an-sich-Problematik. Der Bürger ist demnach in Unmittelbarkeit befangen. Im gesellschaftlichen Sein des Proletariats tritt nach Lukacs der vermittelte Charakter aller Unmittelbarkeit zu Tage. Das Proletariat empfindet sich nicht gedoppelt als Subjekt und Objekt des Geschichtsprozesses, sondern nur als Objekt. Er spürt die Entfremdung und fühlt sich in ihr nicht wohl. So meint Lukacs offensichtlich. Der Abstraktionsprozeß, die Quantifizierung seiner lebendigen Arbeitskraft, vollzieht sich am Proletarier. Die Arbeitszeit ist seine Lebenszeit, nicht bloß eine abstrakte Größe des Werts einer beliebigen Ware. Er erscheint sich als Objekt, d.h. als Ware, die er veräußert.

"...der Arbeiter erkennt sich selbst und seine eigenen Beziehungen zum Kapital als Ware. So weit er noch praktisch unfähig ist, sich über diese Objektrolle zu erheben, ist sein Bewußtsein: das Selbstbewußtsein der Ware; oder anders ausgedrückt: die Selbstenthüllung der auf Warenproduktion, auf Warenverkehr fundierten kapitalistischen Gesellschaft."(68)

Der Besitzer der Ware Arbeitskraft, der Arbeiter ist ja nicht als ganzer Ware, sonst wäre er Sklave, hat ein Selbstbewußtsein seiner selbst als Ware. Diese Ware erzeugt bekanntlich Mehrwert, von dem er enteignet wird und er erzeugt die Bedingungen seiner Ausbeutung.

"Die Selbsterkenntnis des Arbeiters als Ware ist aber als Erkenntnis: praktisch. D.h. diese Erkenntnis vollbringt eine gegenständliche, struktive Veränderung am Objekt ihrer Erkenntnis. Der objektive Spezialcharakter der Arbeit als Ware, ihr »Gebrauchswert« (ihre Fähigkeit, ein Mehrprodukt zu liefern), der wie jeder Gebrauchswert in den quantitativen Tauschkategorien des Kapitalismus spurlos untertaucht, erwacht in diesem Bewußtsein, durch dieses Bewußtsein zur gesellschaftlichen Wirklichkeit."(69)

Lukacs analogisiert die Hegelsche Logik mit dem Marxschen Kapital, wie der Anfang der Hegelschen Logik das ganze System enthält, so enthält das Kapitel über den Fetischcharakter der Ware die ganze Selbsterkenntnis des Proletariat als Erkenntnis der kapitalistischen Gesellschaft. Dieses Kapitel hatte indes Marx in der ersten Auflage des Kapitals noch gar nicht geschrieben, es sollte eigentlich für diejenigen, die nichts verstehen, eine Lesehilfe sein und zentrale Punkte hervorheben. Die Gesamtentwicklung hält Lukacs dann aber doch nicht für überflüssig. Der Begriff der Klasse taucht ja bei Marx erst dort auf, wo das Manuskript abbricht. Der Begriff der Klasse und die Genesis der Arbeiter als Klasse ist entscheidend für Lukacs. Die Durchrationalisierung der Welt durch das Kapital vereinzelt zwar die Bourgeois, schließt jedoch die Arbeiter zur Klasse zusammen.

"Der Klassensinn dieser Veränderungen besteht aber für die Bourgeoisie gerade in der ständigen Rückverwandlung der neu erklommenen qualitativen Stufe auf ein quantifiziertes Niveau der weiteren rationellen Kalkulierbarkeit. Dagegen besteht der Klassensinns »derselben« Entwicklung für das Proletariat in der zustande gebrachten Aufhebung der Vereinzelung, in dem Bewußtwerden des gesellschaftlichen Charakters der Arbeit, in der Tendenz, die abstrakte Allgemeinheit der Erscheinungsform des gesellschaftlichen Prinzips immer mehr zu konkretisieren und zu überwinden."(70)

Daß die Solidarität der Arbeiter eine gebrochene ist, die durch Taylorisierung und MTM-System destruierte ist und daß die Fraktionierung der Lohnabhängigen keine bloß scheinhafte ist, sondern äußerst real, hat sich mittlerweile als offensichtlich erwiesen und zum Selbstbewußtsein der Ware Arbeitskraft würde es gehören, diese Partialisierung zu reflektieren. Die Einheit der Arbeiterklasse ist so nur eine negative Einheit, geeint durch den Widerspruch zum Kapital, sie kommt nicht positiv in Erscheinung. Dies ist nach Lukacs auch nur an sich der Fall.


Das Proletariat als Subjekt des Prozesses

Das Proletariat ist nur an sich Subjekt des Prozesses. Das Klassenbewußtsein hat keine unmittelbare Daseinsform. Es ist nicht - könnte man sagen - das Bewußtsein der Proletarier, sondern das Bewußtsein der Idee des Proletariats. Das Hinausgehen über die Unmittelbarkeit soll die Gegenständlichkeit der Objekte des Handelns selbst verändern. Sie werden nicht mehr dinghaft, sondern dynamisch, d.h. in ihrer praktischen Wechselwirkung gesehen. D.h. die fetischistischen Beziehungen von Sachen werden als auf den Menschen als bewußtloses Subjekt dieses Prozesses zurückgeführt.

"Jedoch bloß, wenn zugleich daran festgehalten wird, daß diese Beziehungen zwischen Menschen nach Engels Worten »an Dinge gebunden« sind und als »Dinge erscheinen«; wenn keinen Augenblick vergessen wird, daß diese menschlichen Beziehungen nicht unmittelbare Beziehungen von Mensch zu Mensch sind, sondern typische Verhältnisse, in denen die objektiven Gesetze des Produktionsprozesses diese Beziehungen vermitteln, in denen diese »Gesetze« notwendig zu den unmittelbaren Erscheinungsformen der menschlichen Beziehungen werden. Daraus folgt erstens, daß der Mensch als Kern und Grund der versachlichten Beziehungen nur in und durch die Aufhebung ihrer Unmittelbarkeit gefunden werden kann. Daß also stets von dieser Unmittelbarkeit von den verdinglichten Gesetzmäßigkeiten ausgegangen werden muß. Zweitens, daß diese Erscheinungsformen keineswegs bloße Gedankenformen, sondern Gegenständlichkeitsformen der gegenwärtigen bürgerliche Gesellschaft sind. Ihre Aufhebung, wenn sie ihre wirkliche Aufhebung sein soll, kann also keine einfache Gedankenbewegung sein, sondern muß sich zu ihrer praktischen Aufhebung als Lebensformen der Gesellschaft erheben. Jede Erkenntnis die reine Erkenntnis bleiben will, muß notwendigerweise in einer Wiederanerkennung dieser Formen münden. Drittens kann aber diese Praxis nicht von der Erkenntnis abgetrennt werden."(71)

Der Träger des Bewußtseinsprozesses, das Proletariat kann Lukacs zufolge nur das verwirklichen, was - von der geschichtlichen Dialektik hervorgerufen - zur Entscheidung drängt. Lukacs verweist auf Marxens deutung des Austauschs von Arbeitskraft, wo Käufer und Verkäufer der Ware ihr Recht behaupten, der Arbeiter hat das Recht der Beschränkung, der Kapitalist auf die Verlängerung des Arbeitstages. Da Recht gegen Recht steht, entscheidet die Gewalt. Da das Proletariat in der Lage ist den gesamten Produktionsprozeß zu unterbinden: Generalstreik, kann es das Produktionsverhältnis selbst auflösen. Es produziert nicht nur Waren, sondern auch das Produktionsverhältnis, das ihn kommandiert.

"Ist aber die Dinghaftigkeit des Kapitals in einem unterbrochenen Prozeß seiner Produktion und Reproduktion aufgelöst, so kann es auf diesem Standpunkt bewußt werden, daß das Proletariat das wahre - wenn auch gefesselte und vorerst unbewußte - Subjekt des Prozesses ist."(72)


Vorrang des Werden vor dem Sein

Das Diktum: "Das Werden ist die Wahrheit des Seins" drückt die Tendenz der idealistischen Philosophie Hegels aus, alles Statische im Dynamischen aufzulösen. Hegel antizipiert die Tendenz der Moderne alles Statische auf dem Dynamischen aufruhen zu lassen. Eine Normalität gibt es nicht mehr, der Umsturz des Normalen ist die Norm, der alles folgt, permanente Revolutionierung der Produktivkräfte ist die Norm. Die Diagnose von Lukacs, daß das an Unmittelbarkeiten fixierte Denken die Welt als Rätsel sieht, ist von hier aus sicher richtig. Der individuelle Standpunkt mag von hier aus von der Intention und den Methoden her rational sein, der Gesamtprozeß bleibt undurchschaubar, so wie die Entwicklung der Durchschnittsprofitrate bei steigender organischer Zusammensetzung, die Resultat einer auf eine Steigerung des Profits gerichtete Produktivitätssteigerung ist, zeitigt Tendenzen, die nicht beabsichtigt sind:

"Indem die gegenwärtig herrschende Klasse diese Veränderungen nach der ihr einzig gegebenen Weise zu bewältigen versucht und in den Einzelheiten die »Tatsachen« wirklich zu bewältigen scheint, beschleunigt sie durch dieses ihr blindes und unbewußtes Durchführen des von ihrer Lage aus Notwendigen das Wirklichwerden eben jener Tendenzen, deren Sinn ihr eigener Untergang ist."(73)


Tatsache und Tendenz

Lukacs reflektiert die Marxsche Analyse der komplexeren Formen des Kapitals, die zum Gesamtprozeß gehören, Handelskapital, Geldhandelskapital, Bankkapital, erkenntniskritisch, sie sind als bloße Tatsachen vermittelte, abgeleitete Formen des industriellen Kapitals, obwohl sie als deren Grund erscheinen.

"Und diese Priorität drückt sich einerseits historisch darin aus, daß diese abgeleiteten, den Produktionsprozeß nicht bestimmenden Kapitalformen in der Entwicklung nur eine rein negative, die ursprünglichen Produktionsformen auflösende Funktion auszuüben fähig sind, jedoch »wohin dieser Prozeß der Auflösung ausläuft, d.h. welche neue Produktionsweise an Stelle der alten tritt, hängt nicht von Handel ab, sondern vom Charakter der alten Produktionsweise selbst«."(74)

Das Verhältnis von Faktizität und Tendenz ist entscheidend für eine kritische Gesellschaftstheorie, Fakten sind vermittelt durch die Gesellschaft und nur die Reflexion auf den Gesamtprozeß der Gesellschaft als negativer Totalität vermag auch Entwicklungen zu antezipieren. Es stellt sich die Frage, ob Verdinglichung wirklich das Wesen trifft oder ob sie ein Epiphänomen ist, worauf Adorno insistiert:

"Das Unheil liegt in den Verhältnissen, welche die Menschen zur Ohnmacht und Apathie verdammen und doch von ihnen zu ändern wären; nicht primär in den Menschen und der Weise wie die Verhältnisse ihnen erscheinen. Gegenüber der Möglichkeit der totalen Katastrophe ist Verdinglichung ein Epiphänomen; vollends die mit ihr verkoppelte Entfremdung, der subjektive Bewußtseinsstand, der ihr entspricht. Sie wird von Angst reproduziert; Bewußtsein, verdinglicht in der bereits konstituierten Gesellschaft, ist nicht deren Konstituens."(75)

Anders Lukacs. Nach dem Modell des hegelschen Selbstbewußtseins meint er die Rätsel der Weltgeschichte im Proletariat gefunden zu haben. Daß die das Produktionsverhältnis begründende Praxis aller Beteiligten in einer objektiven "Logik der Entfremdung" mündet, die die begründende Praxis selbst setzt, läßt die revolutionäre Mission des Proletariats dagegen als wenig aussichtsreich erscheinen. Der Bewußtseinszustand der die objektive Logik des Kapitals ausdrückt wird indes von Lukacs treffend charakterisiert:

"Kann an den »Gesetzen« noch eine Spur der menschlichen Tätigkeit selbst entdeckt werden, wenn sich dies auch oft in einer verdinglichten, falschen Subjektivität äußert so kristallisiert sich in der »Tatsache« das den Menschen entfremdete, erstarrte, zum undurchdringbaren Ding gewordene Wesen der kapitalistischen Entwicklung in einer Form, die diese erstarrung und Entfremdung zu der selbstverständlichsten, zu einer über jeden Zweifel erhabenen Grundlage der Wirklichkeit und der Weltauffassung macht. Der Starrheit dieser »Tatsachen« erscheint jede Bewegung bloß als eine Bewegung an ihnen, jede Tendenz auf ihr Verändern als bloß subjektives Prinzip (Wunsch, Werturteil, Sollen).Also erst wenn diese methodische Priorität der »Tatsachen« gebrochen ist, wenn das Prozeßartige eines jeden Phänomens erkannt wurde, kann es verständlich werden, daß auch das, was man »Tatsachen« zu nennen pflegt, aus Prozessen besteht."(76)


Der Mensch als Maß aller gesellschaftlichen Dinge

Die fetischistischen Formen sollen aus den "primären menschlichen Beziehungsformen abgeleitet werden, damit die Geschichte nicht mehr als Fatum und rätselhaftes Geschehen:

"Die Geschichte ist (...) einerseits das - freilich bisher unbewußte Produkt der Tätigkeit des Menschen selbst, andererseits die Aufeinanderfolge jener Prozesse, in denen sich die Formen dieser Tätigkeit, diese Beziehungen des Menschen zu sich selbst (zur Natur und zu den anderen Menschen) umwälzen."(76)

Geschichte ist insofern ein dialektischer Begriff, sie vollzieht sich bisher mit Bewußtsein und bewußtlos zugleich. Je nachdem, welches der beiden Momente verabsolutiert wird, verfällt man einer dogmatischen Metaphysik, die alles auf transzendente Mächte zurückführt oder auf einen Relativismus der den Menschen an die Stelle dieser transzendenten Mächte stellt. D.h. der Mensch soll - wie sich Lukacs ausdrückt - "dialektisch gemacht werden"(77), d.h. das Maß aller Dinge muß noch einmal auf sich selbst angewandt werden.

Geschichte ist demnach bloß Vorgeschichte und die Aporie von Relativismus und Absoluten taucht auf solange Theorie und Praxis noch nicht identisch geworden sind. Dies ist freilich erst ein revolutionäres Desiderat. Der dialektische Materialismus ist daher auch kein Relativismus, weil das Maß aller Dinge geschichtlich und dialektisch gefaßt sind:

"Beides im doppelten Sinne. Erstens, indem er niemals vom Menschen schlechthin, vom abstrakt verabsolutierten Menschen spricht, sondern ihn stets als Glied einer konkreten Totalität, der Gesellschaft, denkt. Diese muß von ihm aus erklärt werden, jedoch erst, wenn er selbst in diese konkrete Totalität eingefügt, zur wahren Konkretion erhoben wurde. Zweitens indem der Mensch selbst als gegenständliches Grundlage der geschichtlichen Dialektik, als das ihr zugrunde liegende identische Subjekt-Objekt den dialektischen Prozeß in entscheidender Weise mitmacht."(78)

Der Mensch ist daher und ist nicht, sein Wesen ist nur - wie in der Religion - phantastisch verwirklicht. Dieser nichtseiende Mensch wird zum Demiurg der Geschichte. Die Religionen und transzendenten Geschichtsphilosophien sind Ausdruck dieser Subjekt-Objekt Verkehrung. Die bürgerliche Ideologie macht das Individuum zum Maß aller Dinge, gemäß des Unternehmerstandpunkts, was bringt 's mir ein. Dieses lehnt Lukacs ebenso wie die Gattung als Maß der Dinge ab:

"Das Individuum kann niemals zum Maß der Dinge werden, denn das Individuum steht der objektiven Wirklichkeit notwendig als einem Komplex von starren Dingen gegenüber, die es fertig und unveränderbar vorfindet, denen gegenüber es nur zum subjektiven Urteile der Anerkennung oder der Ablehnung gelangen kann. Nur die Klasse (nicht die »Gattung«. die nur ein kontemplativ-stilisiertes, mythologisiertes Individuum ist) vermag sich praktisch umwälzend auf die Totalität der Wirklichkeit zu beziehen. Und die Klasse auch bloß, wenn sie in der dinghaften Gegenständlichkeit der gegebenen, der vorgefundenen Welt einen Prozeß, der zugleich ihr eigenes Schicksal ist, zu über blicken imstande ist. Für das Individuum bleibt die Dinghaftigkeit und mit ihr der Determinismus (Determinismus ist die denknotwendige Verknüpfung der Dinge) unaufhebbar."(79)

Auf den Begriff der Klasse ist, da Lukacs nirgendwo eine explizite Definition gibt, sondern ihn auf Marx sich berufend verwendet, genauer einzugehen.

Das Identische aller Klassen nach Marx ist, daß sie durch die Art und Weise bestimmt ist wie ein Eigentümer zu Einkommen kommt:

"Die Eigentümer von bloßer Arbeitskraft, die Eigentümer von Kapital und die Grundeigentümer, deren respektive Einkommensquellen Arbeitslohn, Profit und Grundrente sind, also Lohnarbeiter, Kapitalisten und Grundeigentümer, bilden die drei großen Klassen der modernen, auf der kapitalistischen Produktionsweise beruhenden Gesellschaft."(80)

Die Frage, was eine Klasse bildet, hat Marx im Kapital, an der Stelle, wo das Manuskript abbricht, nur negativ beantwortet, es ist prima facie die Diesselbigkeit der Revenuen und Revenuequellen. Danach könnten jedoch unzählige Klassen gebildet werden, Ärzte, Beamte wären eigene Klassen, Weinbergbesitzer, Wohnhausbesitzer etc. Unterklassen von Grundeigentümern. Wenn Lukacs schreibt, daß die Bestimmung der Klassen "einer verhängnisvollen Weise"(81), andererseits abbricht, so muß er aus den verstreuten Bemerkungen von Marxens Gesamtwerk, das selbst der Entwicklung unterliegt, die Klassentheorie "rekonstruieren". Daß der Begriff erst am Schluß des dritten Bandes des Kapitals abgehandelt wird, zeugt dafür, daß es sich um komplexe, vermittelte Kategorienhandelt. Klassen werden nicht durch bewußten Zusammenschluß, sondern naturwüchsig durch die vertikale Arbeitsteilung gebildet, die Resultat des Produktions- und Zirkulationsprozessses sind. Sie sind die Form, wie das Produktionsverhältnis, Klassenverhältnis, erscheint. Ihre Mitglieder fungieren als Charaktermasken. D.h. der Klassenbegriff ist kein klassifikatorischer Begriff, der nach der Identität der Revenueklassen bestimmt wird, sondern ein Reflexionsbegriff, d.h. eine Klasse wird durch das Verhältnis zur gesellschaftlichen Arbeitsteilung konstituiert, in der sie im Kampf gegen die anderen Klassen eine Einheit bilden:

"Die einzelnen Individuen bilden nur insofern ein Klasse, als sie einen gemeinsamen Kampf gegen eine andere Klasse zu führen haben; im übrigen stehen sie einander selbst in der Konkurrenz wieder feindlich gegenüber. Auf der anderen Seite verselbständigt sich die Klasse wieder gegen die Individuen, so daß diese ihre Lebensbedingungen prädestiniert vorfinden, von der Klasse ihre Lebensbestellung und damit persönliche Entwicklung angewiesen bekommen, unter sie subsumiert werden. Dies ist dieselbe Erscheinung wie die Subsumtion der einzelnen Individuen unter die Teilung der Arbeit und kann nur durch die Aufhebung des Privateigentums und der Arbeit selbst beseitigt werden."(82)

Der Klassenbegriff ist wesentlich also ein negativer, kritischer Begriff. Der Sozialismusbegriff ist daher wesentlich damit verknüpft, die Klassen alle aufzuheben, nicht einer Klasse zur Herrschaft zu verhelfen. Die Subsumtion der Individuen unter die Klasse ist ja selbst eine Form rationaler Herrschaft.

Die Kritik von Lukacs an Lassalles Etatismus, wäre gegen die Hypostase der Klasse als positiver zu wenden. Lassalle sah im Staat den einzigen Ausweg für die Arbeiter. Er löste den Staat ab von der Wirtschaftsentwicklung und gab ihm eine utopische Dimension. Dies kritisierte Lukacs mit Recht:

"Schon die mechanische Trennung von Ökonomie und Politik muß jedes wirksame handeln unmöglich machen, das auf die Totalität der Gesellschaft, die auf einer ununterbrochenen, einander gegenseitig bedingender Wechselwirkung beider Momente beruht, gerichtet sein muß. Dazu wird der ökonomische Fatalismus jedes Durchgreifende Handeln auf ökonomischen Gebiet verbieten, während der staatliche Utopismus in die Richtung auf ein Wunder erwarten oder auf eine abenteuerliche Illusionspolitik drängt."(83)

Die Sozialdemokratie ist hiermit sicher treffend charakterisiert. Sie ist auf dem Boden bürgerlicher Anschauungen der Bourgeoisie unterlegen.


Widerspruch als Fundament von Praxis und Weltgeisttheorie des Proletariats

"Ist also die Verdinglichung die notwendige unmittelbare Wirklichkeit für einen jeden im Kapitalismus lebenden Menschen, so kann ihre Überwindung keine andere Form annehmen als die unterbrochene, immer wieder erneute Tendenz durch konkrete Beziehung auf die konkret zutage tretenden Widersprüche der Gesamtentwicklung die verdinglichte Struktur des Daseins praktisch zu durchbrechen. Dabei muß folgendes festgehalten werden: erstens, daß dieser Durchbruch nur als Bewußtwerden der immanenten Widersprüche des Prozesses selbst möglich ist. Nur wenn das Bewußtsein des Proletariats jenen Schritt zu zeigen imstande ist, dem die Dialektik der Entwicklung objektiv zudrängt, ohne ihn jedoch kraft der eigenen Dynamik leisten zu können, erwächst das Bewußtsein des Proletariats, erscheint das Proletariat als das identische Subjekt-Objekt der Geschichte, wird seine Praxis ein Verändern der Wirklichkeit. Vermag das Proletariat diesen Schritt nicht zu tun, so bleibt der Widerspruch ungelöst und wird auf erhöhter Potenz, in veränderter Gestalt, mit gesteigerter Intensität von der dialektischen Mechanik der Entwicklung reproduziert."(84)

Von Hegel übernimmt Lukacs den affirmativen Begriff des Widerspruchs. D.h. Widersprüche müssen sich selbst widersprechen, ein Widerspruch ist der Keim seiner eigenen Auflösung, ein Widerspruch muß zugrundegehen in dem Doppelsinne, des Aufhebens des Alten und des Begründen eines Neuen. Nur das, was ohnehin fällt, das soll man stoßen. Hier befindet sich Lukacs in der Nähe der Abbildtheorie, die die Praxis von dem richtigen Abbilden der objektiven Wirklichkeit abhängig macht. Diese kritisiert Lukacs, indem er Engels Einsicht zitiert, daß die Welt nicht ein Komplex von fertigen Dingen sei, sondern eine von Prozessen. Wenn es aber keine Dinge gebe - Engels spricht indes von fertigen Dingen nicht von Dingen überhaupt, was soll dann denn abgebildet werden? Die Abbildtheorie ist daher auch eine Variante verdinglichten Bewußtsein, womit Lukacs nicht Unrecht hat.

"Denn in der Lehre vom »Abbild« objektiviert sich theoretisch die - für das verdinglichte Bewußtsein - unüberwindliche Dualität von Denken und Sein, von Bewußtsein und Wirklichkeit. Und von diesem Standpunkt kommt es aufs gleiche hinaus, ob die Dinge als Abbilder der Begriffe oder die Begriffe als Abbilder der Dinge gefaßt werden, denn in beiden Fällen erhält diese Dualität eine unüberwindliche logische Fixierung."(85)

Es leicht zu erkennen, daß Lukacs hier Platons Ideenlehre im Auge hat, der Materialismus, der den Platonismus einfach nominalistisch umkehrt. Lukacs wird nicht müde zu wiederholen, daß die Wirklichkeit nicht das Empirisch-Faktische , sondern ein Werden ist. Daher gebe es auch keine reine Logik, sie sei platonisch, ein vom Sein abgelöstes, erstarrtes Denken. Auch hier beruft er sich auf Hegels Wahrheitsbegriff. Er zitiert in diesem Zusammenahng Hegels Religionsphilosophie:"Denn die Wahrheit ist, sich im Gegenständlichen nicht zu verhalten als zu einem Fremden." Dies gilt ihm als revolutionäres Desiderat des Proletariats als identisches Subjekt-Objekt. Das Zitat geht aber weiter und das zitiert Lukacs nicht:

"Die Freiheit drückt dasselbe, was die Wahrheit ist, mit einer Bestimmung der Negation aus. Der Geist ist für den Geist: dies ist er; er ist also seine Voraussetzung; wir fangen mit dem Geist als Subjekt an. er ist identisch mit sich, ist ewige Anschauung seiner selbst; er ist so zugleich nur als Resultat, als Ende gefaßt. Er ist das Sichvoraussetzen und ebenso das Resultat und ist nur als Ende. Dies ist die Wahrheit, dies Adäquatsein, dies Objekt- und Subjektsein. Daß er sich selbst der Gegenstand ist, ist die Realität, Begriff, Idee, und dies ist die Wahrheit."(86)

Was Hegel nur dem absoluten Geist zumutet, wird dem Proletariat zur historischen Mission. Wie dem Geist alle Gegenstände Geist sind - in seinem Anderssein -, so ist dem klassenbewußten Denken des Proletariats sein Denken gleichzeitig die Selbstkritik seines Objekts, der bürgerlichen Gesellschaft. Nicht nur das: es ist "zugleich die kritische Besinnung darauf, wieweit sein eigenes praktisches Wesen wirklich in Erscheinung getreten ist, welche Stufe des wahrhaft Praktischen objektiv möglich und wieviel vom objektiv Möglichen praktisch verwirklicht worden ist. Denn es ist klar, daß eine noch so richtige Einsicht in den prozeßartigen Charakter der gesellschaftlichen Phänomene, eine noch so richtige Enthüllung des Scheins ihrer starren Dinghaftigkeit die »Wirklichkeit« dieses Scheins in der kapitalistischen Gesellschaft nicht praktisch aufheben kann. Die Momente, wo diese Einsicht wirklich in Praxis umschlagen kann, sind eben von dem gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß bestimmt. So ist das proletarische Denken voerst bloß eine Theorie der Praxis, um erst allmählich (freilich oft sprungweise) sich in eine die Wirklichkeit umwälzende praktische Theorie zu verwandeln."(87)

Plötzlich ist es aus mit der Identität von Theorie und Praxis, sie ist doch nur ein Desiderat, dann ist aber das, was sie begründen soll auf einem Desiderat gebaut, also doch nur utopisch. Damit wäre das identische Subjekt-Objekt nur ein Sollen, das Schranken hätte. Da das proletarische Denken jedoch nicht das Denken des Proletariats ist, sondern nur das Denken der Idee des Proletariats, so ist die Diktatur des Proletariats nur die die Diktatur der Idee des Proletariats.



© Martin Blumentritt, Hamburg 1988



Anmerkungen:

1) Friedrich Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, Aph. 373, in Schlechtaausgabe II, 248f
2) Lukacs, Theorie des Romans, 54f
3) GuK 106
4) Philosophie des Geldes 602 STW
5) a.a.O. 587
6) GUK 95
7) "In der Tat erscheint der Austauschprozeß ursprünglich nicht im Schoß der naturwüchsigen Gemeinwesen, sondern da, wo sie aufhören, an ihren Grenzen, den wenigen Punkten, wo sie in Kontakt mit anderen Gemeinwesen treten."
8) Das Geld "ist das Gemeinwesen und kann kein andres über ihm dulden."GR 134
9) GUK 97
10) GUK 98f
11) GUK 1967, 25
12) GUK 98
13) P.Natorp: Begründung der Erkenntnis, 268
14) a.a.O. 269
15) MEW 23, 351
16) GPS 322
17) GPS,321
18) GUK 103f
19) GUK 100
20) GUK 101
21) KRV A34
22) GUK 117
23) GUK 122
24) "Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten; aber alle Versuche, über sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntnis erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zu nicht. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten, welches so schon besser mit der verlangten Möglichkeit einer Erkenntnis derselben a priori zusammenstimmt, die über Gegenstände, ehe sie uns gegeben werden, etwas festsetzen soll. Es ist hiermit eben so, als mit den ersten Gedanken des Kopernikus bewandt, der, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen, und dagegen die Sterne in Ruhe ließ."(KRV, B XVII)
25) David Hume Ein Traktat über die menschliche Natur Buch 1,121
26) KRV , XIII
27) GUK 125
28) GUK 127
29) GUK, 128
30) GUK 129
31) GUK 130
32) GUK 131
33) Fichte Werke X, 200
34) GUK 132
35) GUK 134f
36) GUK 1967 (Vorwort), 25
37) Hegel Bd.7, 26
38) Fichte Werke I, 472
39) ebenda
40) GUK 136
41) GUK 136f
42) ebenda
43) KPV A38
44) GUK 138f
45) Hegel Werke Bd.5, 88
46) Hegel Werke Bd.5, 87
47) MEW EB 371
48) GUK 141f
49) GUK 149
50) GUK 150
51) GUK 151 ohne Nachweis
52) Adorno bemerkt, daß zu dieser Zeit Ästhetiken geschrieben werden konnten, ohne von Kunst etwas zu verstehen, weil "in Kunst und Philosophie der gleiche Geist waltete"(Ästhetische Theorie 496).
53) GUK 151f
54) Ästhetische Erziehung des Menschen 15. Brief
55) GUK 154
56) GUK 156
57) GUK 164
58) GUK 166
59) GUK 166f
60) WL II in Bd.6, 210
61) GUK 169
62) GUK 171
63) Schelliung Werke I.10.140
64) GUK 175
65) GUK 176
66) GUK 178f
67) GUK 179f
68) GUK 185
69) GUK 185f
70) GUK 188
71) GUK 193f
72) GUK 198
73) GUK 200
74) GUK 200f
75) Negative Dialektik 1966, 189
76) GUK 202
77) GUK 204
78) GUK 207
79) GUK 211
80) MEW 25, 892 81) GUK 57
82) MEW 3, 54
83) GUK 214
84) GUK 216
85) GUK 219
86) Hegel Werke Bd. 17, 203
87) GUK 225


Quelle: cl.sozialismus.theorie Message-ID: <5vus1IE2fCB@p-mbl.cl-hh.comlink.de>, 14.10.1995









 

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