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  Politik   

 


Im Vorfeld zu den Berliner Wahlen im Oktober 2001 nimmt der Streit zum Thema PDS wieder besonders heftige Formen an. Das die antikommunistischen Riegen der Konservativen dabei in den übrig gebliebenen Schützengräben des Kalten Krieges an vorderster Front stehen, verwundert nicht.

Aber auch die Sowohl-als-Auch-Sozialdemokraten winden sich mit heftigen Bauchschmerzen durch dieses Thema hindurch, Es kann deshalb  schaden, in die  gegenwärtig Diskussion historische Dokumente einzubringen. Der Berliner SPD-Altlinke Heinz Beinert, hat bereits im August 1990 in einem Offenen Brief seine Partei zur Zusammenarbeit mit der PDS aufgefordert. Wir veröffentlichen diesen Brief, der in weiten Teilen noch aktuell ist, im folgenden.



Heinz Beinert
Mitglied der Kreisdelegierten
versamlung der SPD in
Berlin-Charlottenburg

1000 Berlin 12, den  17.8.1990
Schillerstraße 10
Telefon 030/313 70 47




Offener Brief


An die
Sozialdemokratische Partei Deutschlands
Bundesvorstand
Landesvorstand Berlin
Kreisverband Berlin-Charlottenburg
Landesvorstand der DDR



Der kompromißlose Kampf für die Fünf-Prozent-Klausel bei der Wahl zum gesamtdeutschen Parlament ist ein Anschlag auf die Demokratie und den Parlamentarismus.

Die damit versuchte Ausschaltung der Bürgerrechtsbewegungen und der PDS wird sich für die SPD schon bald als ein verhängnisvoller Fehler erweisen. Die SPD hätte jetzt--noch die Chance, bei den Schlußberatungen des Wahlrechtsgesetzes in der Volkskammer und im Bundestag ihre Haltung in dieser Frage zu revidieren.

Die kritische Auseinandersetzung und Zusammenarbeit mit der PDS ist für die SPD unerläßlich.




Liebe Genossinnen und Genossen!

Der derzeitige Zustand der SPD ist besorgniserregend, und ich glaube, Ihr wißt das auch. Für viele Bürger unseres Landes ist die Politik unserer Partei nicht mehr nachvollziehbar. Soweit sie überhaupt noch erkennbar ist, wird sie von diesen Bürgern - und das sind mehr, als Ihr Euch das in Euren Apparattürmen vorstellen könnt mit ihren Brüchen, ihren mangelnden Alternativen und ihren teilweisen reaktionären Zügen nicht akzeptiert.

Auf den festen Fundamenten der Ost- und Entspannungspolitik Egon Bahrs und Willy Brandts könnte die SPD aufrechten Ganges in die deutsche Einheit gehen, hätte sie dem diffusen Pragmatikkurs Kohls machbare und mutige Ideen entgegengesetzt und diese parlamentarisch und außerparlamentarisch in die Öffentlichkeit getragen. So hätte man die Deutschen in Ost und West auf Gegenkurs zu Kohl bringen können. Aber bis jetzt alternativlos und zudem mit dem Odium der Wahlrechtsmanipulation behaftet, wird es wohl nur ein gebeugter Gang werden.

Euer kompromißloser Kampf für die Fünf-Prozent-Klausel bei den gesamtdeutschen Wahlen ist ein unserer Partei unwürdiger Anschlag auf die Demokratie und das parlamentarische Leben im künftigen Deutschland. Durch die damit versuchte Ausschaltung von mehr oder weniger starken politischen Gruppierungen wird die SPD selbst zu einem Faktor der Instabilität. Wer millionenfachen Wählerwillen um des eigenen Machtvorteils wegen aus dem Parlament verbannt, treibt politische Gruppen in extremistische Positionen und Handlungen außerhalb des Parlaments. Aber, so denkt Ihr vielleicht, damit sind sozialdemokratische Polizeipräsidenten und Innenminister noch allemal fertig geworden - und gibt es da nicht noch immer den Radikalenerlaß und die daraus abzuleitenden Berufsverbote?

Man kann es Euch vor allem nicht durchgehen lassen, daß Ihr mit der Wahlrechtsmanipulation diejenigen Gruppen ausschalten wollt, die bereits vor dem 7. Oktober 1989 Widerstand leisteten und durch ihre Aktionen danach erst die friedliche Revolution möglich machten. Merkwürdig, daß Ihr zu denen nie ein Verhältnis gefunden hattet. Euer "Listenangebot" an die Bürgerrechtsbewegungen der DDR kommt einer Verhöhnung dieser Kräfte gleich. Aus ihrer schmerzlichen Erfahrung von 40 Jahren SED-Herrschaft werden sie sich hüten, unter die Fittiche von Altparteien zu kriechen, in deren Verständnis Eigenständigkeit und selbständiges Denken spätestens an der Fraktionsgarderobe abzugeben sind.

Die Sperrklausel diente ursprünglich der Aufrechterhaltung eines Drei-Parteien-Kartells, das in sich so funktionierte, daß immer eine Partei die Rolle der Opposition spielen mußte. Dieses System war sozusagen das demokratische Pendant zum stalinistischen Blockparteien-System in der DDR. Auf Dauer angelegt wurde es ernstlich auf Bundesebene durch den Einzug der Grünen in den Bundestag erschüttert zum Entsetzen seiner Erfinder und Hüter. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß Euer vehementes Eintreten für diese Verwerfung demokratisch-parlamentarischer Strukturen das Ziel hat, bei dieser "Gelegenheit" das alte vertraute Kartell wieder herzustellen, angereichert durch die vereinnahmten Blockflöten.

Noch stärker als die Bürgerrechtsbewegungen wollt Ihr mit der Sperrklausel natürlich die PDS treffen. Für den Parteivorsitzenden war deren Beseitigung über Wochen hinweg fast das einzige Thema, die wichtigen Fragen des Staatsvertrages vergaß er darüber. Andere in der Führung der Partei wollten ihn gar noch überholen. Ernsthaft, Genossinnen und Genossen, Eure Haltung in dieser Frage war so jämmerlich und im Verhältnis zu den wirklichen Problemen so lächerlich überzogen, daß man sich offen davon distanzieren mußte.

Als Nachfolgepartei der SED(deren unfreiwilliges Mitglied ich als Sozialdemokrat 1946 für zwei Jahre wurde) hat die PDS in meinem Verständnis eine wichtige Funktion. In Eurer von Rachegedanken verblendeten Politik unterschätzt Ihr diese Funktion, die sie mit der Aufarbeitung des Stalinismus übernommen hat, nämlich die Regenerierung eines starken Flügels der deutschen Arbeiterbewegung auf dem Gebiet der Noch-DDR - und nicht nur dort. Kritische Partnerschaft dabei würde uns gut anstehen; denn so ganz unbefleckt steht unsere Partei ja wohl auch nicht in der Geschichte seit dem August 1914 da.

Eure Kurzsichtigkeit in dieser Frage könnte auch dazu führen, daß die SPD als Minderheit in einem mehrheitlich konservativ besetzten gesamtdeutschen Parlament sitzt.

Oder seid Ihr so kühn,anzunehmen, die SPD hätte per se eine strukturelle Mehrheit? Mein Plädoyer für den Beginn eines kritischen Dialoges mit der PDS hat aber noch eine weitere Komponente: ich gehe von der sicher nicht falschen Annahme aus, daß die Vorgängerpartei SED nicht nur aus "Tätern" bestand, sondern in ihren Reihen zahllose arbeitende Menschen ehrlich glaubten, trotz erkennbarer Schwächen des Regimes der Sache der Arbeiterbewegung und des Sozialismus zu dienen, Sollen die nun alle aus dem Prozeß der Gestaltung eines neuen Deutschland ausgegrenzt werden? Da müßte ich dann ja auch fragen, ob ich eigentlich noch Mitglied meiner Partei sein könnte, nähme ich nicht an, die Verantwortlichen für den, aus meiner Sicht, falschen Kurs der SPD handelten dennoch subjektiv ehrlich? Also muß ich mit denen wie mit den anderen diskutieren und streiten, die Parteigrenzen spielen dabei nur eine sekundäre Rolle.

Ich muß allerdings annehmen, daß Ihr nicht bereit seid, meiner Argumentation zu folgen, Euer öffentliches Auftreten in den letzten Monaten hat dies gezeigt. Ihr habt zwar mit den SED-Stalinisten über einen langen Zeitraum hinweg verhandelt und sogar ein - lobenswertes - Papier "Zur Kultur des politischen Streites" gemeinsam erarbeitet, aber ihren Nachfolgern in der PDS - die einen glaubwürdigen Erneuerungsprozeß nachweisen können steht Ihr unversöhnlich und feindselig gegenüber; es hat fast den Anschein, als betrachtet Ihr deren Suchen nach einen demokratisch-sozialistischen Weg als ein lästiges Konkurrenzunternehmen.

Aus der Geschichte solltet Ihr gelernt haben, daß feindseliges Verhalten in der Arbeiterbewegung gegeneinander immer nur den konservativen Kräften in der Gesellschaft zugute kommt. Es wäre fatal, wenn Ihr zu dieser Einsicht nur deshalb nicht bereit seid, um Euch politisch Vorteile zu erwirtschaften. Aber der Zweck heiligt nicht alle Mittel. Abgesehen von dem tumben antikommunistischen Gehabe ist es die - schon mehrfach betonte -Wahlrechtsmanipulation, mit der Ihr die ganze SPD in beiden deutschen Staaten in ein politisch und moralisch zweifelhaftes Licht stellt.

Da hilft es wahrscheinlich nur noch, Euch durch offene und öffentliche Verweigerung der Gefolgschaft bei diesen verantwortungslosen Manövern zur Einsicht zu bringen. Hier seid Ihr an einem Punkt angelangt, an dem viele Bürger in- und außerhalb der Partei sagen, wenn   d i e s e SPD mit anderen zusammen einen nicht unwesentlichen Teil unseres Volkes an der parlamentarischen Mitwirkung hindern will, dann werden wir diese bedrohten Kräfte bei den Wahlen mit unseren Stimmen stützen, obwohl wir eigentlich ganz anders votieren wollten. Ihr solltet also nicht zu früh triumphieren, am Ende könnte Oskar Lafontaine schlechter dastehen, als weiland König Pyrrhus, mit hohen Verlusten, aber ohne Sieg.

Vielleicht braucht die SPD eine solche Roßkur, um zu lernen, daß die Zeit der kungelnden Parteienkartelle eben so vorbei sein muß wie das System der Blockparteien. Ein neues Politik und Herrschaftsverständnis muß zu einem reformierten Verhältnis zwischen Regierenden und Regierten, zwischen Parlamenten und Institutionen auf der einen und den Bürgern auf der anderen Seite führen. Letzten Endes geht es um die Aufhebung des krassen Gegensatzes zwischen dem heute noch dominierenden Oben und dem meistens wehrlosen Unten. In der großartigen Rede von Antje Vollmer im Bundestag am 9. August klang vieles davon an. So eine Rede hätte ich mir schon lange einmal aus dem Munde eines sozialdemokratischen "Enkels" gewünscht.

Schon in den nächsten Tagen, wenn in der Volkskammer und im Bundestag abschließend über das Wahlrecht beraten und abgestimmt wird, hätte unsere Partei die Chance,ihre bisherige Haltung zu revidieren und mit ihrer Sperrminorität zumindest eine auf die Länder bezogene Sperrklausel durchzusetzen. Angesichts der Kritik an der "Listenlösung" quer durch die Medien des In und Auslandes, in fast allen Parteien und selbst von Verfassungsrechtlern dürfte Euch eine derartige Entscheidung eigentlich nicht schwer fallen, sie wäre auch kein Gesichtsverlust.

Doch bewegt sich hier nichts und sollte auch in anderen, mit der Vereinigung zusammenhängenden Problem feldern keine Kursänderungen zu erkennen sein, dann wird die Kritik an der SPD zunehmen und ohne Zweifel substantieller werden. Dies gilt auch für die inneren Verhältnisse der SPD. Die scheinbar unerschütterliche Konsistenz könnte sehr leicht in schmerzlicher Weise Risse bekommen, wenn von Euch in wichtigen politischen Fragen Entscheidungen getroffen werden, die für einen Teil der Partei unzumutbar sind. Es ist nicht auszuschließen, daß sich dies dann auch im Wahlverhalten ausdrückt. Dies ist dann - mindestens für mich – keine Frage der Loyalität, sondern der politischen Vernunft und der Moral.

Liebe Genossinnen und Genossen, in dem jetzt zusammenwuchernden Deutschland wird der Wind den politischen Kräften links von der Mitte noch mächtig ins Gesicht blasen. Deshalb muß das künftige Parlament auf der linken Seite ein breites Spektrum von Parteien, Gruppen und Ideen haben. Ihr tätet gut daran zu begreifen, daß Ihr für die soziale Gerechtigkeit im Lande sowie für den inneren und äußeren Frieden mehr tun könnt, wenn Ihr in diesem Parlament Partner habt, die über den Tellerrand von Machtpolitik und Marktwirtschaft hinaus für die po1itische Entwicklung in Deutschland, Europa und und der ganzen Welt eine globale humanistische Perspektive haben. Wer solche potentiellen Partner ausschalten will oder abweist, begeht auch ein Stück Selbstentleibung.

Mit freundlichen Grüßen

gez. Heinz Beinert



 




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