Start

Buchver�ffentlichungen  









Manfred Behrend

Rezension

Werner Eberlein: Geboren am 9. November. Erinnerungen. Verlag Das Neue Berlin, 2000, 536 Seiten


Obwohl er einst ein hoher SED-Funktionär war, ist dieser Autor weder Betonkopf noch Wendehals. Mit dem Buch will er Denkanstöße vermitteln, Einblick in das Leben eines „Ehemaligen“ und Zuversicht geben. (S. 6) Sein Weg seit der Geburt 1919 ist in mancher Hinsicht einmalig. Das beginnt mit den Familienverhältnissen und setzt sich fort. Sohn von Mitbegründern der KPD, ist er durch die zweite Frau seines Vaters und beider Tochter mit der Lenin-Vertrauten Inès Armand, durch den zweiten Ehemann seiner Mutter, Willy Huhn, und beider Sohn mit dem Hauptkassierer der Roten Hilfe und späteren Leiter der DDR-Zentralbank resp. dem bekannten heutigen Verleger linker Literatur in Ostberlin Klaus Huhn verwandt. Vater Hugo Eberlein vertrat die KPD beim ersten Kongreß der Kommunistischen Internationale 1919, lehnte aber entgegen seiner eigenen Meinung auf Weisung Rosa Luxemburgs den sofortigen Beitritt zur KI ab, damit nicht – was der Verfasser außer acht läßt – die Internationale von der KP Rußlands dominiert werde. Später für die Komintern und in der KPD tätig, gehörte er zeitweilig im Streit mit Thälmann den „Versöhnlern“ an. Er wurde 1937 auf Stalins Weisung in Haft genommen und 1941, als Hitler vor Moskau stand, wegen angeblicher Spionage erschossen. Gleiches widerfuhr zwei Onkeln des Verfassers, dem deutsche Kommunisten Leo Flieg und dem polnischen Gutek Rwal. Werner Eberlein selbst, der Deutschland 1934 hatte verlassen müssen, wurde 1940 nach dem Besuch der berühmten Karl-Liebknecht-Schule im Moskau und einer Tätigkeit als Lastenträger ins ferne Sibirien verbannt. Er kam erst 1947 wieder frei, als ein einstiger prominenter Mitstreiter Hugo Eberleins in der KPD, Wilhelm Pieck, zu seinen Gunsten bei Stalin intervenierte.

In Ostzone und DDR war Werner Eberlein seit 1948 beim FDGB und bei der SED in Lohn und Brot. Entscheidend für seine Laufbahn wurden die exzellenten Russisch-Kenntnisse, die er aufwies, verbunden mit Verständnis für die sowjetische Mentalität, rhetorischem Talent und politischer Leidenschaft. Sie führten dazu, daß er sich zum international bekannten Dolmetscher insbesondere Nikita Chrustschows, aber auch vieler anderer Politiker, sowjetischer Wissenschaftler, Kosmonauten und Künstler entwickelte. Gleichzeitig wurde er mit DDR-Größen wie Walter Ulbricht und Erich Honecker, den Führern anderer Blockparteien usw. vertraut und nahm an wichtigen Spitzentreffen im Ostblock teil. Mit der Aufnahme ins Zentralkomitee 1981 begann seine Karriere an der Parteispitze. Er wurde Kandidat und Mitglied des Politbüros, Erster Sekretär der SED-Bezirksleitung Magdeburg, 1989 schließlich Vorsitzender der Zentralen Parteikontrollkommission. Bei alledem blieb Eberlein integer. Er ist deshalb nicht ausgeschlossen, sondern in die PDS übernommen worden.

Im Buch gibt der Verfasser seine Biographie in vielen, jedoch nicht allen Punkten adäquat wieder. Am besten ist ihm die Darstellung von Erlebnissen in der UdSSR sowie der Menschen, die ihm hier begegneten, gelungen. Es waren meist einfache Leute, Proletarier und oft frühere “Kulaken“, die sich trotz terroristischer Diktatur, harter sozialer und Naturbedingungen behaupten konnten und mit erstaunlicher Improvisationskunst Voraussetzungen in der Produktion für den Sieg über Hitlerdeutschland schufen. Geglückt sind diverse Politikerporträts, darunter die Chrustschows, Alexander Dubceks und Leonid Breshnews, die Schilderung des Schicksals Hugo Eberleins, der zu den wenigen gehörte, die kein von ihren Peinigern erlogenes „Geständnis“ ablegten, und die von Stiefvater Willy Huhn, welcher 1950 des „Trotzkismus“ bezichtigt und als Zentralbankdirektor abgelöst, dank veränderter politischer Lage allerdings nicht in Haft genommen oder gar liquidiert wurde. Ebenfalls interessant sind Darlegungen des Autors über seine Arbeit beim FDGB-Bundesvorstand und als SED-Bezirkssekretär sowie über unvorhergesehene Vorkommnisse in der Übersetzertätigkeit. Andere, so über Redaktionsarbeit beim SED-Pressedienst und beim „Neuen Deutschland“, das Studium an der Moskauer Parteihochschule 1951-1954 und verschiedene Haupt- und Staatsereignisse sind es mangels hinreichender Faktenvermittlung weniger.

In einer Reihe von Fällen unterliefen Eberlein Fehler. Dazu gehören die z. T. falsche Darstellung des Westberliner S-Bahnstreiks 1949 (S. 228 ff.) und Behauptungen wie die, Ulbricht habe 1956 in einer Parteiaktivtagung (statt einem ND-Artikel) erklärt, Stalin sei nicht mehr als Klassiker des Marxismus-Leninismus anzusehen. Er habe sogleich Denkmal und Straßennamen wegräumen lassen (S. 285), während das in Wahrheit später geschah. Zwar stellte – wie der Verfasser anmerkt - die Stalinsche Kollektivierung tatsächlich nicht die „Ursache allen Übels“ in der sowjetischen Landwirtschaft dar. (S. 289) Doch fügte die mit ihr verbundene Vernichtung von Millionen Menschen und zahlreicher Produktionsmittel dieser, der Sowjetunion und dem Sozialismus ungeheuren, bis heute nicht voll überwundenen Schaden zu. Die Zustimmung vieler DDR-Bürger zum Mauerbau 1961 war eher geteilt als „ungeteilt“ (S. 325). Auch gab es kaum Sympathien für Honeckers Machtantritt schon deshalb, weil er 19 Jahre jünger als Ulbricht war (S. 465); sie stellte sich erst nach sozialen, kurzzeitig auch politischen Zugeständnissen seinerseits ein.

Über seine unmittelbaren Erfahrungen mit Stalins Terrorregime schreibt der Verfasser zunächst: „Wer immer versucht, für diese Ereignisse in der Sowjetunion eine Erklärung zu finden, wird eines Tages aufstecken.“ (S. 79) In harter Auseinandersetzung mit eigenen früheren Vorstellungen hat er die Verderblichkeit des Stalinismsus später erkannt und verdeutlicht. Er verweist dabei auf Definitionen Leo Trotzkis und Valentin Falins sowie auf Forschungsergebnisse von Autoren der „Beiträge zur Stalinismus-Diskussion“, Berlin 1997, besonders Gerhard Lozeks und Hartmut Krauss‘. Eberlein schließt sich dem Standpunkt an, es gehe hier um ein System diktatorischer einschließlich terroristischer Herrschaftspraktiken in Staat und Gesellschaft sowie um ein Krebsgeschwür am Körper des Sozialismus, das weiter zu bekämpfen sei. „Die in Gang gekommene historische Aufarbeitung... muß fortgesetzt werden.“ (S. 269 und 271) Zu den sozialen Wurzeln der Erscheinung, den höheren Schichten der Bürokratie und der Nomenklatura, dringt er nicht vor. Es wäre falsch, ihm das beckmesserisch anzulasten, hatten diese Erkenntnis doch nur wenige. Werner Eberlein überragt auch so – nicht nur seiner beachtlichen Körpergröße wegen – viele Zeitgenossen.

Die Vorgänge vom 13. August 1961 führt der Autor aus intimer Kenntnis vorangegangener Erwägungen darauf zurück, daß sich Chrustschows Idee, Ostberlin und die DDR auf Kosten anderer „Bruderländer“ zum „Schaufenster des Sozialismus“ zu gestalten, nicht durchsetzen ließ und Ulbricht seit 1958 der massenhaften Fälle von Republikflucht wegen die Schließung der bisher offenen Westgrenze vorschlug. Vor der Aktion habe der sowjetische Parteichef USA-Präsident Kennedy und Bundeskanzler Adenauer unterrichtet. Ein Fehler sei nicht diese militärische Aktion zur Rettung der DDR gewesen, sondern der Verzicht auf eine Analyse der dahin führenden Ursachen, welche ebenso wie später die der Ursachen des „Prager Frühlings“ und seiner Unterdrückung unterblieb. (S. 320 ff. und 354) Drahtsperren und Minenfelder an der Westgrenze anzulegen, habe der Oberkommandierende der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland, Marschall Konjew, von Ostberlin verlangt. (S. 327)

In weiteren Abschnitten befaßt sich Eberlein mit der Stagnationsperiode in der UdSSR unter Breshnew, der am Ende den Eindruck eines senilen Greises auf ihn gemacht habe. In dem Fehler, jede notwendige Reform abzublocken, habe Honecker eine Rechtfertigung für seine eigene Politik gesehen. (S. 388) Gründe für das Scheitern von Glasnost und Perestroika unter Michail Gorbatschow sieht der Verfasser in der „destruktiven Polarisierung der schöpferischen Kräfte“ statt inhaltlicher Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, im Mangel an einer ökonomischen Konzeption, Illusionen über die Lebensbedingungen nach Einführung der Marktwirtschaft und Unterschätzung der Nationalitätenfrage resp. des hier angehäuften Sprengstoffs. (S. 448 ff.) Der Widerstand der Bürokratie gegen erforderliche revolutionäre Wandlungen und die politische Apathie des Gros der Arbeiterklasse, die diesem viele Jahrzehnte lang aufgezwungen und antrainiert wurde, kommen bei ihm nicht vor.

Auch die Ursachen für den DDR-Anschluß an die Bundesrepublik hat Eberlein nur teilweise ergründet. Er führt ihn wesentlich auf Gorbatschows und Schewardnadses Kapitulationskurs zurück, den sie mit unter dem Einfluß solcher Berater wie Daschitschew um des Überlebens der Sowjetunion willen steuerten, das dadurch freilich keineswegs erreicht werden konnte. (S. 484 ff.) Die Öffnung der Westgrenze der DDR auf Beschluß von Politbüro und Zentralkomitee der SED, bei nachträglicher Billigung durch den Ministerrat der DDR am 9. 11. 1989 ist ihm offenbar entgangen, bzw. er hat diesen Vorgang verdrängt. An ihn klingt nur die Formulierung an, daß die „folgenden Turbulenzen an der Grenze“ niemand vorausgeahnt habe. (S. 471)

Entgegen Gorbatschow billigt der Autor dem Stalinschen und nachstalinschen System in der Sowjetunion zu, Sozialismus gewesen zu sein. Andererseits drängt er mit vollem Recht darauf, den demokratischen Sozialismus, der Anfang des 21. Jahrhunderts die einzige Alternative zur unheildrohenden Weltherrschaft des Kapitals sei, eine überzeugende und motivierende Konzeption zu geben. (S. 490 bzw. 530 ff.)

Alles in allem ist Eberleins Buch die aufrichtige Darstellung des Lebens eines aufrechten, in vielem ungewöhnlichen Kommunisten, der sich durchbeißen lernte und ungeachtet diverser persönlicher und politischer Schicksalsschäge, in Detailansichten keineswegs von Fehlern frei, seinen ursprünglichen Idealen treu geblieben ist.


© Manfred Behrend (Berlin)








 

GLASNOST, Berlin 1990 - 2019