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Manfred Behrend
Rezension
 George Dimitroff: Tagebücher 1933-1943. Hrsg. von Bernhard H. Bayerlein.
Aus dem Russischen und Bulgarischen von Wladislaw Hedeler und Birgit Schliewenz,
712 S.
Kommentare und Materialien zu den Tagebüchern 1933-1943. Hrsg.
von Bernhard H. Bayerlein und Wladislaw Hedeler unter Mitarbeit von Birgit
Schliewenz und Maria Matschuk, 773 S. Beide Bände Aufbau-Verlag, Berlin
2000. ISBN 3-351-02510-6, 99,90 DM
Georgi Dimitroff (1882-1949) zählte zu den populärsten Führern
des Weltkommunismus. Er war bis zur Verhaftung nach dem Reichstagsbrand 1933
Sekretär des Westeuropäischen Büros der Kommunistischen Internationale,
stand nach seiner Freilassung 1934 an deren Spitze, ab 1935 als Generalsekretär
des Exekutivkomitees, wurde nach der Komintern-Auflösung 1943 Vizechef
der Abteilung Information beim ZK der KPdSU (B) und 1946 Vorsitzender des
bulgarischen Ministerrats. Seine jahrzehntelang geheim gehaltenen Tagebücher
sind 1997 vollständig in Sofia, nunmehr auf die Jahre 1933-1943 begrenzt
in Berlin erschienen. Nach der Veröffentlichung muss nicht, wie Editor
Bayerlein suggeriert, "die sowjetische und die Kominterngeschichte neu
geschrieben werden". (Kommentarband S. 8) Doch bieten die Notizen Möglichkeiten
zu exakterer Darstellung und bergen bisher unbekannte oder kaum bekannte Details.
Für den ersten Teil - das Tagebuch aus Dimitroffs
Haftzeit 1933/34 - trifft das im geringsten Maße zu. Er ist in
Dokumentensammlungen zum Reichstagsbrandprozess bereits verwertet worden.
Ähnlich gleichartigen Passagen in weiteren Tagebuchteilen birgt er an
Neuem nur persönliche Dinge, darunter die Krankengeschichte des Autors
und seines früh verstorbenen Sohns sowie karge Angaben über einige
Geliebte Dimitroffs.
Ab 1934/35 werden die Notizen ergiebiger. Wichtig sind vor
allem Stalins "Ratschläge" an die Komintern. Am 11. 2. 1937
verlangte er, sie möge dem Eindruck entgegenwirken, als rühre der
"antitrotzkistische" Kampf "von der Auseinandersetzung
zwischen mir und Trotzki und... Stalins schlechtem Charakter her".
Vielmehr hätten diese Leute "bereits gegen Lenin gekämpft".
Der Diktator erfand ein angebliches Lenin-Zitat, jede auf ihrem Standpunkt
beharrende Opposition gleite in "Weißgardistentum" ab,
und verwarf einen Beschlussentwurf der KI, in dem dergleichen nicht enthalten
war. "Ihr alle dort in der Komintern arbeitet dem Feind in die Hände."
(S. 149) Am 7. 11. 1937 lobte er die Zaren dafür, dass sie ein Riesenreich
zusammenerobert hatten. Wer an dessen Einheit rühre, sei "ein
geschworener Feind. Und wir werden jeden dieser Feinde vernichten, sei er
auch ein alter Bolschewik, wir werden seine Sippe, seine Familie komplett
vernichten." (S. 162) Stalin deklarierte die "Trotzkisten"
zu "schlimmsten Agenten des Faschismus". (S. 164) Keine zwei
Jahre später schloss er einen Pakt mit Hitler und trug hierauf am 7.
9. 1939 den Kurs der Volksfront und des Umwerbens der Westmächte zu
Grabe: "Die Unterscheidung der kapitalistischen Länder in faschistische
und demokratische hat ihren bisherigen Sinn verloren." Es sei gut,
wenn "die kapitalistischen Staaten kräftig aufeinander einschlagen"
und "wir im Ergebnis der Zerschlagung Polens das sozialistische System
auf neue Territorien und die Bevölkerung ausdehnen". (S. 273 f.)
Die "mit Blut besiegelte Freundschaft" zu Hitlerdeutschland war
ihm so wertvoll, dass er am 29. 3. 1941 die KI vor allzu lebhaften Kampagnen
zugunsten des dort eingekerkerten Thälmann warnen ließ. (S. 286
bzw. 364). Auch nach Dimitroffs Notizen wurde Stalin ungeachtet vorangegangener
Warnungen vom deutschen Überfall am 22. 6. 1941 auf die Sowjetunion
überrascht. Immerhin besaß er Geistesgegenwart genug, um anzuordnen,
die UdSSR dürfe keinen revolutionären, sie müsse einen "vaterländischen
Krieg" führen; die kommunistischen Parteien hätten diesen
zu unterstützen, die Komintern dürfe "vorerst nicht offen
auftreten". (S. 393)
Schon vor dem deutschen Überfall hatte Stalin die Auflösung
der Komintern erwogen und am 20. 4. 1941 festgestellt, man möge die
KPs "zu völlig eigenständigen Parteien" mit z. T. unterschiedlichen
Namen machen und sie die im jeweiligen Land anstehenden Aufgaben "selbständig
lösen" lassen. (S. 374) Wie in allen Fällen suchte die KI-Spitze
dem nachzukommen. Doch verzögerte sich der Auflösungsprozess
bis 1943, worauf nunmehr Stalin energisch auf raschen Abschluss drängte.
Seine Erläuterungen enthielten das Eingeständnis: "Die weitere
Existenz der KI wäre eine Diskreditierung der Idee der Internationale."
Durch die Auflösung würden ihr angehörende Parteien von dem
Verdacht befreit, "Agenten eines fremden Staates" zu sein. (S.
295) Diese Spekulation ging auch deshalb nicht auf, weil ihr Urheber die
Komparteien weiter herumkommandierte und für machtpolitische Zwecke
der Sowjetunion ausnutzte.
In den Notizen vermeidet Dimitroff jede Andeutung, als wäre
er mit Schritten Stalins nicht einverstanden. Er erscheint als treuer Gefolgsmann
des Gewaltigen und Jasager zu allem, das im "freiesten Land der Erde"
an Terror und Bruch mit sozialistischen Prinzipien geschah. Entgegen heutigen
Kommentaren muß indes gefragt werden, was er anders hätte tun
können, um am Leben zu bleiben. In den Tagebüchern fehlen Eintragungen
zwischen Januar 1935 und August 1936, damit auch der VII. Kominternkongreß
und seine eigene Wahl zum Generalsekretär. Einige Seiten wurden herausgetrennt.
Der Verfasser schweigt zur Unterdrückung nichtstalinistischer Sozialisten
in Spanien, zur Gründung der IV. Internationale, zum deutsch-sowjetischen
Grenz- und Freundschaftsvertrag 1939 und zur Ermordung Trotzkis. Seine Persönlichkeit
und Funktion machen es schwer, hier an Zufälle zu glauben.
Die auf Seite 20 des Kommentarbands von Wolfgang Engler aufgestellte
Behauptung, dieser Mann habe "alles" gewußt und "mitunter
sogar Spott mit den Verängstigten in seiner Umgebung" getrieben,
wird durch die Tagebuchnotizen widerlegt. Wie seine Reaktionen erweisen,
hatte Dimitroff von manchem vorher keine Ahnung, so von den Massenmorden
in Katyn. Zudem spottete Stalin und nicht er. (S. 99) Allerdings nahm er
in der Tat Übles gottergeben hin und war gleich anderen KI-Führern
an manchem beteiligt.
Die Tagebücher offenbaren eine Vielzahl interessanter
Fakten, so über das Zusammenwirken mit NKWD-Vertretern, wenn es um Einsätze
im Ausland oder die Übermittlung politischer Informationen ging. Sie
belegen die herausragende Rolle des Kominternapparats in der antifaschistischen
Rundfunkpropaganda, darunter durch in Sendungen der Nazistationen eingeblendete
Zwischenrufe. Bestätigt wird, dass die sowjetische Führung im Kriege
stets um Einvernehmen mit den Westmächten und mit bürgerlichen
Kräften bemüht war. Daher suchte sie Konflikte der chinesischen
Kommunisten mit Tschiang Kaishek unter den Teppich zu kehren und einer Agrarrevolution
in China vorzubeugen, ließ sie Titos Partisanen jahrelang ohne dringend
benötigte Waffenhilfe.
Ohne den Kommentarband würde es schwerer und z. T. unmöglich
sein, manche Tagebuchnotizen zu verstehen. Zugleich enthalten er und die
Textbeiträge Bayerleins und Englers Fehler. Die widerlegte Mär
vom "Spartakusaufstand" 1919 wird wiederholt (S. 575), die Reichswehr
vor ihrer Geburt für die Morde an Luxemburg und Liebknecht, nach ihrem
Aufgehen in der Wehrmacht für den Überfall auf die UdSSR verantwortlich
gemacht. (S. 542 bzw. 14) Hitler erhält den Himmler-Rang des "Reichsführers".
(S. 41) Mexiko soll die "Nichteinmischungspolitik" in Spanien
schon abgelehnt haben, bevor es sie gab. (S. 69) Der kommunistische Bürgerkriegsgeneral
Enrique Lister, heisst es, habe "1936-1939 am Zweiten Weltkrieg"
teilgenommen (S. 543), der "erstaunte Leser" erst durch Aufzeichnungen
über Gespräche mit Dimitroffs Stellvertreter Manuilski erfahren,
dass "der zynische Stalin die alte Garde der Kominternführung
bereits vorher kaltgestellt hatte" (S. 11) usw. Derartige Fehler und
die Lücken in mehreren Kurzbiographien sind ärgerlich. Sie können
aber den Wert der Tagebücher-Edition kaum beeinträchtigen.
Manfred Behrend
Quelle: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Berlin, Jan. 2001
George Dimitroff: Tagebücher 1933-1943. Hrsg. von Bernhard H. Bayerlein.
Aus dem Russischen und Bulgarischen von Wladislaw Hedeler und Birgit Schliewenz,
712 S.
Kommentare und Materialien zu den Tagebüchern 1933-1943. Hrsg.
von Bernhard H. Bayerlein und Wladislaw Hedeler unter Mitarbeit von Birgit
Schliewenz und Maria Matschuk, 773 S. Beide Bände Aufbau-Verlag, Berlin
2000. ISBN 3-351-02510-6, 99,90 DM
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