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Beiträge zur Theorie  







Manfred Behrend

Nachdenken über kritischen Marxismus1

Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts brach in Europa und großen Teilen Asiens der „Realsozialismus“ zusammen. In der Sicht von Millionen Menschen schien damit auch das Erbe der russischen Oktoberrevolution zerstört zu sein. Zu den Ursachen des Zusammenbruchs zählt lange vor dem internationalen Druck des Kapitals das von Josef Stalin begründete extrem autoritäre, antidemokratische und daher am Ende ineffektive System, das die Sowjetunion später auf andere Länder übertrug. Zu diesen Ursachen gehört auch die Stalinsche Schulmetaphysik, die der kommunistischen Bewegung und großen Teilen der Welt als „Marxismus-Leninismus“ oktroyiert wurde. Sie diente dem Auf- und Ausbau sowie der Rechtfertigung der Politbürokratie und ihrer Apparate und gab deren Diktatur als die des Proletariats und wahre Volksherrschaft aus. Nicht zuletzt infolge einer verfälschenden Simplifizierung der gesellschaftlichen Zustände, des Totschweigens und Verdrehens historischer Tatsachen vermittelte der „Marxismus-Leninismus“ ein scheinbar festgefügtes Bild von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, dessen Details je nach aktuellem Bedarf ausgetauscht werden konnten.

Verfechter der inzwischen wiedererlangten Hegemonie des Kapitals über fast den gesamten Erdball zogen aus der Diskreditierung von Stalins Metaphysik den ihnen genehmen Schluß, damit sei auch der Marxismus gestorben. Indes erweist sich die historisch-materialistische Methode weiter als am besten geeignet, die Geschichte der Menschheit und sowohl den verflossenen „Realsozialismus“, als auch die kapitalistische Welt und deren Bewegungsmechanismen zu ergründen. Um sein Potential voll nutzen zu können, muß aber der Marxismus von Entstellungen befreit werden, die ihm von sozialdemokratischer, bürgerlicher und vor allem stalinistischer Seite zugefügt wurden. Zu prüfen ist, welche seiner Thesen und Analysen nach wie vor zutreffen, welche fehlerhaft oder inzwischen überholt sind. Zudem muß der Marxismus durch neue bzw. bisher übergangene wissenschaftliche Erkenntnisse bereichert werden. Das Herangehen an ihn muß also in mehrfacher Hinsicht kritisch sein.

Zu Bewahrendes und Problematisches bei Marx und Engels

Kritischer Marxismus bedeutet nicht, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Diese von den heute Herrschenden empfohlene, von manch Beherrschtem befolgte Radikalkur widerspricht vernünftigem Herangehen und ist für den politischen und gesellschaftlichen Fortschritt kontraproduktiv. Wo sich der Marxismus als richtig erwiesen hat oder erweist, muß er weiter angewendet werden. So beispielsweise die von Friedrich Engels formulierte Erkenntnis, es gelte „die wirkliche Welt – Natur und Geschichte – so aufzufassen, wie sie sich selbst einem jeden gibt, der ohne vorgefaßte idealistische Schrullen an sie herantritt“.2 So das von Marx entdeckte Evolutionsgesetz der Geschichte, wonach "die Produktion der unmittelbaren materiellen Lebensmittel und damit die jedesmalige ökonomische Entwicklungsstufe eines Volkes oder eines Zeitabschnitts die Grundlage bildet, aus der sich die Staatseinrichtungen, die Rechtsanschauungen, die Kunst und selbst die religiösen Vorstellungen... entwickelt haben".3 Indes vertreten Angehörige der verschiedenen Klassen und Schichten oft entgegengesetzte Interessen, werden Unterdrückte hochgradig von der Ideologie ihrer Unterdrücker beeinflußt, spielt in Geschichte und Politik häufig der Zufall eine wichtige Rolle. Daher ist die für Sozialdemokraten alter Schule typische optimistisch-fatalistische Sicht Karl Kautskys auf den unaufhaltsam näherkommenden Zukunftsstaat ebenso verkehrt wie die damit verwandte Ansicht Stalins, es gebe nur eine Entwicklung "von Niederem zu Höherem", was ein Grundzug der Dialektik sei. 4 Er selbst und seine Helfer haben in nachhaltiger Weise die Umkehrung dieser These praktiziert. Auf Basis und durch effektive Ausnutzung der in Rußland vorhandenen barbarischen Existenzbedingungen brachten sie eine Entwicklung von ersten Ansätzen zu proletarischer Demokratie und Sozialismus hin zu neuer Leibeigenschaft, Sklaverei und asiatischer Despotie zustande.

Bestand haben Marx' Entdeckung der Arbeitskraft als einer besonderen Ware, die Mehrwert schafft, und die anderen von ihm ergründeten Bewegungsgesetze des Kapitals, darunter das Wertgesetz, das der Konzentration und Zentralisation von Kapital usw. Hochgradig unangenehm wirkt sich gegenwärtig die ebenfalls von Marx festgestellte Tendenz aus, daß immer mehr lebendige Arbeit durch totes Kapital ersetzt und damit "überflüssig“ gemacht wird. Zugleich liegen unter kapitalistischen Bedingungen riesige Felder im sozialen und ökologischen Bereich brach, deren Bearbeitung zur Reproduktion von Mensch und Natur unabdingbar ist, aber keinen bzw. nur geringen Profit bringen würde. Deshalb wird sie entweder den Familien, karitativen Verbänden oder einzelnen Bürgern aufgebürdet, resp. sie bleibt ungetan.

Cum grano salis stimmt weiter Lenins Imperialismustheorie, die die grundlegenden politischen und gesellschaftlichen Veränderungen an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert aus denen der Ökonomik heraus erklärte. Den Übergang vom Kapitalismus der freien Konkurrenz zum Monopolkapital wertete Lenin als Beginn eines neuen Entwicklungsstadiums. Er sah allerdings das neue Stadium verkürzt als unmittelbare Vorstufe zum Sozialismus an und verfocht derart eine These, die in ihrer durch Stalin und die III. Internationale simplifizierten Form schwerste Fehlleistungen zur Folge hatte. Mindestens genauso falsch wie das Bild vom „unaufhaltsamen Niedergang“ des Kapitalismus ist jedoch die neoliberale Mär, die kapitalistische Wirtschaft und Gesellschaft sei unbegrenzt entwicklungsfähig; sie stehe daher am „Ende der Geschichte“. Die von Lenin diagnostizierte Fäulnis dieser kapitalistischen Ordnung hat inzwischen noch tollere Blüten getrieben und längst die schlimmsten Alpträume übertroffen. Kennzeichnend für sie ist eine nicht abreißende Kette von Rechts- und Völkerrechtsbrüchen, Morden und Mißhandlungen, Korruptionsskandalen, der massenhaften Vergeudung und Vernichtung materieller und ideeller Werte, millionenfachen Hungertods, von Schüben des Irrationalismus, Fanatismus und Rechtsextremismus, des Wiederauftretens alter und Entstehens neuer Krankheiten und Seuchen.

Unter kapitalistischen Bedingungen hat die Umwelt ebenso wie unter denen des "Realsozialismus" vielfältig gelitten. Zur Zeit wird sie in raschem Tempo zerstört. Marx' Äußerungen zur Umweltproblematik, die in jenen Tagen kaum aktuell erschien, sind korrekturbedürftig. Sie laufen darauf hinaus, daß der Mensch Wille und Zweck, die Natur nur Objekt und ein verschwindendes Moment der Kapitalverwertung sei. Hinzu kam die unkritische Vorstellung von einer Technik, die ständig sieghaft voranschreitet und dabei mit Ausnahme der Kriegswaffen niemandem schaden kann. Friedrich Engels warnte allerdings davor, sich "zu sehr mit unsern menschlichen Siegen über die Natur" zu schmeicheln. Denn, so schrieb er: "Für jeden solchen Sieg rächt sie sich an uns." Er verwies auf Verwüstungen und Verkarstung durch das Abholzen von Wäldern. Die Menschen würden so "daran erinnert, daß wir keineswegs die Natur beherrschen, wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht..., sondern daß wir mit Fleisch und Blut und Hirn ihr angehören". 5 Mit Stalins Plänen zur Umgestaltung der Natur und dem verglichen, was in der UdSSR, China und anderen, teils industriell hoch, teils unterentwickelten Ländern ökologisch fehlgeleistet und gesündigt worden ist, mutet Engels' Aussage zaghaft an. Kritische Marxisten sollten anknüpfend an sie zusammen mit Fachwissenschaftlern Vorstellungen über den richtigen Umgang mit der Natur entwickeln und versuchen, sie durchzusetzen.

Gründlicher Überprüfung bedarf die sogenannte Formationslehre, die sowohl in der sozialdemokratischen, als auch in der kommunistischen Bewegung sakrosankt war. Danach folgt auf Urgesellschaft naturnotwendig Sklaverei, auf diese Feudalismus, dann Kapitalismus, schließlich Sozialismus/Kommunismus. Die Letzterwähnten ausgenommen, hat sich das in Europa auch etwa so abgespielt, in wesentlich größeren Teilen der Erde mit sehr viel mehr Menschen aber nicht. Hier herrschten über die Jahrhunderte hinweg Formen der von Marx am Rande ebenfalls behandelten asiatischen Despotie, einer Gesellschaft mit hierarchisch-despotischer Spitze, ohne Privateigentum an den Produktionsmitteln und ohne ausgeprägte Klassen. Andererseits zeigt die Geschichte – besonders die des 20. Jahrhunderts -, daß immer wieder Rückfälle in die Barbarei möglich sind und in der Tat auch vorkommen. Das Dogma einer gradlinigen Entwicklung zum „Höheren“ ist unhaltbar. Demgegenüber hieß es schon im Kommunistischen Manifest, Unterdrücker und Unterdrückte führten einen „Kampf, der jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der gesamten Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen“. 6 Angesichts der heutigen Lage kann kein denkender Mensch daran zweifeln, daß der „gemeinsame Untergang“ durchaus möglich ist – sofern es nämlich nicht gelingt, den enthemmten Kapitalismus zu bändigen.

Zu überprüfen sind der Glaube von Marx, Engels und ihren Nachfolgern, das Proletariat sei die gesellschaftliche Kraft, die den Kapitalismus stürzen und sozialistische Verhältnisse herbeiführen werde, und die damit verknüpfte Ansicht, der Prozeß sei unabweisbar, würde also mehr oder minder automatisch vonstatten gehen. Charakteristisch für diese Denkweise ist ein Passus im „Manifest der Kommunistischen Partei“, in dem es heißt, mittels Arbeiterassoziation werde "unter den Füßen der Bourgeoisie die Grundlage selbst weggezogen, worauf sie produziert und die Produkte sich aneignet. Sie produziert vor allem ihre eigenen Totengräber. Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidlich.". 7

Der "Sieg des Proletariats" und die hierauf folgende „unabweisbare“ Entwicklung zum Sozialismus wurden auch als "historische Mission der Arbeiterklasse" bezeichnet. Auf sie schwor jeder von uns. Im Nachhinein müssen wir erkennen, daß die Mission nicht erfüllt wurde. Erstens war die Zahl der Kämpfer, die für sozialistische Ziele eintraten, zu gering. Zudem wurde sie im kapitalistischen Teil der Welt durch der Bourgeoisie dienstbare Exekutoren, in der UdSSR durch Stalins Konterrevolution dezimiert. Im Spanischen Bürgerkrieg der 30er Jahre und in den Volksdemokratien nach 1948 wiederholte sich das Trauerspiel. Zweitens ließ die in „realsozialistischen Ländern“ herrschende Bürokratie keine Ansätze zur Diktatur des Proletariats, d. h. zur Produzentendemokratie, zu. Es unterdrückte sie. Drittens sind die Arbeiter von heute nicht mehr die von 1848 oder 1918. Sie sind keine Klasse, die unter dem disziplinierenden Zwang der Fabrik immer homogener wird. Die Arbeiterklasse hat sich bei enormer Verringerung der Industriearbeiterschaft in Gruppen mit unterschiedlichen, oft gegensätzlichen Belangen und Auffassungen gespalten. Gleichzeitig wurden die lohnabhängigen Mittelschichten mit ihren spezifischen Bedürfnissen stärker. Das einstige, zum Zusammenhalt der Klasse beitragende Arbeitermilieu schwand. Mehr als bisher unterliegt die werktätige Bevölkerung einer Fremdbestimmung durch bourgeoise Medien und Meinungsmacher. Kritische Marxisten müssen die Veränderungen einkalkulieren, um mit Aussicht auf Erfolg gegen hieraus resultierende Hindernisse und Hemmschwellen für den Progreß ankämpfen zu können.

Diktatur des Proletariats und sozialistische Demokratie

Kategorischer Imperativ der Kommunisten ist es nach Marx, "alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist". 8 Die dazu nötige Revolution sollte die der ungeheuren Mehrheit gegen eine ausbeuterische Minderheit sein und ein selbstbestimmtes Gemeinwesen nach Art der Pariser Commune zum Zwischenergebnis haben. Sie sollte auf einer Entwicklungsstufe stattfinden, wo "infolge der so kolossal gesteigerten Produktionskräfte der Gegenwart auch der letzte Vorwand einer Scheidung der Menschen in Herrschende und Beherrschte... wenigstens in den fortgeschrittensten Ländern verschwunden ist". 9 Also: Kein "Sozialismus in einem Lande", schon gar nicht in einem so zurückgebliebenen, durch Krieg und Bürgerkrieg zerstörten wie dem nachzaristischen Rußland, das die ungeheure zivilisatorische Aufgabe, die ihm zufiel, allein auf sich gestellt nicht lösen konnte; Sozialismus vielmehr gleichzeitig in mehreren Staaten mit hochentwickelten Produktivkräften. Die Schlüssel- und Großindustrie, nicht kleinere Betriebe, sollten den kapitalistischen "Expropriateurs" genommen, sie sollten aber keineswegs verstaatlicht, sondern vergesellschaftet werden, damit fortan assoziierte Produzenten über sie verfügten. Als geeignete Staatsmacht sahen Marx und Engels, auch W. I. Lenin in "Staat und Revolution" keinen bürokratischen Leviathan, sondern ein von den arbeitenden Massen kontrolliertes Gemeinwesen an, das keine Menschen zu dirigieren, sondern Sachen zu verwalten hat und in möglicherweise naher Zukunft abstirbt. Der Gegensatz sowohl zum bürgerlichen Staat, als auch zu einer bürokratisch fundierten Autokratie Stalinschen Musters liegt auf der Hand.

Rosa Luxemburg nannte es "die historische Aufgabe des Proletariats, ...anstelle der bürgerlichen Demokratie sozialistische Demokratie zu schaffen, nicht jede Demokratie abzuschaffen. Sozialistische Demokratie... ist nichts anderes als Diktatur des Proletariats." 10 Sie mißbilligte die Auflösung der Konstituante durch die Bolschewiki und warnte, „mit dem Erdrücken des politischen Lebens im ganzen Lande muß auch das Leben in den Sowjets immer mehr erlahmen. Ohne allgemeine Wahlen, ungehemmte Presse- und Versammlungsfreiheit, freien Meinungskampf erstirbt das Leben in jeder öffentlichen Institution, wird zum Scheinleben, in dem die Bürokratie allein das tätige Element bleibt. Das öffentliche Leben schläft allmählich ein, einige Dutzend Parteiführer von unerschöpflicher Energie und grenzenlosem Idealismus dirigieren und regieren, unter ihnen leiten in Wirklichkeit ein Dutzend hervorragender Köpfe, und eine Elite der Arbeiterschaft wird von Zeit zu Zeit zu Versammlungen aufgeboten, um den Reden der Führer Beifall zu klatschen, vorgelegten Resolutionen einstimmig zuzustimmen, im Grunde eine Cliquenwirtschaft - eine Diktatur allerdings, aber nicht die Diktatur des Proletariats, sondern die Diktatur einer Handvoll Politiker, d. h. Diktatur in rein bürgerlichem Sinne". 11

An der Demokratie hat sich zeitweise neben Lenin auch Leo Trotzki versündigt. 1919 verlangte er als Ausweg aus der katastrophalen Wirtschaftslage infolge des Interventions- und Bürgerkriegs die "Militarisierung der Arbeit". 1920 propagierte er zur Disziplinierung sogenannter Arbeitsdeserteure Strafbataillone und Konzentrationslager, forderte er die Übernahme fortschrittlicher Elemente des Taylorismus und den "sozialistischen Wettbewerb". Trotzki verteidigte die Militarisierung als "unerläßliche Grundmethode für die Organisation unserer Arbeitskräfte", nannte Sklavenarbeit produktiv und gegenteilige Auffassungen "das armseligste und elendeste liberale Vorurteil". 12 Da sich die Gewerkschaften wehrten, wollte er sie "durchrütteln". Gemeinsam mit Nikolai Bucharin verlangte er ihren Einbau in den Regierungsapparat, die "Verstaatlichung der Gewerkschaften". Daß Trotzki den Arbeitern gleichzeitig Verantwortung für die Leitung des Wirtschaftsaufbaus übertragen wollte, ging im damaligen Streit glatt unter. Beim X. Parteitag der KP Rußlands 1921 verstieg er sich zu dem Satz, statt aus demokratischen Prinzipien einen Fetisch zu machen, müsse man "das Bewußtsein eines historischen Geburtsrechts der Partei schaffen".13 Derart verfocht Trotzki den einst hart von ihm bekämpften Substitutionismus, die Ersetzung proletarischer Entscheidungsfreiheit durch die der Partei.

Während diese Vorfälle episodisch blieben, wirkte sich das 1921 vom X. Parteitag beschlossene Fraktionsverbot innerhalb der KP bald verheerend aus. Geplant für eine kurze kritische Entwicklungsphase, wurde es unter Stalin zum Repressionsinstrument auf Dauer ausgebaut. Der Generalsekretär und seine Anhänger hatten es damit leichter, jene Quasi-Militarisierung der KPdSU (B) zum "Schwertträgerorden" voranzutreiben, die Stalin kurz nach dem 1921er Verbotsbeschluß anvisierte. 14 Es entstand ein abstruses Gebilde mit Kadavergehorsam statt Disziplin und mit pompös-byzantinischem Führerkult, das allen marxistischen Vorstellungen Hohn sprach. Kunterbunt aus Sozialisten verschiedener Richtungen, aus Liberalen, Konservativen und Reaktionären sowie aus Karrieristen und Mitläufern zusammengesetzt, wurde es durch ein System zusammengehalten, das aus verfälschter Geschichte, Tabuisierung weiter Politikfelder, dem Propagieren dröhnender Banalitäten und heuchlerischer Phrasen, aus Diskriminierung, Bespitzelung und erniedrigender Pseudo-Selbstkritik, Strafen von der Verwarnung bis zum Gulag-Aufenthalt und zur Hinrichtung ebenso bestand wie aus korrumpierender Günstlingswirtschaft, die fast immer die „Richtigen“ nach oben beförderte. Das Ganze firmierte als "Partei neuen Typus'", pseudowissenschaftliches Gerede darüber als "Lenins Lehre" von dieser Partei. Im Hochstalinismus und danach schien das Gebilde allmächtig zu sein. Als die "realsozialistische" Gesellschaft auseinanderbrach, fiel es wie ein Kartenhaus zusammen.

Als Ausweg aus der Gewaltherrschaft über das Proletariat nannte Trotzki 1936 in dem Buch "Verratene Revolution" eine zweite, politische Umwälzung in der UdSSR unerläßlich. Bei teilweiser Revision eigener früherer Auffassungen forderte er Sowjetdemokratie statt bürokratisches Selbstherrschertum, das Recht auf Kritik, wirklich freie Wahlen, die Freiheit aller Sowjetparteien, angefangen mit der Partei der Bolschewiki, und das Wiederauferstehen selbstbewußter Gewerkschaften. Auf die Wirtschaft übertragen, bedeute Demokratie eine radikale Revision der Pläne im Interesse der Werktätigen. Die Jugend werde frei atmen, kritisieren, sich irren und reifen können. Wissenschaft und Kunst würden von den Ketten befreit. Die Außenpolitik werde zum revolutionären Internationalismus zurückkehren. 15

Die von Trotzki propagierte „zweite Revolution“ ist ausgeblieben. Vielmehr begann im Jahre 1936 in Moskau die große Säuberung, eine brutale Hetzjagd auf alle progressiven und tendenziell oppositionellen Kräfte. Darin liquidierte Stalin, vom bloßen Firmenschild abgesehen, die bolschewistische Partei. Er machte alle Aussichten auf die Rückkehr zur Sowjetdemokratie und den allmählichen Übergang zur sozialistischen Ordnung zunichte.

Krieg und Frieden

Zu den gravierendsten Entstellungen des Marxismus in der Stalinzeit gehörten die in Kriegs- und Friedensfragen. In der Revolution von 1848/49 waren Marx und Engels noch für einen revolutionären Krieg eingetreten, der sich gegen Rußland als den damaligen Hort der Reaktion richten sollte. In der Inauguraladresse der I. Internationale 1864 jedoch äußerte sich Marx als entschiedener Kriegsgegner. Er konstatierte, mit ihrer frevelhaften und oft kriegstreiberischen Politik hätten die herrschenden Ausbeuterklassen "den Arbeiterklassen die Pflicht gelehrt, in die Geheimnisse der internationalen Politik einzudringen, die diplomatischen Akte ihrer respektiven Regierungen zu überwachen, ihnen wenn nötig entgegenzuwirken; ...sich zu vereinen in gleichzeitigen Denunziationen und die einfachen Gesetze der Moral und des Rechts, welche die Beziehungen von Privatpersonen regeln, als die obersten Gesetze des Verkehrs von Nationen geltend zu machen". 16

Als Lenin, Rosa Luxemburg und der linksstehende russische Menschewik Juli Martow beim Kongreß der II. Internationale in Stuttgart 1907 ihren berühmten Zusatzantrag zur Resolution über den Kampf gegen den Krieg einbrachten, handelten sie ganz im Sinne dieser Marxschen Linie. Sie verlangten – und der Kongreß schloß sich dem an -, bei drohendem Ausbruch eines Krieges alles zu unternehmen, um ihn zu verhindern. „Falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, ist es die Pflicht, für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Mitteln dahin zu streben, die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunutzen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen.“ 17

An der Schwelle zum ersten Weltkrieg mauserten sich führende rechte Sozialdemokraten zu Sozialchauvinisten und traten die Beschlüsse der Internationale mit Füßen. Eine kleine Schar Marxisten war um den Aufbau einer revolutionären Gegenfront bemüht. Ihrem Anliegen entsprachen Forderungen nach Frieden ohne Annexionen und Kontributionen, wie Trotzki sie in der Broschüre "Der Krieg und die Internationale" 1914 sowie in dem von ihm entworfenen Manifest der Zimmerwalder Konferenz von 1915 erhob. Ein derartiger Friede, hieß es im Manifest, sei „nur möglich unter Verurteilung jedes Gedankens an eine Vergewaltigung der Rechte und Freiheiten der Völker. Weder die Besetzung von ganzen Ländern noch von einzelnen Landesteilen darf zu einer gewaltsamen Einverleibung führen. Keine Annexion, weder eine offene noch eine maskierte, auch keine zwangsweise wirtschaftliche Angliederung, die durch politische Entrechtung nur noch unerträglicher gemacht wird. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker muß unerschütterlicher Grundsatz in der Ordnung der nationalen Verhältnisse sein.“.18

Zwei Wochen nach Beginn der russischen Februarrevolution von 1917 schlug der Petrograder Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten gemeinsame Aktionen aller Völker für einen Frieden gemäß der Zimmerwalder Formel vor. Unmittelbar nach dem Oktoberaufstand im selben Jahr versuchte die Sowjetregierung unter Lenin die Friedensforderung zu realisieren. Sie verurteilte in ihrem ersten Dekret den Krieg als „größtes Verbrechen an der Menschheit“ und appellierte sowohl an die Regierungen und Völker, als speziell auch an die klassenbewußten Arbeiter Englands, Frankreichs und Deutschlands, einen Frieden ohne Annexionen und Kriegsentschädigungen herbeizuführen. 19 Der russische Rat der Volksbeauftragten respektierte das Recht auf Selbstbestimmung bis zur staatlichen Lostrennung – generell wie ganz konkret im Falle Finnlands. Er brach mit der Geheimdiplomatie und veröffentlichte die geheimen Verträge der Zarenregierung.

In der Folge setzte sich anstelle der auf Marx zurückgehenden Friedenspolitik wieder eine Politik geheimer Abmachungen, der Annexionen, Kontributionen und Verletzungen des Selbstbestimmungsrechts durch. Charakteristisch hierfür waren die geheimen Zusatzabkommen zum Hitler-Stalin-Pakt 1939 und die spätere Einigung zwischen Stalin und Churchill über anglo-sowjetische Interessensphären auf dem Balkan. Der zweite Weltkrieg endete mit großen territorialen Korrekturen, neuen Völkerwanderungen und dem Feilschen um deutsche Reparationsleistungen, bis die Siegermächte einander im Kalten Krieg als Feinde gegenüberstanden. Humanitäre und marxistische Prinzipien wurden auch auf sowjetischer Seite systematisch mißachtet. Gleich anderen Mächten steuerte die UdSSR einen Kurs, wie selbst Stalin ihn einst als Resultat "nationalistischer Geistesverfassung", Versuch zur Liquidierung der Außenpolitik der Oktoberrevolution und Element der Entartung gekennzeichnet hatte.20

Gegen die verstärkt einsetzenden antikolonialen Befreiungsbewegungen wandten sich nach 1945 außer führenden Sozialdemokraten anfangs auch Parteikommunisten, so in Frankreich. Moskau selbst hielt seine Herrschaft über Gebiete aufrecht, die Halbkolonien glichen. Hinzu kamen eigene territoriale Neuerwerbungen und die Schaffung eines Imperiums abhängiger Staaten, die im Bedarfsfall durch den Einsatz sowjetischer Panzer am Leben erhalten wurden.

Aktuelle Politik und neue Theorieanforderungen

Der Marxismus geht erkenntnistheoretisch von der schon an anderer Stelle zitierten Feststellung aus, daß die wirkliche Welt so aufgefaßt werden müsse, „wie sie sich selbst einem jeden gibt“, der ohne Vorurteile an sie herantritt.21 Es kommt demnach darauf an, alle wesentlichen Tatsachen und Zusammenhänge exakt zu ermitteln und gebührend zu berücksichtigen. Vorgefaßte Schemata, das Leugnen, Zurechtstutzen oder Erfinden von Fakten und Vorgängen stehen dem entgegen. Sie und der Glaube an Schimären wie der, daß Stalinismus mit Sozialismus und politbürokratische Herrschaft mit Demokratie identisch sei, sind für prostalinistische und bürgerliche Denk- und Verfahrensweisen typisch, aber dem kritischen Marxismus fremd. Er ist unvereinbar mit tumber Hurrapropaganda, Schön- und Schwarzmalerei und der pseudolinken Manier, die Anwendung progressiver Maßstäbe für Spinnertum zu erklären, wenn sie der Beurteilung stalinistischer Diktaturen und Verbrechen dient. Ein Festhalten an Deutungen und Schemata, die durch verbürgte Tatsachen widerlegt sind, zeugt nicht von Charakterstärke, sondern von rückwärtsgewandter Sturheit. Der Glaube, in spätkapitalistischen Staaten seien Freiheit und Demokratie, eine soziale Marktwirtschaft und nichtimperialistische Politik sichergestellt, widerspricht ebenfalls der Wahrheit und marxistischer Theorie.

Die Realität darf nicht fragmentarisch, sie muß in möglichst vielen wichtigen Details erfaßt werden. Eine Beurteilung der DDR oder anderer „realsozialistischer“ Staaten nur von den sozialen und kulturellen Errungenschaften her bedeutet, sie schön zu färben. Andererseits kann nicht geleugnet werden, daß es neben allem, das dort der Entwicklung von Demokratie und Sozialismus entgegenstand, auch solche Errungenschaften gab, die in kapitalistischen Ländern, darunter der erweiterten Bundesrepublik Deutschland von heute, fehlen. Die verloren gegangenen Positiva allein daran zu messen, daß die verflossene Politbürokratie sie zur Festigung ihrer Herrschaft nutzte, wird dem Faktum nicht gerecht und ist nur zur Hälfte richtig.

Geradezu abstrus erscheint mir die Manier, den Zusammenbruch des "Realsozialismus" in Ost- und Südosteuropa nicht vorrangig auf dessen innere Schwäche, sondern auf Verschwörungen und das Wirken sowjetischer Geheimdienstgruppen wie "Lutsch" nebst einheimischen Helfern zurückzuführen. Prostalinistische Ideologen agitieren hier in gleicher Weise wie bürgerliche. 22 Dabei wollen Erstgenannte häufig von Verfehlungen der eigenen politischen Richtung ablenken und einer sachlichen Analyse der Verantwortlichkeiten für das, was geschah, vorbeugen. Sie haben bisher nicht zu erklären vermocht, warum für jede Eventualität gerüstete Staaten und ein ganzes Weltreich durch Flohstiche von außen oder friedliche Demonstranten mit Kerzen in der Hand im Landesinnern beseitigt werden konnten.

Zu weiteren, der Realität und einer kritisch-marxistischen Bewertung entgegenstehenden Ansichten gehören die Leugnung des Faktums, daß Nationen weiter eine wichtige und zugleich ambivalente Rolle spielen, und die Behauptung, es gebe unter ihnen "gute" und "böse". Mit dieser lassen sich auf leichte Art jedwede Unterdrückung, die auf NATO-Seite zuletzt beim Überfall auf Serbien 1999 verübten schweren Kriegsverbrechen und aller mögliche Unsinn rechtfertigen.

In Geschichtsschreibung und politischer Analyse ist es notwendig, konventionelles marxistisches Denken mit den Untersuchungsergebnissen Antonio Gramscis über passive Revolutionen und über die Zivilgesellschaft anzureichern. Sozialdemokratismus und Labourismus sollten sachlich geprüft werden, wobei weder ihre Verdienste und Fehlleistungen, noch ihre Doppelfunktion einerseits zugunsten der arbeitenden Massen, andererseits zugunsten der Kapitalherrschaft auszulassen sind. Stalinismus, Poststalinismus und die vertanen Chancen zu deren rechtzeitiger Überwindung gilt es ebenfalls tiefer zu ergründen, so mit Hilfe der Erkenntnisse Christian Rakowskis und Leo Trotzkis über die Sowjetbürokratie und die Notwendigkeit einer zweiten, politischen Revolution, aber auch unter Einbeziehung der Aussagen von Milovan Djilas über die „neue Klasse“. Dasselbe sollte an Hand der Thesen August Thalheimers, Trotzkis und anderer marxistischer Theoretiker im Hinblick auf den Faschismus geschehen – all das selbstverständlich nicht, indem man diese Aussagen und Erkenntnisse ungeprüft als neue Dogmen übernimmt. Unter Berücksichtigung vielfältiger Gesichtspunkte und besonders der aktuell-historischen Entwicklung müssen kritische Marxistinnen und Marxisten zu einem Gesamtbild des nachfordistischen, "nachrealsozialistischen" und neoliberalen Kapitalismus von heute gelangen, einem Bild, das sie zu effektivem Kampf gegen ihn befähigt.

Bei einer Kritik der modernen Kapitalherrschaft einerseits, des Stalinismus andererseits können diese Marxisten nicht stehen bleiben. Sie müssen sich, wie schon gesagt, auch mit dem Sozialdemokratismus befassen, der manchem heutigem Linken pauschal als Bundesgenosse oder potentieller Verbündeter erscheint, während er sich zugleich zügig weiter nach rechts entwickelt.

Von Hause aus war die Sozialdemokratie politisch und programmatisch verpflichtet, die Belange progressiv gesinnter Arbeiter, nicht aber solche der Bourgeoisie oder bürgerlicher Staaten wahrzunehmen. Entgegen seinem Bekenntnis zu Marx und den Beschlüssen der II. Internationale stellte sich das Gros der von Rechten geführten sozialdemokratischen Parteien zu Anfang des ersten Weltkriegs aber auf die Seite der Bourgeoisie und des Militarismus im jeweils eigenen Land. Es förderte eine Kriegführung, bei der die Proletarier einander abschlachteten, betrieb am Ende des Krieges und danach die Rettung des jeweils eigenen Kapitalismus und führte insbesondere in Deutschland mit der Reaktion einen Vernichtungsfeldzug gegen kommunistische und linkssozialistische Revolutionäre. Beim Aufbau des „Sozialstaats“ in der Zwischenkriegszeit erwarben sich Sozialdemokraten auch um die Arbeiterschaft Verdienste. In der Auseinandersetzung mit dem Faschismus vor dessen Machtantritt versagten sie – genau wie die Parteikommunisten. Nach 1945 wiederholt auch mit konservativen Kräften liiert, gaben rechte Sozialdemokraten inzwischen alle sozialreformistischen, liberalen und pazifistischen Grundsätze preis. Wollten sie den Anspruch rechtfertigen, demokratisch-sozialistischen Charakters zu sein, müßten sie zuerst mit sich selber hart ins Gericht gehen, auch mit der eigenen Geschichte. In ihren Parteien hätten sie für Demokratie und volle Mitbestimmung der Mitglieder zu sorgen. Nach dem gegenwärtigen Stand beurteilt und angesichts völligen Fehlens einer ins Gewicht fallenden sozialdemokratischen Linken besteht in absehbarer Zeit, speziell in Deutschland, keine Aussicht hierzu.

Das Bild der einstmals basisdemokratischen, für Umweltschutz und Bürgerrechte, Abrüstung und Erhalt des Friedens streitenden Grünen ist genauso trostlos wie das der SPD. Neben weiterem sozialem Abbau zugunsten des Groß- und Monopolkapitals haben die Führer beider Parteien inzwischen den ersten Angriffskrieg nach 1945 unter Teilnahme deutscher Truppen auf dem Gewissen.

In Deutschland muß marxistische Kritik auch jenen Vertreterinnen und Vertretern der Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) gelten, die nach fugenloser Einordnung ins bourgeoise Herrschaftssystem streben. Selbst mancher nicht auf Karriere versessene Sozialist muß sich vom Panzer der Systemkonformität befreien, der - sieht man von älteren Traditionen ab – ursprünglich zu DDR-Zeiten unter Ulbricht und Honecker geschmiedet wurde. Inzwischen paßt er auch den Herren über ganz Deutschland ins Konzept. Dieser „moderne“ Untertanengeist bewirkt zum Beispiel, daß als erstes immer gefragt wird, ob mögliche eigene Forderungen und Vorschläge mit dem jeweiligen Staatsbudget vereinbar sind und wie sie von den anderen Parteien aufgenommen werden. Bei karrierebewußten PDS-Mitgliedern spielt auch die falsche Rücksichtnahme auf den "Standort Deutschland", das heißt die internationale Konkurrenzfähigkeit des BRD-Imperialismus, eine Rolle. Mehr oder minder bedenkenlos akzeptieren sie vom Großkapital gesetzte "Sachzwänge", die den Interessen der arbeitenden und erwerbslosen Massen zuwiderlaufen. In einer Zeit fortdauernden enormen Profitauftriebs bei sinkenden Relativ- und oft auch Reallöhnen vergessen Leute, die sich Sozialisten nennen, das simple Faktum, daß sich Staatseinnahmen auch anders als für Rüstungsgüter, Steuergeschenke an die Unternehmer, zum Ausgleich ihrer eventuellen Verluste im Ausland usw. verwenden lassen, daß man andererseits reiche Leute und Konhernherrn zum Steuerzahlen zwingen kann. Zugleich sind Eingriffe in die bestehenden Eigentumsverhältnisse möglich. In der BRD wären sie nach Artikel 14 und 15 des Grundgesetzes verfassungskonform. 23

Sozialistische Politik nach Marx muß der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber oppositionell sein. Sie steht, ohne Regierungsbeteiligungen prinzipiell auszuschließen, der Jagd nach Ämtern und Pfründen entgegen. Auch für sie gilt, daß die Staatsverfassung respektiert werden muß. Doch bedeutet sozialistische Politik fortgesetztes Drängen auf Verhältnisse, unter denen die den Herrschenden nicht genehmen Artikel gleichfalls eingehalten und reaktionäre Veränderungen am ursprünglichen Text - in der BRD durch die Notstandsverfassung, die faktische Abschaffung des Asylrechts, die Einschränkung des Post- und Fernmeldegeheimnisses usw. - wieder rückgängig gemacht werden können. Zudem muß es jederzeit möglich sein, die Verfassung im Sinne der überwiegenden Mehrheit aller Staatsbürgerinnen und -bürger zu verbessern.

Politik im Sinne eines kritischen Marxismus läßt keinen Rückfall auf stalinistische oder sektiererische Positionen zu. Sie ist weder neoliberal noch antisozial. Tolerieren von und Koalieren mit Sozialdemokraten oder Grünen in Deutschland muß seine Grenze dort haben, wo ansonsten sozialistische und demokratische Grundsätze verletzt und eigene Wahlversprechungen desavouiert werden würden. Die sozialistische Partei hat alle vorhandenen Spielräume zu nutzen, um die Demokratie zu stärken und soziale Interessen der Lohnabhängigen wahrzunehmen. Ein entgegengesetztes Verhalten liefe darauf hinaus, sich vom Großkapital und von dessen politischen Helfern mißbrauchen zu lassen. Es wäre der Tod der Partei.

Abschließend sei nochmals auf das lange vernachlässigte Erfordernis verwiesen, den Marxismus durch Resultate anderer Wissenschaften zu bereichern. Das trifft heute auf weit mehr Disziplinen als zur Marx-Engels-Zeit zu, weil seither viele solcher Wissenschaftszweige neu entstanden. Vordringlich scheinen mir eine enge Verbindung zur Ökologie sowie die Nutzung der Subjektwissenschaft zu sein, die die Ursachen menschlicher Aktionen und Reaktionen ergründet. In Theorie und Praxis ist das von Feministinnen erforschte Faktum zu berücksichtigen, daß in den Klassen und Schichten vielfältig divergierende Interessenlagen bestehen. Sie sind durch Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Geschlechtern und Generationen, Berufsgruppen, Bildungsgraden, Rassen, Nationen und Regionen, Weltanschauungen, Religionen usw. bedingt. Ohne das und vieles andere mehr mit einzukalkulieren, wird eine Mobilisierung größerer Massen Lohnabhängiger und Erwerbsloser für fortschrittliche Ziele nicht möglich sein.

Eine Hierarchisierung von der Art, die einseitig die jeweilige Klassenzugehörigkeit favorisiert und sogenannte Nebenwidersprüche vernachlässigt, muß als in die Irre führend vermieden werden. In der akuten Arbeitsplatzfrage gilt es gerade für Marxisten, zu erkennen, daß sie auf Dauer nur lösbar ist, wenn neben der sich in modernen Industriestaaten rasch vermindernden Erwerbsarbeit die ganze, bisher vielfach ohne Lohn vollbrachte Tätigkeit zur Reproduktion des menschlichen Lebens als gleich wichtig anerkannt und auf dieser Basis alle Arbeit neu verteilt wird. 24

Kritischer Marxismus hat das und manches andere zu berücksichtigen. Er ist arbeitsintensiv und schwierig. Voranbringen wird er uns dann, wenn wir verstehen, ihn zu meistern.

© Manfred Behrend

Quelle: Hintergrund, Osnabrück, Nr. I-2000, S. 31-44




Anmerkungen:

1 Diesem Beitrag liegen Diskussionen im 1994 entstandenen deutschen Arbeitskreis kritischer Marxistinnen und Marxisten, die Artikel "Kritischer Marxismus" in Nr. 1/1998 der Marxistischen Kritik, Coburg, sowie Nr. 97/98 von Utopie kreativ, Berlin 1998, und mein Referat während der Konferenz "Marxismus am Übergang zum 21. Jahrhundert" im März 1999 in Elgersburg zugrunde.

2 Karl Marx/Friedrich Engels: Werke (MEW), Band 21, S. 292.

3 MEW, Band 19, S. 335 f.

4 J. W. Stalin: Fragen des Leninismus, Moskau 1947, S. 650.

5 MEW, Band 20, S. 452 f.

6 MEW, Band 4, S. 462.

7 MEW, Band 4, S. 474.

8 MEW, Band 1, S. 385.

9 MEW, Band 19, S. 104.

10 Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke, Band 4, S. 363.

11 Ebenda, S. 362.

12 Der Führer des Jüdischen Arbeiterbundes Abramowitsch warf ihm hierauf vor: "Sie können doch nicht eine Planwirtschaft aufbauen, wie die Pharaonen ihre Pyramiden errichteten." (Isaac Deutscher: Trotzki I. Der bewaffnete Prophet 1879-1921, S. 469 f.) Die von Trotzki später berichtigte Auffassung legte Stalin seinem Konzept des "Aufbaus des Sozialismus in einem Lande" mit zugrunde.

13 Deutscher, a. a. O., S. 477.

14 J. W. Stalin: Werke, Band 5, S. 61.

15 Leo Trotzki: Schriften. Sowjetgesellschaft und stalinistische Diktatur 1929-1936, Band 1. 2, S. 987 f.

16 MEW, Band 16, S. 13.

17 Die revolutionäre Arbeiterbewegung im Kampf um den Frieden 1848 bis 1964. Dokumente, Berlin 1964, S. 26.

18 Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Band 1, Juli 1914 - Oktober 1917, Berlin 1958, S. 228.

19 W. I. Lenin: Werke, Band 26, S. 239 ff.

20 J. W. Stalin, Werke, Band 7, S. 145.

21 Wie Fußnote 2.

22 Charakteristisch dafür sind insbesondere Ralf Georg Reuth/Andreas Bönte: Das Komplott. Wie es wirklich zur deutschen Einheit kam, München-Zürich 1993, und Eberhard Czichon/Heinz Marohn: Das Geschenk. Die DDR im Perestroika-Ausverkauf, Köln 1999.

23 Die in Frage kommenden Passagen lauten: Art. 14 (3) „Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig... Die Entschädigung ist unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten zu bestimmen.“ Art. 15 „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.“

24 Hierzu Anneliese Braun: Arbeit ohne Emanzipation und Emanzipation ohne Arbeit? Von der Notwendigkeit, Erwerbs- und Reproduktionsarbeit umzuorientieren. Schriftenreihe „Auf der Suche nach der verlorenen Zukunft, herausgegeben von Hanna Behrend, Band 8, Berlin 1998.











 

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