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Beiträge zur Geschichte  








Um den 17. Juni 1953

Erinnerungen eines Berliner ABF-Studenten

Im März 1953 trauerten wir – viele mehr, andere weniger – um das Oberhaupt aller Parteikommunisten und des "Weltfriedenslagers" J. W. Stalin. Was sich drei Monate später auch wegen dessen vormaligen Wirkens bei uns im Land ereignen würde, ahnten wir nicht. Wir, das waren Studentinnen und Studenten der Berliner Arbeiter-und-Bauern-Fakultät (ABF). Diese Institution verhalf jungen Menschen zur Hochschulreife, die zuvor aus sozialen und politischen Gründen bzw. wegen des Krieges nicht in eine höhere Lehranstalt gelangt waren, obwohl sie das Zeug dazu hatten. Alle gehörten der FDJ, viele der SED an. Im engeren Sinne gilt das "Wir" der CGS 1, einer gesellschaftswissenschaftlich orientierten ABF-Arbeitsgruppe, deren Zugehörige das Abitur nach zwei statt drei Jahren ablegten.

Unsereins bekam wenig von dem mit, das sich damals in der DDR zusammenbraute. Dies lag an einer gewissen Exklusivität, die uns weitgehend von der Umwelt  abschirmte. Durch intensives Studium oft überfordert, nahmen wir aktuelle Vorgänge durch die Brille streng zensurierter Presseorgane wahr. Einige, darunter zu meiner Schande ich, lasen nicht einmal Zeitung. Die uns zuteil werdende Lebensqualität war bescheiden, aber hinreichend, und so bedrückte uns das nicht. Möblierte Zimmer und Plätze in Studentenheimen kosteten wenig. Mittag aßen viele wohlfeil in der Mensa. Bücher ließen sich leicht ausleihen. Das Stipendium reichte in der Regel aus. Die ernsten Versorgungs- und politischen Probleme, mit denen Arbeiter, Bauern, Gewerbetreibende und zahlreiche Intellektuelle sich herumschlugen, berührten uns höchstens am Rande.

Das Kommuniqué des SED-Politbüros vom 9. Juni 1953 und der entsprechende Ministerratsbeschluss vom 11. 6. wirkten sensationell. Sie annullierten diverse Repressionsakte und Sparmaßnahmen zu Lasten der Bevölkerungsmehrheit, die im Namen eines 1952 mit sowjetischer Rückendeckung dekretierten "Aufbaus des Sozialismus" resp. seiner Fundamente verordnet worden waren. Wir wussten nicht, dass Moskau die Beschlüsse und mit ihnen den "Neuen Kurs" der SED-Spitze diktiert hatte, hielten sie stattdessen für ein Resultat politischer Weisheit unserer Partei- und Staatsführung. Die Brisanz der am 28. 5. verkündeten Erhöhung industrieller Arbeitsnormen um mindestens zehn Prozent, eines Geschenks zum 60. Geburtstag Walter Ulbrichts am 30. 6., erkannten wir nicht. Diese im Mai erlassene Verordnung wurde beibehalten und erst am 16. Juni zurückgenommen, als es zu spät war, Unheil abzuwenden. Absolut nichts wussten wir von den Konflikten im SED-Politbüro, die kurzzeitig Ulbrichts Thron ins Wanken brachten.

Etwas mulmig muss mir doch gewesen sein. In einem Brief an "Neues Deutschland", der nie beantwortet wurde, erinnerte ich vor dem 16. 6. an Stalins Rede im Januar 1925, worin er unter Hinweis auf vorangegangene Insurrektionen in Georgien, Tambow und Kronstadt festgestellt hatte: "Entweder wir hören auf, nach Beamtenmanier alles in Ordnung zu finden und nach Beamtenmanier an die Sache heranzugehen, fürchten keine Kritik und lassen uns von den parteilosen Arbeitern und Bauern kritisieren, die doch die Auswirkungen unserer Fehler an ihrem eigenen Leibe spüren; oder wir tun das nicht, und dann wird sich die Unzufriedenheit ansammeln, wird anwachsen, und dann erfolgt die Kritik in Form von Aufständen." Zum Glück, so mein falscher Schluss, ist uns Letzteres erspart geblieben. Jahrzehnte später war zu erfahren, dass nach dem 17. Juni auch andere Genossen, sowjetische wie deutsche, auf das Zitat verwiesen hatten.

Am 15. 6. begann für uns eine Woche von Abiturprüfungen. Nach einer Klausur am 16. stieg ich in die Straßenbahn, um heimzufahren. Ich hörte einen Fahrgast zum anderen sagen: "Morgen machen wir weiter." Mir war nicht bewusst, dass er damit Streiks und Demonstrationen gegen die DDR-Regierung meinte.

Der 17. Juni 1953 war ein prüfungsfreier Mittwoch. Ich war auf dem Weg zur Mensa, als die Bahn plötzlich hielt und nicht mehr weiterfuhr. Beim anschließenden Fußmarsch kamen mir Hunderte meist schweigender Frauen und Männer in Arbeitskluft entgegen, die aus der Innenstadt in ihre Betriebe zurückkehrten. Hinterm Weidendamm traf ich Geschichtsdozent Manfred Klinner. Er fragte, ob ich "schon diskutiert habe". Wie weltfremd das war, wurde mir nach dem Mensa-Mahl auf der Straße klar. Unter den Linden war weitgehend von Demonstranten geräumt. Mehrmals rasselten Sowjetpanzer vorüber, die zu meiner Verblüffung auf ihren Türmen weiße Sterne trugen. Später fielen ihrerseits Schüsse. Nahe der Neuen Wache stand in einer Blutlache ein Holzkreuz. Es kündete vom Tod eines jungen Mannes, der Panzer zu stoppen versucht hatte. Volkspolizei war nicht auf der Straße. Auch die blau Uniformierten in der Kaserne gegenüber der ABF hatten Befehl, keineswegs einzugreifen.

Einige von uns trafen sich auf dem Gelände der ABF beim Studentenheim "Philipp Müller". Draußen wurde via Lautsprecherwagen der vom sowjetischen Stadtkommandanten Dibrowa verhängte Ausnahmezustand bekannt gegeben. Die Grenzen nach Westberlin waren gesperrt, der S- und U-Bahnverkehr unterbrochen. Trupps vornehmlich jüngerer Westberliner, die wegen der über den amerikanischen Sender RIAS angekündigten Demonstration in den Ostsektor gekommen waren, um "mitzumischen" – einige hatten in der Leipziger Straße Kioske, am Potsdamer Platz das Columbiahaus angesteckt – kampierten vor dem Eingang zum Bahnhof Friedrichstraße, bis Kasernierte Volkspolizei in kakifarbener Uniform sie vertrieb. Zuvor schlugen einige Randalierer Genossen Zimmermann aus der ABF auf den Kopf, der mit Parteiabzeichen am Revers vorbeigekommen war. Er hatte insofern Glück, als ein Autofahrer stoppte, ihn einlud und zur Rettungsstelle schaffte.

Wir waren inzwischen vergattert worden, auf dem Gelände der ABF zu bleiben. Kommilitonen berichteten hier und bei anderer Gelegenheit über ihre Eindrücke einesteils von einer SED-Funktionärskonferenz mit Grotewohl und Ulbricht am Vorabend, anderenteils von der Arbeiterdemonstration am 17. Die Konferenz hatte dazu gedient, die Partei auf "Neuen Kurs" mit alter Spitzenbesetzung einzuschwören. Protestumzüge und die Massenkundgebung vor dem Haus der Ministerien bereits am 16. 6. wurden bagatellisiert und der Eindruck erweckt, "uns kann keener". Entsprechend groß war der Schock, als einen Tag später wesentlich mehr Arbeiter streikten und auf die Straße gingen, nicht nur – wie später zu erfahren war – in Berlin, sondern in allen großen Industriegebieten, und die Führung des deutschen Arbeiter-und-Bauern-Staates durch die sowjetische Besatzungsmacht gerettet werden musste. Propagandistisch versuchten Hochkommissar Semjonow und nach ihm die SED-Spitze sogleich, unerfreuliche Tatsachen zu verdrängen und umzulügen. Sie gaben die Parole aus, ein durch USA und Bundesrepublik gesteuerter "faschistischer Putsch" habe sich ereignet. Die Legende wurde als verbindlich festgeschrieben, ebenso wie auf westdeutscher Seite jene andere, dass es einen reinen, unverfälschten Arbeiteraufstand wesentlich für die Einheit Deutschlands gegeben habe.

In ihren Berichten über die Demonstration erwähnten unsere Augenzeugen sowohl die Arbeitermassen als auch, dass sich unter diese Randalierer gemischt hatten, von denen viele aus Westberlin kamen. Mitgeführte und skandierte Parolen waren ursprünglich auf  Rücknahme sozialreaktionärer Maßnahmen – so der administrativen Normenerhöhung, deren Annullierung am 17. 6. weithin noch nicht bekannt war -, auf bessere Versorgung usw. gerichtet. Während der Demonstration kamen Forderungen nach Sturz der Regierung, besonders des "Spitzbarts" Ulbricht, und nach Wiedervereinigung dazu. Bis heute ist unklar, wer genau sie aufbrachte. Die meisten Ostberliner Teilnehmer gingen am späten Vormittag in die Betriebe zurück oder nach Hause. Einer von uns hatte Demonstranten fotografiert. Er büßte dafür beinahe seinen Apparat ein. Doch trat ein Arbeiter dazu, riss den Film heraus und gab ihm den Fotoapparat wieder.

Die in der ABF und im Philipp-Müller-Heim angelangten Kommilitonen versammelten sich am 17. 6. zweimal, am Nachmittag und abends. Bei der ersten Zusammenkunft wurde mitgeteilt, Genosse Peter Langhof habe einem anderen Studenten an diesem Tag die "provokatorische Frage" gestellt: Was denn, einfach so weiter mit der deutsch-sowjetischen Freundschaft? Ich kannte Peter, hatte einige Monate zuvor mit ihm stundenlang über Gott, die Welt, unsere Parteiführer und Stalin diskutiert, wobei er mir gegenüber den realistischeren Standpunkt vertrat, auch bei weiterem Vorhandensein der vielen kleinen Stalins wäre es besser, gäbe es den großen nicht mehr. Nun dachte ich, Langhof habe sich politisch das Genick gebrochen. Er war aber, wie sich herausstellte, mit seinem Ausspruch nur einem Widerling übers Maul gefahren, der mit seinem neu erworbenen Komsomolabzeichen prahlte. Dank sachgerechter Beurteilung ging der Vorfall glimpflich aus.

An der Straßenecke zum Philipp-Müller-Heim parkte mittlerweile ein Sowjetpanzer. Drinnen im Saal gab es eine Szene, die mir kurzzeitig die Fassung raubte. Nahezu alle anwesenden Studentinnen und Studenten stimmten das Fürnberg-Lied "Die Partei hat immer recht" an. Sie sangen es mit Hingabe von der ersten bis zur letzten Strophe, ausgerechnet nach der größten Pleite der SED seit 1945, die deren Führung in Tateinheit mit der sowjetischen selbst verschuldet hatte.
Im Rundfunk wurden ein Kommentar Karl-Eduard von Schnitzlers und der Artikel von Chefredakteur Rudolf Herrnstadt für das nächste ND verlesen. Letztgenannter, den Ulbricht bald mit sowjetischer Hilfe abservierte, äußerte sich vergleichsweise differenziert und sachlich über das Tagesereignis. Schnitzler begrüßte es, dass der "Putsch" niedergeschlagen war. Er schloss mit dem Satz, das erste sowjetische Todesurteil gegen einen Provokateur sei vollstreckt.

Es lohnt nicht, über unsere Einsätze in den nächsten Tagen zu berichten. Noch nach Jahresfrist waren wir damit beauftragt, in der S-Bahn fahrend darüber zu wachen, ob ein Agent sie zur Feier des 17. Juni angriff. Erwähnenswert scheint mir das Abenteuer eines Genossen aus der CGS 1 zu sein, der am "Tage X" 1953 selbst verschütt gegangen war. Er hatte sich abends in der Nähe einer sowjetischen Einheit aufgehalten, war für einen Spion gehalten und eingesperrt worden. Zum Glück kam er bald wieder frei.

Meine Erinnerungen an den 17. Juni sind, für sich genommen, wenig bedeutungsvoll. Ich habe sie aufgezeichnet und in einigen Punkten ergänzt, ohne in die Tiefe zu gehen und eine Analyse zu versuchen. Wohl für viele von uns sind die Geschehnisse dieses Tages, ihre Ursachen und Folgen gravierend gewesen. Ein Urlaub mit dem Kommilitonen Charly Mahnke Sommer 1953 im Harz gab uns beiden Gelegenheit, nicht nur die schöne Landschaft zu durchwandern, sondern auch ungehemmt politische Vorgänge zu erörtern. Jahre danach haben wir das fortgesetzt, nun zeitweise insgeheim von der Staatssicherheit überwacht.

Deprimierend war die erste Parteiversammlung an der Fachrichtung Geschichte der Berliner Humboldt-Universität im Herbstsemester 1953, an der ich teilnahm. Mitarbeiter des Instituts für Geschichte des deutschen Volkes hatten am 19. 6. eine Resolution verabschiedet, in der sie gegen die von der SED übernommene Darstellung der sowjetamtlichen "Täglichen Rundschau" protestierten, "die große Masse der ‚Demonstranten’" am 16. und 17. Juni wären  "mehrere Tausend von Westberlin geschickte faschistische Unruhestifter und Rowdies" gewesen, nicht für berechtigte Forderungen eintretende Arbeiter, welche sich von Provokateuren distanzierten. Die Institutsmitarbeiter verlangten ein selbstkritisches Verhalten der Partei- und Regierungsspitze und wahrheitsgetreue Presseberichte. Für die Resolution mitverantwortliche Genossen mussten nach den Semesterferien ans Pult treten und sich  parteiöffentlich kasteien.

Im November war ich eines anderen Delikts wegen ebenfalls dran. Kurzzeitig Redakteur der Parteiwandzeitung, hatte ich dort einen Artikel zum Jahrestag der Oktoberrevolution angeheftet, der statt der üblichen Lobhudelei darauf hinwies, dass es wohl auch bei uns noch "Personenkult" gebe, wie der Stalinismus damals beschönigend umschrieben wurde. Da das natürlich unmöglich war, nahmen mich Parteileitung und Grundorganisation in die Mangel, bis der fällige Kotau vor einer Partei, die immer recht hat, absolviert war. Die nächste große Auseinandersetzung begann nach dem XX. KPdSU-Parteitag im Februar 1956. Gleich allen anderen Konflikten bis 1989 führte sie nicht zum Erfolg der kritischen Kräfte, weil diese immer wieder notwendige Kampfentschlossenheit vermissen ließen. Die Vorgänge zeigten zugleich, dass der vom 17. Juni 1953 ausgehende Anstoß fortgewirkt hat.


Manfred Behrend

(Arbeiterstimme, Nürnberg, Nr. 140, 32. Jg., Sommer 2003, und SoZ – Sozialistische Zeitung, Köln, 18. Jg., Nr. 6, Juni 2003)








 

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