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Beiträge zur Politik  









Manfred Behrend

Abkehr vom Geraer Parteitag

Frieden mit dieser Gesellschaft, weg von der Revolution


Die größte Massenarbeitslosigkeit seit 1949, unverhüllter Sozialstaatsabbau und drohender neuer US-Angriffskrieg mit partieller deutscher Beteiligung machen eine sozialistische Partei dringend notwendig. Die PDS aber gleicht  einem steuerlos auf die Brandung zutreibenden Schiff. Zwar verlautbarte Gabi Zimmer nach der Vorstandsklausur vom 9./10. 11. 2002 in Elgersburg, ab sofort werde "auf Bundesebene wieder Politik" betrieben. Das aber ist nicht geschehen. Vorstandsmitglied Wolfgang Gehrcke diagnostizierte Lähmungserscheinungen an der Spitze.

Für die Parteimitte ist charakteristisch, dass sie zwar an Geraer Parteitagsformeln festhält, zugleich aber um die Parteirechte buhlt, obwohl gerade diese der  Hemmschuh ist. Der Vorstand wagt es nicht, die maßgeblich durch sie mitverursachte Wahlniederlage ernsthaft zu analysieren und daraus Konsequenzen zu ziehen. Ungehindert setzt die rechte Avantgarde den  in Berlin verheerenden antisozialen Kurs fort und treibt den Fraktionskampf voran.

Am 15. 10. stellte Gregor Gysi in einem Offenen Brief, danach in einem Interview mit "Neues Deutschland" vom 2./3. 11. fest, man habe beim Parteitag "keine wirkliche Führung" gewählt, weshalb die PDS "in Vergessenheit zu geraten" drohe. Er polemisierte gegen die Parteitagsparole "Keinen Frieden mit dieser Gesellschaft", der großkapitalistischen und sozialdarwinistischen. Wenn die PDS den Frieden nicht wolle, sei sie keine demokratisch-sozialistische Partei. Hans-Dieter Schütt, bis 1989 Chefredakteur des FDJ-Zentralorgans "Junge Welt", zollte am 18. 11. im ND Gysi Beifall und deklarierte, Linke wandelten sich zu "Fremdkörpern".

Am 7. 11. rechnete Prof. Wolfgang Ruge, Mitglied des Ältestenrats der PDS, mit dem  Oktoberaufstand 1917 ab: Marx habe "sich von der Illusion verführen lassen, ein Dialektiker zu sein", gemeint, die Arbeiterklasse zur künftig machtausübenden erklären zu müssen, und in ihrer Diktatur "die nächste Stufe zur Vervollkommnung des Menschengeschlechts" gesehen. "Doch dies ist ein kapitaler Fehlschluss. Das Proletariat... hat kein Eigentum und kann sich deshalb nicht in die von Eigentum und Eigentümern geprägten Wirrnisse einbringen." Ich erinnere mich nicht daran, bei Marx gelesen zu haben, dass dies beabsichtigt sei, wohl aber,  die Expropriateurs würden expropriiert. Dem Revolutionär Lenin sagt Ruge nach, mittels "Suggestivkraft und Rednergabe... ein Häuflein aufgeschlossener, durch den Antisemitismus verbitterter Juden um sich geschart" und "eine Partei mit unbekannten und wenig gebildeten Mitgliedern" gegründet zu haben, mit der er den "für bürgerliche Revolutionen bereitstehenden Persönlichkeiten" Russlands den Wind aus den Segeln nahm. Er lässt Lenins Leute den Smolny statt das Winterpalais stürmen und basiert seine Thesen auch sonst großenteils auf falsche Fakten – so über Lenin, Trotzki, Bucharin und Stalin. Krönender Schluss ist der Satz, versagt habe nicht nur "der Sozialismus in seiner bisherigen Form", es gehe offenbar "nichts ohne das widerwärtige Privateigentum".  

Praktisch-politisch nutzte der in Gera geschlagene Flügel die sogenannte Taschenkontroll- oder Wachbuchaffäre aus. Ihr lag zugrunde, dass der stellvertretende PDS-Vorsitzende Diether Dehm am 13. 10. abends das Karl-Liebknecht-Haus aufsuchte, weil er gehört hatte, dort brenne in mehreren Zimmern Licht – so dem des bisherigen Bundesgeschäftsführers Bartsch –, und es würden Kisten weggeschleppt. Er überzeugte sich davon, dass das nicht so war, und zog wieder ab. Im Wachbuch wurde dies mit der Anmerkung "o. B." – ohne Besonderheiten – festgehalten. Stunden später traf der Chef der Sicherheitsfirma ein. Er bereicherte das Buch durch den Zusatz, Dehm habe beim Besuch die "außerordentliche Anweisung" erteilt, darauf zu achten, dass Bartsch "keinerlei Unterlagen, Dokumente, Mappen" aus dem Haus schafft. Diese Nachricht wurde der bürgerlichen Presse zugespielt. Sie machte in "Bild", "Spiegel" und "Berliner Kurier" Furore.     

Dehm bestritt, etwas angewiesen zu haben. Die früheren Parteivorsitzenden Gysi und Bisky aber nahmen die ungeprüfte Sache zum Anlass, sich zu entrüsten. Sie verlangten von Zimmer, "die nach unserer Ansicht dringend notwendige Entscheidung herbeizuführen". Die Europaabgeordneten der PDS, darunter André Brie und Sylvia-Yvonne Kaufmann, verdeutlichten, dass damit Dehms Demission gemeint war. Bei seiner Elgersburg-Klausur konnte jedoch der Parteivorstand nur feststellen, es sei kein belastendes Material angefallen, daher gelte die Unschuldsvermutung. Brie und Gysi machten hierauf aus der Mücke, die möglicherweise gar nicht existierte, einen Elefanten. In einem Schreiben an seine Freunde (zugleich an die Bourgeoispresse) stempelte Ersterer die Dehm angelastete Verfahrensweise als "eindeutig schmutzigste und für den Zustand der Partei gefährlichste Intrige" ab, verlangte einen Sonderparteitag und wiederholte frühere Überlegungen eigenen eventuellen Parteiaustritts. Gysi bewertete Dehms Verhalten als "politisch-moralisch verwerflich" und bestand darauf, ihn fallen zu lassen. Beide Briefautoren räsonierten über "Kulturlosigkeit" und "Methoden aus SED-Zeiten" in der PDS.

Vorsitzende Zimmer und ihr Stellvertreter Peter Porsch verständigten sich nun auf ein Einerseits-Andererseits, das im Kern Kapitulation vor den Rechten bedeutete. Bei Landesparteitagen in Ilmenau und Dresden am 23. 11. beklagten sie sich über deren Pression, obwohl der Vorfall eher als "Vorlage für eine Provinzposse" tauge, doch möge Dehm, sein Amt im PDS-Interesse vorläufig ruhen lassen. Der kam dem Appell nach, wandte sich jedoch an die Parteitagsdelegierten, ihm zu raten, wie er "am besten weiter für die Partei arbeiten" könne. Acht linksstehende Delegierte forderten ihn am 6. 12. auf, die Auszeit zu beenden und für eine PDS zu kämpfen, die sich als Teil und Motor der gesellschaftlichen Bewegung von unten verstehe. Ellen Brombacher (Kommunistische Plattform) stellte zu der von Brie mit dem Verlangen vollständigen Rücktritts fortgesetzten Kampagne fest, Dehm solle "gehen, weil er zu denen gehört, die exponiert für die Parteitagsergebnisse von Gera stehen. Er soll das Bauernopfer sein, auf dessen Kosten manche seit Gera zerstrittenen Reformer ihre Differenzen beheben können. Sich dem Druck der Medien und ihrer Protagonisten in der Partei... zu beugen, hieße, Gera zu einer taktischen Episode zu machen."

Wäre übrigens Dehms Vorgehen verwerflich gewesen, wenn er sich so verhalten hätte, wie seine Gegner behaupten? Bartsch & Co. hatten der Partei u. a. durch Mobbing gegen deren Vorsitzende bei gleichzeitiger gezielter Informierung der bürgerlichen Medien geschadet. Sie setzten dies mit neuen Angriffsobjekten fort. Könnte es dafür nicht Belege geben, die sie gern beiseite geschafft hätten? Wie Winfried Wolf anmerkte, sind Kontrollen keine Spezialität der SED. Sie könnten notwendig statt reine Schikane sein.

Die Parteirechte hat den Vorstand nicht nur von Außenarbeit abgehalten, sondern zum Rückzug gezwungen. Die Linke ist kaum aktiv. KPF und Marxistisches Forum scheuten Konflikte mit dem Vorstand. Aber auch der Vorläufer der am 23./24. 11. gegründeten Bundesarbeitsgemeinschaft "Linke Opposition in und bei der PDS", das "Netzwerk Linke Initiative", bewirkte wenig. Am 13. 11. löste es sich mit der naiven Begründung auf, trotz fortdauernder Meinungsverschiedenheiten über die Koalitionen in Berlin und Schwerin gebe es nach Gera keinen Grund mehr, Zimmer und der Mehrheit zu opponieren. Während der Berliner PDS-Basiskonferenz am 7. 12. brach Gehrcke eine Lanze für die Sozialstaatsabbauer: "Unsere historische Aufgabe ist es, die Karre aus dem Dreck zu ziehen, denn nur dann, wenn sie da drin ist, kommt es zu rot-roten Bündnissen."  Das Zitat gilt es sich zu merken. Soll die Partei noch einmal nach links marschieren, muss sie das Gegenteil des von Gehrcke Erheischten tun.

Manfred Behrend, Berlin 2002










 

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