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Beiträge zur Politik  








Manfred Behrend

Schritt nach vorn oder Anfang vom Ende?

Nachlese zum PDS-Parteitag in Gera

Der für die PDS typische Widerspruch zwischen Ankommen im Herrschaftssystem  einerseits, demokratisch-antikapitalistischer Opposition andererseits äußerte sich 2002 auch im Machtkampf der Führungsspitze. Bundesgeschäftsführer Dietmar Bartsch, Vizevorsitzende Petra Pau und Bundestagsfraktionschef Roland Claus drängten auf Entscheidungen derart, dass der von PDS-Regierungsmitgliedern in Berlin und Schwerin mitgesteuerte antisoziale Kurs und das Anbiedern an Schröder gerechtfertigt wird und sich die Partei auch programmatisch voll ins System einfügt. Dem vierten Mitglied des Führungsquartetts, Bundesvorsitzender Gabriele Zimmer, kamen wegen des sinkenden Masseneinflusses als Folge  solcher Politik Bedenken. Zwar hatte auch sie Schritte nach Art der selbsternannten "Erneuerer" unternommen, so durch Unterstützung der Gysi-Aktion für eventuelle Militäreinsätze mit UNO-Mandat, fragwürdige Entschuldigungen für Vorgänge der DDR-Geschichte und Durchsetzung des Brie-Klein-Brie-Papiers als einzig gültiger Diskussionsgrundlage für ein neues Parteiprogramm. Jedoch behielt sie genügend  Kontakt zur Basis, um mitzubekommen, dass diese über den Kurs in Berlin und Schwerin, Claus’ Kotau vor Hauptkriegstreiber Bush usw. verbittert war. Die Vorsitzende widerstand dem Drängen der andern drei, die hierauf den Wirkungsbereich der Parteichefin einengten und  Spekulationen über eine baldige Ablösung der "blassen Gabi" in die Welt setzten.

Die Bundestags-Wahlniederlage vom 22. 9. verschärfte den Konflikt. Die PDS verlor dort am meisten, wo sie an Regionalregierungen beteiligt war resp. (in Sachsen-Anhalt) eine toleriert hatte. Bartsch, Claus und Pau kassierten in ihren Bezirken hohe Wählerverluste. Zimmer gewann in Suhl 0,8 Prozent hinzu.

Die Misserfolge bewogen die Verfechter des neuen "Regierungssozialismus" keineswegs, sich zu mäßigen. Sie drangen noch stärker auf Parteitagsentscheide in ihrem Sinn und versuchten nun öffentlich, Zimmer zu demontieren. Mehrheiten in Berlin, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt, deren Führer und eine Riege jüngerer, auf Karriere bedachter Kader um Angela Marquardt und Sandra Brunner unterstützten sie dabei. In  gleicher Richtung wirkten bürgerliche Presseorgane. Wie schon vor der Bundestagswahl war die rechte Avantgarde siegessicher. Gleichzeitig forderten der sächsische, thüringische und bayerische Landesverband Zimmers Wiederwahl. Zuweilen drangen sie auch auf eine ernsthafte Analyse der am 22. 9. erlittenen Schlappe, die für manche Amts- und Mandatsträger vernichtend ausgefallen wäre. Nächst dem Ehrenvorsitzenden Hans Modrow propagierte der sächsische Verband den Rücktritt Bartschs, des als Wahlkampfleiter Hauptverantwortlichen für die Niederlage. Dieser bot sich unterdes ungeniert als künftiger Parteichef an.

Zum bevorstehenden Kongress legten Vertreter beider Richtungen gesonderte Leitantragsentwürfe vor. Den Gabi Zimmers wies der Bundesvorstand in der ersten und einer zusammen mit Wolfgang Gehrcke überarbeiteten zweiten Fassung mit 9 : 7 zurück. Stattdessen votierte er für einen Entwurf des Berliner Landesverbands, den dessen auf Bartsch eingeschworene Führung unter Stefan Liebich unterbreitete.

Ein Abwägen der Vor- und Nachteile beider Dokumente ist schwierig, weil sie einander so ähnlich sind. Genau wie ein von Gehrcke als Kompromiss eingebrachter dritter Leitantrag enthalten sie Sprechblasen und längst bekannte PDS-Forderungen. Allerdings birgt der Berliner Antrag auch eine Definition, die im  Gegensatz zum bisherigen Selbstverständnis der Partei steht. Sie lautet: "Die PDS ist, wie die SPD, eine demokratische und soziale Reformpartei." Zimmers Antrag fordert demgegenüber stärkste Opposition gegen den "Marktliberalismus", eigene Lernfähigkeit der Partei und aktive Kontrolle der Vorstandsarbeit durch den vordem ins Abseits gedrängten Parteirat.  

Beim Geraer Parteitag am 12./13. 10. strafte das Gros der Delegierten all jene Lügen, die  seit Jahr und Tag behaupten, dass von ihm nichts zu erwarten sei. Die noch beim Landesparteitag Mecklenburg-Vorpommerns Ende September wirksame Apparat-Regie zur Disziplinierung der GenossInnen war diesmal wegen mangelnder Einigkeit der PDS-"Erneuerer" genauso wenig aktionsfähig, wie die ihrer SED-Vorgänger im November 1989. Durch Beifall für Zimmer bereits vor deren Rede gaben die Delegierten zu verstehen, dass sie den rechten Kurs gründlich satt haben. Das Referat der Vorsitzenden quittierten sie mit Bravorufen und rhythmischem Klatschen (was allerdings auch an Stalins Zeiten erinnerte). Die Rede orientierte auf "gestaltende Opposition" in dem Sinn, dass die PDS außer- und innerhalb von Regierungen gleichermaßen demokratische und soziale Ziele anstreben muss - was Pau und andere, nachdem sie es jahrelang selbst mit propagiert hatten, nun nicht mehr zu verstehen behaupteten - und auf Zusammenwirken mit außerparlamentarischen Bewegungen. Bedingungslose Beteiligung an Regierungen, bedingungsloses Tolerieren und Zustimmen um jeden Preis nannte Zimmer Opportunismus. Auf dieses Referat und dessen Aufnahme im Plenum hin zog Bartsch seine Vorsitzendenkandidatur als aussichtslos zurück. Ersatzkandidat Claus unterlag Gabi Zimmer. Der vom rechten Flügel jetzt anstelle des Berliner Antrags favorisierte Leitantrag Gehrckes wurde mit 256 : 125 Stimmen zugunsten des durch den alten Vorstand abgelehnten Papiers niedergestimmt. Dem neuen Bundesvorstand gehören keine Vertreter des Berliner Verbandes und keine Anhänger von Bartsch, Claus und Pau an, dafür solche Gabi Zimmers und einige Linke, wie Sahra Wagenknecht und Dorothee Menzner.

Im Gegensatz zu den Wachträumen der innerparteilichen Verlierer und bürgerlicher Medien, die der PDS nun ein rasches Ende prophezeiten, sind die Chancen der Partei eher gestiegen. Winfried Wolf hat die positiven Aspekte dahin zusammengefasst, dass "die Apparat- und Mobbing-Fraktion" eindeutig verlor und auch im Apparat weitgehend ihre Positionen einbüßte. Seine Feststellung: "Die Parteilinke hat auf diesem Parteitag nicht ernsthaft versucht, mit einer Stimme zu sprechen" bedarf der Korrektur. Erstens ist die Linke schon lange uneins und war es nicht nur zur Parteitags-Zeit. Zweitens sprach sie just beim Kongress doch "mit einer Stimme", insofern als sie eigene Standpunkte – einschließlich eines Ergänzungsantrags W. Wolfs - zugunsten des Gesamtergebnisses hintanstellte.

Die PDS hat in Gera einen bedeutsamen Schritt getan. Sie befreite sich aus den Fesseln untertänigen Mitmachens bei weithin fremdbestimmter Regierungs- und Oppositionsarbeit. Nunmehr muss sie ihre Politik neu bestimmen und dazu auch die programmatischen Grundlagen klären. Das Programm von 1993 darf nicht, wie die "Erneuerer" es wünschen, zugunsten eines pseudolibertären in den Orkus geworfen werden. Es ist aber insofern zu revidieren, als der brutaler gewordene Raubtierkapitalismus von heute analysiert und jene Möglichkeiten ergründet werden müssen, die sich durch das Wirken neuer, international agierender Sozial- und Protestbewegungen ergeben. Mit Letztgenannten muss bei absoluter Gleichberechtigung kooperiert werden, was wichtiger als die Wiedergewinnung von Parlamentssitzen ist. Angesichts der teilweisen politischen Naivität Zimmers und ihrer Mitstreiter, deren noch vorhandener Bindungen an die Parteirechte und der demonstrativen Unterstützung  der Berliner SPD-PDS-Koalition durch sie ist es dringend notwendig, auch der neuen Parteiführung auf die Finger zu sehen.

Der vornehmlich aus früheren bzw. jetzigen Mandats- und Amtsträgern bestehende rechte PDS-Flügel hatte sich während des Parteitags zur Sonderberatung zurückgezogen. Er verweigerte die Übernahme von Parteifunktionen. Einige der ihm Zugehörigen rieten, in der PDS weiterzuwirken, d. h. der jetzigen Führung entgegen. Andere sannen über eine neue Partei nach. Eine vertrauliche Sitzung der Strategen, darunter Gysi und Brie, am 16. 10. ergab, dass es für die Neugründung zur Zeit sei "keine gesellschaftliche Basis" gibt. Beim Verlautbaren dieses Resultats aber brauchte Bartsch die Formulierung: "Niemand von uns hat die Absicht, die Partei zu verlassen." Er spielte so auf Ulbrichts Ausspruch kurz vor Schließung der DDR-Grenze 1961 an, dass keiner vorhabe, eine Mauer zu bauen.

Manfred Behrend, Berlin 2002








 

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