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Beiträge zur Geschichte  









Ingeborg Baum

Idealismus und Stalinismus

Anmerkungen zum Papier "Marxismus und Opportunismus" von Sahra Wagenknecht

In ihrem Artikel "Marxismus und Opportunismus" geht Sahra Wagenknecht davon aus, daß zwischen der Oktoberrevolution, der Politik Lenins, Stalins und später Ulbrichts (NÖS-Politik) eine Kontinuität besteht. Der Bruch in der Kontinuität beginnt bei ihr mit dem XX. KPdSU-Parteitag 1956. Die seitdem verfolgte politische Linie, die sie als "opportunistisch" bezeichnet, kam nach ihrer Meinung vor allem in der Breschnew-Ära zum Tragen und hatte ihren Höhepunkt unter Gorbatschow.

In der DDR wird nach Sahra Wagenknecht diese Politik, verkörpert durch Honecker und Mittag, mit dem VIII. Parteitag der SED 1971 eingeleitet. Kurzum: Die Ursache für den Zusammenbruch der DDR wie die des Realsozialismus überhaupt, liege in der "opportunistischen" Politik begründet, zu der sie auch die Entspannungspolitik zählt. Sogar nach der Wende sieht Sahra Wagenknecht diese "opportunistische" Linie durch die PDS fortgesetzt, da sie nicht an die Prinzipien der Ulbrichtschen Ära wieder anknüpfte.

Ihr Artikel enthält eine Reihe von Behauptungen, die hinterfragt werden müssen, vertritt sie doch eine Denkrichtung, die weit verbreitet ist. Wir halten es daher für angebracht, diese Problematik in Form von Thesen zur Diskussion zu stellen. Wir meinen, daß diese von Sahra Wagenknecht konstruierte Kontinuität nicht zutrifft. Ebenso halten wir die Schlußfolgerung, daß der von ihr behauptete Sozialismus aufgrund einer "opportunistischen" Politik, d.h. aufgrund von subjektiven Faktoren, gescheitert ist, für nicht stichhaltig.

Revolution von 1917/18

Unzweifelhaft ist, daß 1917/18 eine revolutionaere Situation vorhanden war und die daraus folgende Revolution historisch berechtigt war. Lenin war sich jedoch dessen bewußt, daß eine sozialistische Revolution in Rußland nur dann Erfolg haben würde, wenn andere industriell entwickelte Länder des Westens nachzoegen. In seinen April-Thesen schreibt er deshalb, daß die "Einführung" des Sozialismus als unmittelbare Aufgabe noch nicht gegeben sei.(1)

Unter der Diktatur der Arbeiter und Bauern sollte die bürgerliche Revolution konsequent vollendet und die günstigsten strategischen Ausgangsbedingungen für eine sozialistische Revolution geschaffen werden.(2) Diese Überlegungen fanden in seiner Schrift "Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution" ihren Niederschlag.

Nach der Machteroberung und im Zuge des Bürgerkrieges wurden über bürgerliche Massnahmen hinaus (Nationalisierung des Boden) auch sozialistische und linksradikale Maßnahmen (z.B. Einführung der Naturalwirtschaft und Abschaffung des Geldes) durchgeführt.

Unter dem Druck der Öffentlichkeit infolge des ökonomischen Niedergangs nach dem Bürgerkrieg sah sich Lenin alsbald veranlaßt, die verfrühten sozialistischen Maßnahmen zum Teil zurückzunehmen und die Neue Ökonomische Politik, die er bereits 1918 entworfen hatte, einzuleiten. Die NEP war ein Zugeständnis an die damaligen realen Akkumulationserfordernisse, jedoch keine Aufgabe der sozialistischen Zielsetzung. In seiner Rede vor der Komintern im November 1922 (sh. Anhang) erläuterte Lenin ausführlich, daß der "Staatskapitalismus", obwohl "seine Form keine sozialistische" sei, für Rußland jedoch "günstiger als die jetzige Form" sei, um der sozialistischen Zielsetzung einen Schritt näher zu kommen. Als Ursache dieses notwendigen, keinesfalls für ewig geplanten "Rueckzugs" machte er die voellig unterentwickelten Produktivkräfte in Rußland verantwortlich, von denen er auch jede weitere Entwicklung in Richtgung Sozialismus abhängig machte.

Es ist somit festzuhalten:

1. Die Leninsche Konzeption ging sowohl vor als auch nach der Revolution davon aus, daß der Sozialismus in Rußland aufgrund der ökonomischen Rückständigkeit und der nationalen Isolierung nicht auf direktem Wege zu erreichen sei.

2. Seine Konzeption für Rußland beinhaltete deshalb sowohl vor als auch nach der Revolution einen indirekten Weg zum Sozialismus, die ihren theoretischen Niederschlag in der Konzeption der "Revolution in Permanenz" und in der ökonomischen Strategie der NEP fanden.

Wir schlußfolgern daraus, daß eine Weiterführung der Leninschen Konzeption in der Fortsetzung und Weiterentwicklung des indirekten Weges zum Sozialismus bestanden hätte.

Kontinuität Leninismus - Stalinismus

Im Gegensatz zu Lenin verfolgte Stalin die indirekte Strategie zum Sozialismus nicht weiter, sondern er schlug den direkten Weg zum Kommunismus ein, den er mit der "Theorie vom Sozialismus in einem Lande" begründete und mit Gewalt durchsetzte.

Sowohl zwischen Lenins Neuen Ökonomischen Politik und Stalins sozialistischer Akkumulationspolitik als auch zwischen der Leninschen Vorstellung von der "Revolution in Permanenz" und der Stalinschen "Theorie vom Sozialismus in einem Lande" läßt sich somit keine Kontinuität feststellen.

Sahra Wagenknecht behauptet in ihrem Papier, daß "Stalins Politik - in ihrer Ausrichtung, ihren Zielen und wohl auch in ihrer Herangehensweise - als prinzipientreue Fortführung der Leninschen gelten kann". Diese Kontinuitäts-Behauptung, die Prämisse ihrer ganzen Argumentationskette ist, bleibt jedoch in ihren Darlegungen unbewiesen. Dazwischen der Leninschen indirekten und der Stalinischen direkten Strategie eine Zäsur liegt, wird von ihr nicht gesehen.

Sofern von "Kontinuität" gesprochen werden kann, bestand diese lediglich in dem Anspruch, die Macht mit allen Mitteln und unter allen Umständen zu halten. Hier liegt u.E. bereits die Wurzel, daß die Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus in Form des von Stalin inspirierten "Marxismus-Leninismus" zur Rechtfertigungsideologie instrumentalisiert und dem Prinzip des politischen Machterhalts untergeordnet wird.

Dadurch, daß Stalin einen Weg zum Sozialismus beschritt, der nicht mehr von den objektiven Möglichkeiten ausging, sondern von dem erklärten revolutionaeren Willen, mußte auch ein idealistisches Politikverständnis entstehen. Dies spielt - wie noch zu zeigen ist - in der weiteren Argumentation von Sahra Wagenknecht die entscheidende Rolle.

Sahra Wagenknecht folgt dieser idealistischen Auffassung und kommt folgerichtig zu dem Schluß, daß der Realsozialismus an subjektiven Faktoren wie Verrat, Opportunismus etc. gescheitert ist. Sie hinterfragt nicht die Möglichkeit, inwieweit für den Zusammenbruch auch objektive Ursachen eine ausschlaggebende Rolle gespielt haben.

Intensive und extensive Wirtschaftsstruktur

Die Stalin-Ära wird von Sahra Wagenknecht als eine in jeder Hinsicht wirtschaftlich und kulturell erfolgreiche Phase dargestellt.

Wenngleich eine industrielle Entwicklung gegenüber der vorherigen Phase und wissenschaftliche Leistungen nicht zu bestreiten sind, vermochte die Sowjetunion - und dies trifft auf alle anderen realsozialistischen Länder ebenfalls zu - nicht, den qualitativen Übergang von der extensiven zur intensiven Wirtschaftsweise zu vollziehen.

Dies lag nicht in dem Verrat, dem Opportunismus, in der Korruption oder sonstiger subjektiver Faktoren, sondern in dem System Stalinscher Prägung selbst begründet.

Im Vordergrund wirtschaftlicher Aktivität stand das Wachstum der Industrieproduktion (Bruttoproduktion) und nicht die Arbeitsproduktivität und -intensität, stand die Warenmenge und nicht die Qualität der Waren. Es fehlten objektive wertmäßige und monetäre Bewertungskriterien, die eine notwendige Korrektur hätten anzeigen können. Es fehlte vor allem das von Lenin eingeforderte Leistungsprinzip (das bei Stalin nicht (!) realisiert war), es fehlten die für geistige Innovationen notwendigen Freiräume und demokratische Verhältnisse.

Durch die "bewußte" Anwendung von "ökonomischen Hebeln", die als Relais zwischen den staatlichen Plan-, Leitungsbehörden und Produktionsbetrieben fungieren sollten, und den Betrieben - je nach Phase - einmal mehr oder einmal weniger Freiräume gewährten, konnte in Konkurrenz zu dem High-Tech-Kapitalismus keine ihm adäquate innere Mobilitaet erzeugt werden.

In allen realsozialistischen Ländern waren in mehr oder weniger starker Ausprägung die gleichen Unzulänglichkeiten und die gleichen Symptome anzutreffen, so unter anderem auch die systembedingte ideologische Anpassung.

Der Zusammenbruch des realsozialistischen Systems war demnach nicht Folge des Verrats, sondern resultierte aus den mangelnden ökonomischen Voraussetzungen und der objektiven Reformunfähigkeit des Stalinschen Systems.

Widersprüche in der Argumentation zur Breschnew-Ära

Die Autorin behauptet, daß die eigentliche Misere mit dem XX. Parteitag anfing, eine Kritik, die seinerzeit auch von Chruschtschows Gegnern und bis zum Schluß von reformfeindlichen Kräften angeführt wurde. Sie vergißt dabei, daß gerade unter Chruschtschow in der DDR das Neue Ökonomische System (NÖS) möglich war. Mit dem Amtsantritt Breschnews läßt sich eine Abkehr vom NÖS (seit der 11. ZK-Tagung im Dezember 1965) beobachten. Auch das 1967 von Ulbricht favorisierte Ökonomische System (ÖSS) hatte sich aufgrund eines von der Sowjetunion - vor allem nach der Intervention in der CSSR - geforderten universellen Sozialismusmodells (Breschnew-Doktrin) nicht durchsetzen können. Die nach den Prager Ereignissen einsetzende ideologische Offensive schrieb die ideologische "Einheit", das Wirken nach einer von der KPdSU vorgegebenen "Generallinie" vor. Die vier Essentials (Diktatur des Proletariats; die führende Rolle der Arbeiterklasse und ihrer Partei; der demokratische Zentralismus; die zentrale staatliche Planung), die als "allgemeingültig" beim Aufbau des Sozialismus anzuerkennen waren, machten eine unbefangene Reformdiskussion, geschweige denn -gestaltung, zunichte.

Hinzu kam, daß sich die ÖSS-Gegner innerhalb der SED-Führung infolge der Ende der sechziger Jahre aufgetretenen wirtschaftlichen Krise in der DDR in ihrer Kritik bestätigt sahen und deshalb einen disproportionsvermeidenden Wirtschaftskurs für angebracht hielten.

Des weiteren behauptet sie, daß die seit 1965 einsetzende obstruktive Gesellschaftspolitik "unumgänglich" war, um nicht wie die CSSR zu enden. Diese These ist insofern widersprüchlich, als daß gerade die Umsetzung des von ihr besonders positiv herausgestellten NÖS' eine die Demokratie entwickelnde Gesellschaftskonzeption voraussetzte bzw. nach sich gezogen hätte. Nicht zufällig stellte Ulbricht die These von der "Menschengemeinschaft" heraus, um ueber die "Arbeiter"klasse hinaus (was sehr wörtlich genommen wurde) auch die Interessen der anderen Schichten (es gab zu der Zeit z.B. noch Privatbetriebe) im Sinne sozialistischer Zielsetzung nutzbringend zu integrieren.

So widersprüchlich die Entwicklung auch war, so ergibt sich aus dem geschichtlichen Zusammenhang, daß die Breschnew-Linie an den ideologischen Rigorismus Stalins wieder anknüpfte und auch wirtschaftspolitisch weiterhin auf einen expansiven Wirtschaftskurs setzte.

Zwischen dem expansiv wirtschaftendem System, der u.U. nicht möglichen Reformierbarkeit des planwirtschaftlichen Systems im Sinne intensiver Wirtschaftsweise, und Status-quo-Orientierung bestand ein engerer Zusammenhang; denn auf diese Weise konnte auf innenpolitische Reformen, die immer zugleich auch mit Kompetenzverlust- bzw. -gewinn, mit Machtgerangel verbunden waren, verzichtet werden. Sahra Wagenknecht übernimmt u.E. gerade jenen ideologischen Rigorismus, jenen Einheits- und Ausschließlichkeitsanspruch, der auch der Breschnew-Ära eigen war und den sie als "Opportunismus" verurteilt.

Des weiteren muß kritisch angemerkt werden, daß die Diskussion, was wäre wenn ..., nicht nur müßig, sondern auch ahistorisch ist. Insofern läßt sich die von ihr in den Raum gestellte These, daß bei der Vollendung des NÖS ein Zusammenbruch des Realsozialismus vermeidbar gewesen wäre, nicht beweisen.

Zur Entspannungspolitik

Sahra Wagenknecht sieht die Entspannungspolitik als Ausdruck einer "opportunistischen" Politik. Sie schreibt: "Unter den Bedingungen des Bestehens beider Gesellschaftssysteme bedeutet Opportunismus zwangsläufig: Verzicht auf das Endziel Weltsozialismus, Anerkennung des internationalen Status quo und Intensivierung der Zusammenarbeit mit den imperialistischen Staaten - mit der Folge einer zunehmenden Abhängigkeit der sozialistischen Staaten vom Weltfinanzkapital".

Wenngleich die Abhängigkeit von westlichen Industrienationen nicht bestritten werden kann - dies ergibt sich theoretisch bereits aus der Marxschen Theorie über die Universalität des Wertgesetzes - so ist jedoch der immer wiederkehrende Vorwurf des Opportunismus - wie oben bereits beschrieben - nicht haltbar. Aus der extensiven Wirtschaftsweise resultierte die ökonomische und technische Rückstaendigkeit und die Abkoppelung vom Weltmarkt. Hinzu kam, daß ein erheblicher Teil der wirtschaftlichen Potenzen im Rüstungswettlauf unproduktiv versickerte, so daß für die Modernisierung des zivilen Sektors die Mittel fehlten. Insofern war die Entspannungspolitik nicht nur die logische Folge, sondern das Pedant zur extensiven Wirtschaftspolitik. Eine ökonomische Entlastung sollte durch Abrüstung und politische Zusammenarbeit, die den Eintritt in den Weltmarkt ermöglichte, erreicht werden.

Daraus wird deutlich, daß die Entspannungspolitik nicht - wie von S.W. behauptet - die Ursache für den ökonomischen Niedergang, vielmehr umgekehrt, der ökonomische Niedergang die Ursache fuer die Entspannungspolitik war. Somit läßt sich die Politik aus den ökonomischen Zusammenhängen erklären.

Ihre Position bleibt auch in diesem Punkt idealistisch, weil sie die ökonomische Entwicklung aus der Politik erklärt und nicht die Politik aus der Analyse der Ökonomie ableitet.

Als idealistisch ist auch ihre Einschätzung über die Gorbatschowsche Politik zu bewerten, die sie nur als einfache Fortsetzung der "opportunistischen" Entspannungspolitik sieht. Ist es nicht wahrscheinlicher, daß Gorbatschow - in Kenntnis ueber die ökonomische Ausweglosigkeit der alten Politik - versuchte, wieder zurück zur Leninschen Konzeption des indirekten Weges zum Sozialismus zu kommen, jedoch durch die alte Garde daran gehindert wurde?

Fazit: Das Resuemee von Sahra Wagenknecht: "Nicht der 'Stalinismus' - der Opportunismus erweist sich als tödlich fuer die gewesene sozialistische Gesellschaftsordnung" ist u.E. nicht stichhaltig.

Spätestens heute kann durch den geschichtlichen Verlauf des Realsozialismus die theoretische Annahme, dass der Sozialismus in einem rückständigen und vom Weltmarkt isolierten Land nicht zu verwirklichen ist, als erwiesen angesehen werden.

Insofern hat sich die "Theorie vom Sozialismus in einem Land" als idealistische strategische Sackgasse erwiesen. Nicht zuletzt deshalb, weil durch diese Ideologie der Sozialismus zu einem politischen Willensakt erklärt wurde. Auch die Marxsche Erkenntnis, daß der Sozialismus auch ihm adaequate ökonomische Voraussetzungen erfordere, wurde gänzlich unterschätzt. In der Ignorierung gerade dieser Tatsache stellt die Einschätzung von Sahra Wagenknecht Kontinuität zu dem durch den Geschichtsverlauf widerlegten Denksatz dar.

Ingeborg Baum (AK Soz, Februar 1993)







Anhang

"Anfang 1918 habe ich nämlich in einer kurzen Polemik die Frage berührt, wie wir uns zum Staatskapitalismus zu stellen haben. Ich schrieb damals:

'Der Staatskapitalismus waere ein Schritt vorwärts gegenüber der jetzigen' (d.h. gegenüber der damaligen) 'Lage der Dinge in unserer Sowjetrepublik. Hätten wir etwa in einem halben Jahr den Staatskapitalismus errichtet, so wäre das ein gewaltiger Erfolg und die sicherste Garantie dafür, daß sich in einem Jahr der Sozialismus bei uns endgültig festigt und unbesiegbar wird.'

Das wurde natürlich zu einer Zeit gesagt, als wir noch dümmer waren als heute, aber doch nicht so dumm, um solche Themen nicht behandeln zu können.

Ich war also damals im Jahr 1918 der Meinung, daß gegenüber der damaligen wirtschaftlichen Lage der Sowjetrepublik der Staatskapitalismus ein Schritt vorwärts wäre. Das klingt sehr seltsam und vielleicht sogar widersinnig, denn auch damals war unsere Republik eine sozialistische Republik; damals trafen wir täglich so schnell wie möglich - wahrscheinlich allzu schnell - verschiedene neue wirtschaftliche Maßnahmen, die nicht anders als sozialistische genannt werden konnten. Und trotzdem meinte ich damals, daß der Staatskapitalismus gegenüber der damaligen Wirtschaftslage der Sowjetrepublik einen Schritt vorwärts bedeutet und ich erläuterte diesen Gedanken weiter, indem ich einfach die Elemente der wirtschaftlichen Struktur Rußlands aufzählte. Diese Elemente waren nach meiner Meinung: 1. eine patriarchalische, d.h. im höchsten Grade Primitive Landwirtschaft; 2. die kleine Warenproduktion (hierher gehört die Mehrzahl der Bauern die mit Getreide handeln); 3. Privatkapitalismus, 4. Staatskapitalismus und 5. Sozialismus. Alle diese ökonomischen Elemente waren im damaligen Rußland vertreten. Damals machte ich mir zur Aufgabe, klarzustellen, in welchem Verhältnis diese Elemente zueinander stehen und ob wir vielleicht ein nichtsozialistisches Element, nämlich den Staatskapitalismus, höher einzuschätzen haben als den Sozialismus. Ich wiederhole: Es wird allen recht seltsam erscheinen; daß in einer Republik die sich fuer sozialistisch erklärt hat, ein nichtsozialistisches Element höher bewertet erscheint, als höherstehend anerkannt wird als der Sozialismus. Doch die Sache wird verständlich, wenn Sie sich erinnern, daß wir damals die ökonomische Struktur Rußlands keineswegs als einheitlich und hochstehend betrachteten, sondern uns vollständig bewußt waren, daß wir in Rußland sowohl eine patriarchalische Landwirtschaft, d.h. die primitivste Form der Landwirtschaft als auch eine sozialistische Form haben. Welche Rolle könnte nun der Staatskapitalismus unter solchen Umständen spielen?

Ich fragte mich weiter, welches dieser Elemente überwiegt? Es ist klar, daß in einem kleinbürgerlichen Milieu das kleinbürgerliche Element überwiegt, anders zu denken war unmöglich. Die Frage, die ich mir damals stellte - es geschah in einer speziellen Polemik, die nicht zur heutigen Frage gehörte - war: Wie stellen wir uns zum Staatskapitalismus? Und das sagte ich mir: Der Staatkapitalismus, obwohl seine Form keine sozialistische ist, wäre fuer uns und für Rußland günstiger als die jetzige Form. Was bedeutet das? Das bedeutet, daß wir die Wurzeln und den Aufbau der sozialistischen Wirtschaft obwohl wir schon die soziale Revolution vollzogen hatten, nicht überschätzten, sondern daß wir schon damals bis zu einem gewissen Grade begriffen hatten: Ja, es wäre besser, wenn wir erst zum Staatskapitalismus und darauf zum Sozialismus gelangten.

... nachdem wir die wichtigste Etappe des Bürgerkriegs schon zurückgelegt ... kam es zu einer großen - ich glaube der größten -inneren politischen Krise Sowjetrußlands, die dazu führte, daß nicht nur ein sehr großer Teil der Bauern unzufrieden war, sondern auch ein großer Teil der Arbeiter. ... Die Ursache war, daß wir bei unserem ökonomischen Vordringen zuweit gegangen waren daß wir unsere Basis nicht genügend gesichert hatten, daß die Massen schon fühlten, was wir damals noch nicht bewußt zu formulieren vermochten, was aber auch wir nach ganz kurzer Zeit, nach einigen Wochen, erkannten, nämlich daß der direkte Übergang zu einer rein sozialistischen Wirtschaftsform zur einer rein sozialistischen Verteilung der Güter unsere Kraft übersteigt und dass wir, wenn wir es nicht fertig brächten den Rückzug derart vorzunehmen, daß wir uns auf leichtere Aufgaben beschränken, zugrunde gehen werden."

W.I. Lenin: Referat auf dem IV. Kongress der Komintern am 13. November 1922, in: Ausgewählte Werke, Bd. 111, Berlin 1970, S. 814ff.

1. 8. Aprilthese: "Nicht 'Einführung , des Sozialismus als unsere unmittelbare Aufgabe, sondern augenblicklich nur Übergang zur Kontrolle über die gesellschaftliche Produktion und die Verteilung der Erzeugnisse durch den Sowjet der Arbeiterdeputierten." Lenin: Ausgewählte Werke, Bd II, Berlin 1970, S. 41

2. "Wir dürfen jetzt in unserer Taktik nicht von dem Prinzip ausgehen, welcher von beiden imperialistischen Gruppen zu helfen jetzt vorteilhafter ist, sondern müssen davon ausgehen, wie man am sichersten und besten der sozialistischen Revolution die Möglichkeit geben kann, sich zu festigen oder sich wenigstens in einem Lande so lange zu halten, bis andere Länder sich anschließen werden." W.L. Lenin: Zur Geschichte der Frage eines unglückseligen Friedens. In: Ausgewählte Werke, Bd. II, Berlin 1970, S. 606










 

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