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Beiträge zur Theorie |
Johannes Agnoliüber die Abschaffung des Staates, die Verteidigung sozialstaatlicher Errungenschaften und linke EmanzipationsstrategienEine Situation des BruchsInterview von Christoph Jünke mit Johannes Agnoli
- Die Zukunft des Staates, der
Ökonomie und der zivilen Gesellschaft werden heiß diskutiert.
Eine prinzipielle Staatskritik wie die Ihre zielt auf das Zerstören,
ist auf das Absterben staatlicher Strukturen aus.'
Zerstören? Zwar sagt Marx in
einer Inauguraladresse, man müsse, um der Emanzipation willen,
den Staat zerstören. Ich schlage für die gleiche Sache
aber eine andere Bestimmung vor: Es geht darum, daß man
neue Organisationsformen der Gesellschaft findet. Der Staat ist
auf Unter und Überordnung gegründet, ist Ausdruck einer
Politik, die sich als Herrschaft versteht. Was also überwunden
werden soll, nenne ich den objektiven Zwangscharakter unserer
Gesellschaft. Die Tatsache also, daß unser gesellschaftliches
Leben bestimmt wird durch Strukturen, die einen Zwangscharakter
haben. Diese Strukturen konkretisieren sich dann auf der politischen
Organisationsebene als heutiger Staat. Was ja nicht immer der
Fall war, denn der, Staat ist eine relativ moderne Erscheinung.
- Sie betonen: Wer den Staat aufheben
will, der muß ihn auch entsprechend kennen. Und Sie kritisieren,
daß die wenigsten ihn heutzutage richtig kennen. Was ist
also ganz konkret der bürgerliche Staat, den Sie als ein
sinnlichübersinnliches Wesen bezeichnen?
Die Bezeichnung »übersinnlich«
wird von Marx auf die Ware bezogen, und genauso wie die Ware ist
der Staat sinnlich und zugleich übersinnlich. Der
Staat ist ein riesiges ideologisches Konstrukt. Das hat man immer
im Auge, wenn man sagt, der Staat sei die bloße Erscheinungsweise
kapitalistischer Gesellschaft. Doch der Staat ist nicht nur das,
er ist nicht nur die freiheitlichdemokratische Grundordnung.
Der Staat treibt zum Beispiel auch die Steuern ein. Er hat also
auch eine sinnliche Seite, eine des konkreten Eingriffs in den
Alltag der Menschen, aber auch des konkreten Eingriffs in die
Ökonomie. Das ist meine alte Auseinandersetzung mit dem orthodoxen
Marxismus. Von dem her meinen manche, daß der, Staat nicht
die Möglichkeit habe, in die Ökonomie, in den Verwertungsprozeß
einzugreifen. Das stimmt aber nicht, denn schon das Steuersystem
an sich eine anscheinend oberflächliche Erscheinung
greift doch in den Verwertungsprozeß ein, setzt bestimmte
Rahmen, und nur innerhalb dieser Rahmen kann das Kapital seinen
Verwertungsprozeß organisieren. Es ist ja keineswegs so,
daß nur die abhängigen Massen Steuern zahlen. Auch
nicht, daß das Kapital nur auf dem Markte, völlig jenseits
des Staats, existieren würde. In Italien etwa hat man neuerdings
eine 27prozentige Steuer auf Börsengewinne erhoben. Da kann
man doch nicht behaupten, daß dies kein Eingriff in die
Selbstbewegung des Kapitals bedeuten würde.
Aber die Frage, in welcher Form diese
Steuern erhoben werden, wurde immer vernachlässigt. Man war
so sehr von dem Dogma beherrscht, die Kapitalbewegung sei alles,
daß man darüber nicht bemerkte, wie außer der
Kapitalbewegung nicht nur Milliarden Menschen existieren, sondern
vieles vor sich geht, an dem das Kapital selbst gar kein Interesse
hat. Das jedoch gesellschaftlich notwendig ist. Nehmen wir nur
die ganzen Infrastrukturprobleme.
- Also gehören Sie
zu denen, die sagen, daß eine staatliche Struktur solange
existent sei, solange es die kapitalistische Produktionsweise
gibt?
Ja. Das Kapital kommt ohne die politische
Form nicht aus. Das Kapital ist ein gesellschaftliches Produktionsverhältnis,
nicht nur ein ökonomisches. Zu dieser Basis. gehört
der Staat. Er ist die rechtliche Ordnung, die die gesellschaftlichen
Reproduktionsverhältnisse organisiert. Insofern ist er der
Knecht des Kapitals aber es gibt gute und schlechte Knechte.
- Wenn auch die Struktur des Staates
in der bürgerlichen Gesellschaft gleich bleibt, die sich
ändernde Form ist doch nicht unwichtig. Es bleibt ein Unterschied,
ob man beispielsweise ein europäisches Staatsformgebilde
hat, das mit breiter Wahlteilnahme und Kontrolle existiert, oder
ob es einen Ministerrat gibt, der weitgehend unkontrolliert eine
Art autoritäres Regime ist.
Ich bin nicht in der Lage, zu sagen,
wo es langlaufen wird. Man muß von dem ausgehen, was sich
gesellschaftlich ereignet. Wenn die europäische Gesellschaft
eine harmonische wäre, könnten wir das gleiche politische
System, die gleiche Form Staat haben wie im Westen.
"Wenn aber die Gesellschaft
keine harmonische mehr ist, was passiert dann? Denn sowohl ideologisch
wie auch konkretpolitisch beruht das westliche Regierungssystem,
um diesen neutralen Ausdruck zu verwenden auf einem
allgemeinen Konsensus über die Spielregeln der Macht. Das
Rousseausche Prinzip der Volonté generale als allgemeiner
Grundlage der Demokratie ist Wirklichkeit geworden, es gibt den
allgemeinen Konsensus zu dieser Staatsform. Aber wenn der gesellschaftliche
Konflikt die allgemeinen Spielregeln nicht mehr akzeptiert, besteht
tatsächlich die Gefahr, daß die bürgerliche Gesellschaft,
um sich zu retten, nach härteren Mitteln der Politik greift.
- Die Gefahr einer
»Faschisierung« ist da. Manche, die noch immer als
links gelten, ziehen daraus den Schluß, es gelte, einen
Verfassungspatriotismus zu propagieren.
Verfassungspatriotismus kommt nicht
von links, sondern ist die kluge Erfindung eines sehr klugen und
sehr feinen Mannes, Dolf Sternberger. Der ist jetzt von Habermas
gewissermaßen systematisiert worden. Ich habe zwar einmal
den Verfassungspatriotismus ironisiert, als eine Art Ideologie
des Verfassungsschutzes, aber ich lasse das Wort gelten für
USAmerika. Die sind Verfassungspatrioten, weil sie noch
immer meinen, sie hätten die Verfassung geschaffen. Aber
Verfassungspatriotismus in einem Lande, in dem das Grundgesetz
praktisch oktroyiert wurde, ist eine ideologische Position. Daß
ein Teil der Linken seinen Frieden geschlossen hat mit dem bürgerlichen
Verfassungsstaat, das geht in Ordnung. Ich erlaube mir zwar, diese
Leute anzugreifen, sie als Wendehälse zu bezeichnen, aber
das ist ja keine moralische Verurteilung. Sie haben sich halt
gewandelt. Dahinter steckt schon ein überzeugender Kein,
nämlich die Position, daß die Linke auf einmal aufgerufen
ist, den bürgerlichen Verfassungsstaat gegenüber dem
Faschismus zu schützen. Das ist nicht meine Position, aber
eine ehrenwerte. Es ist jedoch eine Position, die schon auf der
Verliererseite steht. Es gibt ein Wort von Lassalle: Eine Verfassung,
die verteidigt werden muß, ist keine gültige Verfassung
mehr, hat keine Kraft mehr. Wenn man sich verfassungspatriotisch
einbringen will in eine Bruchsituation der Konfliktualität,
dann hat man schon verloren. Entweder lebt eine Verfassung aus
dem Konsensus oder sie ist nichts.
- Ein ähnliches Problem auf
einer konkreteren Ebene: Linke kritisierten in den letzten Jahrzehnten
das, was den heutigen Sozialstaat ausmacht. Und doch haben wir
heute das Problem, daß die Errungenschaften, die mit diesem
Staat verbunden sind, weiter ausgehöhlt werden.
Das ist das gleiche Problem. Man
muß zwei Dinge unterscheiden. Auf der einen Seite muß
man etwas verteidigen, was wir, was auch ich früher kritisiert
habe. Aber was ist der Sinn dieser Verteidigung? In einem kritischen
Handeln muß man immer die Bruchsituationen erkennen, in
die man sich hineinbegeben kann. Es geht nicht darum, daß
man jetzt den Sozialstaat verteidigt, den man früher kritisiert
hat. Es geht darum, daß man sieht, jetzt entsteht eine Bruchsituation,
die nicht nur Ideen und Prinzipien betrifft, sondern Millionen
von Menschen. Also muß man sich überlegen, was in,
einer solchen Bruchsituation zu tun ist. Es geht also um mehr
als nur um die Verteidigung des Sozialstaats.
Das Problem geht viel tiefer. Nehmen
Wir jenes berühmte MarxWort, daß nicht die Befreiung
der Arbeit, sondern die Befreiung von der Arbeit das Ziel sei,
die Reduzierung der gesellschaftlich notwendigen Arbeit auf ein
Minimum. Diese Perspektive aufrechtzuerhalten in einer Zeit, in
der die Menschen nach Arbeit hungern" um überhaupt weiterleben
zu können, das ist natürlich ein Problem. Solche Probleme
muß man sehen und nicht einfach sagen: Ach was, wir bleiben
beim Prinzip der Befreiung von der Arbeit'
Die Linken gehen sehr häufig
nicht von der Wirklichkeit aus. Sie gehen immer entweder von Zukunftsvorstellungen
oder von vergangenen Positionen aus. Aber die Hoffnung, daß
es anders wird, hängt eben auch damit zusammen, daß
es so auf keinen Fall weitergehen kann. Die Strukturen dieser
Gesellschaft sind nicht mehr tragfähig, nicht mal mehr tragfähig
innerhalb der Wohlstandsgesellschaft des Westens, und wir wissen
wirklich nicht, was weiter passiert. Diese Gesellschaft muß
allemal geändert werden und die Frage ist, ob sich die Änderung
übersetzt in eine härtere Form der politischen Machtausübung.
Das ist meine Befürchtung.
Wenn Linke eine Aufgabe garantiert
nicht haben, dann einen offensichtlich brüchig gewordenen
Verfassungsstaat zu verteidigen. Man muß jetzt überlegen,
was geschehen muß, was geschehen kann, damit ein anderer
Weg eingeschlagen wird und nicht der Weg der Macht. Das Kapital
ist eine ernsthafte Sache, keine Spielerei, keine belanglose Größe.
Wir wissen nicht, wie die Herrschenden in dieser Gesellschaft
reagieren, wenn ihre gesellschaftliche Position gefährdet
ist. Wir hatten es, ja nicht mit kleinen Gruppen von Anarchisten
zu tun, die versuchen, die Gesellschaft zu zerstören. Wir
haben es mit einer viel größeren Quantität, einer
Qualität zu tun, die sich da in Bewegung setzt, in Bewegung
setzen kann. Vorläufig bewegt sie sich nicht.
- Ende der 60er Jahre sahen Sie
Chancen einer Fundamentalopposition, die sich des Parlaments noch
bedienen könnte. 20 Jahre danach waren Sie Pessimist und
bekannten sich zur AntiPolitik.
AntiPolitik auf keinen Fall,
das ist mir untergeschoben worden. AntiPolitik wäre
eine abstrakte Negation, hieße, sich mit der Politik überhaupt
nicht mehr zu befassen. Die Kritik der Politik im Sinne Kants
und Marx' ist etwas anderes: Beschreiben, analysieren, wie die
politische Macht funktioniert, zu welchem Zweck und mit welcher
Perspektive. Die Macht ist als solche abzulehnen, aber nicht in
der Form einer radikalen, abstrakten Absage, sondern so, daß
man kritisch überprüft, wie Macht funktioniert, wie
Institutionen funktionieren. Um auch das andere Problem zu klären:
Ob es möglich ist, innerhalb der Institutionen zu handeln
oder nicht. Ich habe früher eine Fundamentalopposition in
Aussicht gestellt, die parlamentarisch tätig ist. Inzwischen
bin ich zu der Ansicht gekommen, daß dies innerhalb der
Institutionen nicht möglich ist, daß die Institutionen
stärker sind als ein möglicher reformerischer Wille.
Das Institutionensystem ist ein Machtsystem objektiven Charakters,
das nicht abhängt von den Menschen, die in ihm sind. Das
gilt auch für die Parteiform.
Es ist das gefragt, was Oskar Negt
soziologische Phantasie nannte. Die Form Partei gehört strukturell
und historisch zur Form des bürgerlichen Staates. Einer der
Gründe, warum ich die an mir geäußerte Kritik,
ich würde mich mit Institutionen und nicht mit der Kapitalbewegung
befassen, für absurd halte, ist, daß die Kapitalbewegung
gerade im Funktionieren der Institutionen ihre Stütze findet.
Eine Organisation, die sich die Emanzipation
zum Ziel setzt, muß in der Lage sein, im Vorlauf zu diesem
Ziel selber die Emanzipation zu verwirklichen. Eine Organisation,
die, um die Emanzipation zu erzielen, sich eine hierarchische
Struktur gibt, wird unmöglich dieses Ziel erreichen. Gerade
die Geschichte der sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien
zeigt das.
Mein hauptsächlicher Vorwurf
auch gegen die Roten Brigaden in Italien und die RAF in
Deutschland war: Wie kann man eine Gesellschaft ohne Kerker und
ohne Todesstrafe bezwecken, indem man Menschen zum Tode verurteilt?
Das ist ein Widerspruch, und eine politische Organisation, die
eine Gesellschaft der Freien und Gleichen will, in Ihrer eigenen
Organisation aber weder Freiheit noch Gleichheit kennt, sondern
nur Hierarchie und Befehlsstrukturen die wird dieses Ziel
nicht erreichen. Wie das freilich zu erreichen ist, weiß
ich nicht, ich weiß nur, daß dies geschehen sollte.
Ebenso bei der gesamten Gesellschaft.
Die Überwindung des Zwangscharakters .der Gesellschaft ist
ein langer Prozeß, weil erst in diesem Prozeß sich
die neuen Organisationsformen entwickeln können, die in der
Lage sind, den Zwangscharakter zu überwinden. Wenn man mich
nach einem Modell fragt, nenne ich immer das Rätemodell.
Doch genau läßt sich dies nicht beschreiben.
- Adorno sagt, es gibt kein richtiges
Leben im falschen. Darauf hat dann Ihr Mitautor Peter Brückner
geantwortet, es gäbe aber ein richtigeres Leben.
Ja, richtig. Wenn es kein richtiges
Leben im falschen gibt, dann können wir uns auch in unser
Gärtlein zurückziehen und Tomaten pflanzen. Dann gibt
es ja keinerlei Aussicht auf Emanzipation, auf Verbesserung und
Richtigstellung des Lebens. Aber das ist natürlich schwierig,
denn selbst die italienischen Anarchiker sie heißen
dort nicht Anarchisten, sondern Anarchiker, denn Anarchismus ist
doktrinär leben in der Konsumgesellschaft. Auch sie
sind nicht dazu in der Lage, eine geldlose Gesellschaft innerhalb
der bürgerlichen herzustellen. Eine alte Formulierung von
mir wiederhole ich immer bis zum Überdruß: Daß
es auf die alltägliche Orientierung ankommt. Wenn du dich
vom Alltag bis zu den höchsten kulturellen Sphären am
Prinzip orientierst, daß es allemal Herrscher und Beherrschte
geben soll, wirst du deinen Alltag anders organisieren, als wenn
du der Utopie einer Gesellschaft der Freien und Gleichen anhängst.
Daß dies ein schwieriges Geschäft ist, ist klar. Wenn
dies nicht so schwierig wäre, hätten wir schon längst
Freiheit und Gleichheit erreicht. Interview: Christoph Jünke
Quelle: Neues Deutschland, 9./10. Mai 1998, S. 14
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